"Madonna!" entfährt es Lucia beim Anblick der steilen, ungleichmäßigen und nicht enden wollenden Steintreppe in Riomaggiore. Und wirklich, ein wenig Beistand von ganz weit oben könnte nicht schaden. Elf Stunden ist das Zeitfenster für die siebenundvierzig Kilometer und dreitausendeinhundert Höhenmeter. Pah! Das müsste doch mit dem Teufel zugehen, würden wir das großzügig bemessene Zeitfenster nicht erreichen. Früher einmal hatte ich Italien geliebt, denke ich, verwische aber den Gedanken im nächsten Moment. Zu Klagen fällt mir nicht ein, schließlich laufe ich durch das mediterrane Paradies, bin mittendrin im italienischen Bilderbuch, dabei bei der Prämiere des Sciacce Rail Ultratrail.
Und endlich: Vor uns liegt sie, eine der schönsten Landschaften Italiens. Das erste der fünf UNESCO Weltkulturerbe Dörfer der Cinque Terre Riomaggiore. In allen fünf Orten stapeln sich die Häuser wie Schachteln an den Hängen, in den Farben von Vanille-, Himbeer- oder Mascarponecreme. Siebzehn Kilometer und 1.200 Höhenmeter liegen noch zwischen hier und den Orten Manarola, Corniglia, Vernazza und dem Start-und Zielort Monterosso al Mare vor uns. Das wird der technisch anspruchsvollste, aber auch schönste Teil der Strecke, der auf dem sogenannten "Blauen Wanderweg" bis nach Monterosso al Mare verläuft. Es ist ein Anblick, der seit Jahrhunderten Dichter und Maler begeistert. Kein Wunder, dass sich auf dem „berühmtesten Trampelpfad“ Italiens Touristen aller Länder, besonders Amerikaner, begegnen. Für mich ist es jedoch ein Stück unbekanntes Italien.
Bis zu 800 Meter hoch ragt die fast immer grüne Steilküste aus dem azurblauen Meer. In einigen Tagen, zu Ostern, wird dieser klassische Weg aus allen Nähten platzen. Dann, wenn die Touristen für diesen Weg eine Mautgebühr zahlen müssen. Alternativ muss man höher hinaus und tiefer hinein. Dorthin, wo die „gewöhnlichen“ Sandalentouristen mit ihren Nordgesichtern und Wolfshaut Branding nicht hingelangen und von wo wir gerade her kommen.
Heute Morgen am Start. Kaum jemand nimmt Notiz von mir. Ich stehe zwischen athletischen Italienern, deren Augen funkeln und deren Ausstrahlung so unschuldig wirkt, wie die Gesichtszüge der Madonnen in den vielen kleinen Kapellen der Cinque Terre. Je mehr ich mich umschaue, desto größer wird meine eigene körperliche Unzufriedenheit. Fast ausschließlich Italienerinnen und Italiener befinden sich unter den auf zweihundert legitimierten Sportlern.
Mein bleiches Gesicht bedeckt ein sportliches Makeup (ja so etwas gibt es), meine hobbytrainierten Beine gieren nach Frühlingssonne. Ich schaue zu meinen Waden hinunter, die mich an Weißwürste erinnern. Meine Körpersprache spricht Bände. Mir entfährt ein überzeugter Seufzer: Wie gerne möchte ich die weißen Dinger in eine formlose graue Jogginghose, so wie Rocky sie trug, verpacken. Dies wäre jedoch besonders hier, bei den gut gekleideten Italienern, ein absolut modischer Fauxpas. Auf Platz eins des beliebtesten Trail-Outfits findet sich ein Klassiker, der Rucksack, auf Platz zwei die leichten High-Tech-Carbon Stöcke und auf der drei farbige Kompressionsstrümpfe. „Aber auch die schönste Frau ist an den Füßen zu Ende“, wusste schon Giacomo Casanova. Ich trage die Startnummer 17. Sally trägt die Startnummer 1. In ihren Augen brennt die Begeisterung. Sie ist der natürliche Typ, mit einem strahlendweißen, amerikanischen Zahnpastalächeln. Die langen Haare sind zu einem Zopf geflochten und die muskulösen Beine glatt rasiert. Die kalifornische Spitzenathletin Sally McRae hat starke Konkurrenz. Ich gehöre nicht dazu, fühle mich aber artverwandt, wie die anderen knapp vierzig Frauen im Feld. Wie von der Mafia gehetzt, rennt die Meute durch den Ort. Dann ist es wieder still in Monterosso al Mare um kurz nach 7:30 Uhr am Morgen. Die Meeresbrandung trifft sanft auf den Strand.
Monterosso ist der älteste Ort der Cinque Terre und wurde 1056 erstmalig urkundlich erwähnt. Entlang der Strandpromenade haben wir bald die zahlreichen Übernachtungsmöglichkeiten und Villen hinter uns. Während ich einen Fuß vor den anderen setze, zieht die Landschaft an mir vorüber; in der Ferne bellt ein Hund. Ein Film in Blau- und Grüntönen, bei dem die Lautstärke auf Leise gestellt ist. Das Meer und die Berge sind sich so nah, die salzhaltige Meeresbrise und der Duft nach Erde und Macchia. Wer würde diesem anziehenden Kontrast nicht erliegen? Die meisten sind bereits nach dem ersten Anstieg entlang der Weinreben und mit Olivenbäumen bepflanzten Hügeln außer Sichtweite. Die Stöcke fest in den Händen steht das Mundwerk nicht still. Egal, was Italiener machen, sie sind mit vollem Herz dabei. Ob sie telefonieren, diskutieren oder laufen. Das Chiacchierata, also das italienische Quatschen ist laut und gestenreich. Ich lerne schnell: „Bellissimo!“, „Avanti, avanti“ oder "Ti incrocio le dita" (Ich halt dir die Daumen) höre ich es rufen. Steil geht es für uns aufwärts durch die "Macchia Mediterranea" ins waldige Hinterland, auf die ligurischen Berge. Zwischen jedem grell geschrienen Ton aufgeregter Italiener, folgt ein dreimaliges Atemholen.
Schmale Wege auf einem alten Saumpfad schlängeln sich hinauf zur Soviore, dem ersten Schutzgebiet der Cinque Terre. Einem Landstrich, der sich lange in einem Dornröschenschlaf befunden hat. Die typische immergrüne Maccia, Kiefern und Eichen stehen Spalier. Nach ca. neun Kilometern auf 500 Metern über N.N. ist der lecker bestückte „Ristoro“ (Verpflegungspunkt) an der über 1000 Jahre alten Wallfahrtskirche Santuario Nostra Signora di Soviore erreicht. 9:45 Uhr lautet die Cut-off-Zeit für diesen Punkt. Eine Hand voll Nüsse, ein Glas Wasser und ich muss los; dreißig Minuten Puffer sind nicht viel. Mein letzter Trainingslauf auf den Hügel des Feldbergs war noch im Schnee. Was ist das heute für ein Unterschied.
Dieser Streckenabschnitt gleicht einem gewaltigen Sonnenstudio. Nur besser! Denn die Sonne schaltet heute nicht nach einer halben Stunde Bestrahlungszeit ab. Nur ab und zu versteckt sich die Sonne hinter einer Schäfchenwolke. Der höchste Punkt der Strecke ist nahe der Stadt Reggio bei Kilometer 18 auf 786 Metern N.N. erreicht. Auf dem Kirchplatz der Stadt soll die älteste Zypresse Liguriens stehen.