Zum Vergleich: Ein Hektar Rebfläche erfordert in den Cinque Terre etwa vier- bis fünfmal so viel Arbeitszeit wie in einem ebenen oder nur leicht hügeligen Gelände. So gibt es nur noch sehr wenige Winzer, denn Geld lässt sich leichter verdienen, als mit der aufwendigen Pflege der Trockenmauern und der Herstellung von Wein. Davon wollen die wenigsten Besucher etwas wissen. Nur wer am eigenen Leib Anstrengung und Qual erfährt, kann, zumindest für einen ganz kleinen Teil, erahnen, wieviel Kraftaufwand die Herstellung dieser edlen Tropfen bedeutet.
Kein Tourist würde mehr den Kopf schütteln über die Preise auf den Etiketten und wüsste was es heißt, einen Sciacchetrà aus dieser Lage entkorken zu dürfen. Sciacchetrà, der Name stammt möglicherweise von dem Verb "schiacciare – quetschen oder pressen. Dieser Wein wird nur in äußerst geringen Mengen hergestellt und traditionsgemäß zu festlichen Anlässen getrunken. Neben dem Sciacchetrà wird vor allem der weiße Cinque Terre Wein erzeugt. Vor der Cantina ist für uns eine weitere Verpflegung aufgebaut. Wir werden schon lautstark empfangen. Eine nette Dame bietet mir einen kleinen Becher goldgelb schimmernden Sciacchetrà an.
Erwartungsvoll beobachtet mich der Kleine neben ihr, wie ich meine Nase in den Becher stecke. Wie das duftet. Fast ehrfürchtig lasse ich den kostbaren süßschweren Tropfen auf der Zunge zerrgehen. Süß auch die Verlockung, jetzt einfach bei den netten Winzern zu bleiben. Aber trotz aller Versuchung locken die anderen Orte, die ich ja noch nicht gesehen habe. Begleitet mit einem „Forza, Forza“ führt der Weg mitten durch das Gebäude an den glänzenden Stahlfässern und Kisten Cinque Terre Weins vorbei. Über breite Treppen geht steil hinunter ins zweite Dorf namens Manarola.
Um 14:00 erreiche ich Manarola, das zweite und zweitkleinste Dorf der Cinque Terre. Trotz des etwas längeren Aufenthaltes an der Cantina habe ich mittlerweile doch zwei Stunden Pufferzeit zur Verfügung. Ich quere die „Hauptstraße“. Das Hafenbecken, nicht größer als ein Swimmingpool, ist zu klein und so parken die vielen farbigen Boote wie Autos vor den Häusern und Restaurants. Früher fielen die Piraten über die Dörfer her, heute sind es die Touristen. Sie plündern Pesto und Pasta.
Ich atme tief ein. Aus den Gassen duftet es nach würzigem Basilikum und frischem Thymian. Einfach köstlich – Kopfkino: Vor mir dampften die gezwirbelten Pastawürmchen mit der knallgrünen und kalorienhaltigen Creme aus Basilikum, Pinienkernen, Olivenöl und Knoblauch: die Pesto alla Genovese, prall gefüllt in einem weißen Teller. Ich versuche zu verdrängen. Doch ganz so einfach lässt sich der Schalter nicht umlegen; das Kopfkino geht weiter. Frisches Gemüse, fangfrischer Fisch mit einigen Tropfen frischer Zitrone. Dazu ein Gläschen Wein aus der Region und zum Dessert einen Sciacchetrà. Wartet nur, die kommenden Tage gebe ich mich all den Genüssen des „dolce vita“ hin!
Auch heute herrscht Gedränge auf dem gerade einmal einen Meter breiten, hoch über dem Meer verlaufenden Steilhang des Küstenklassikers "Numero 2", der „Wanderweg“, der die Dörfer Riomaggiore und Monterrosso al Mare verbindet. In einem Wanderführer wurde die reine Gehzeit ab Riomaggiore mit 4:30 Stunden angegeben.
Diese Aussage macht mich stutzig. Deutlich mehr als 850 Höhenmeter liegen noch vor mir und die 2.200 Höhenmeter, die hinter mir liegen, spüre ich inzwischen deutlich in meinen Beinen. Jetzt wird sich zeigen, wer die Ausschreibung zu diesem Lauf richtig gelesen hat: „Läufer mit einem angemessen hohen Fitness-Level auf der Suche nach neuen Herausforderungen“. Dafür sind die Steilhänge und die Felsstufen gerade richtig. Sie gleichen einem schwindelerregenden Hindernisparcours. Ständig wechselt die subtropische Pflanzenwelt: Von A wie Agave bis Z wie Zitronenbaum. Zwischen den nackten Felswänden gedeiht Ginster und Wolfsmilch. Wer jetzt noch Kraft hat, und sich vor der Reizüberflutung der Augen beim Anblick der Landschaft entziehen kann, der wird seine Stärke auf diesen steinigen Pfaden voll ausspielen können.
Forstwege sind für mich langweilig und alltäglich. Auf den schmalen Pfaden wie hier dagegen läuft es wie von selbst. Vor mir klappert eine Gruppe Wanderer mit ihren modernen Gehilfen. Sie zu überholen oder mich an Einzelnen vorbeizuschlängeln, weckt meinen sportlichen Ehrgeiz. Denn ich bin kein Wanderer, auch wenn es gerade so aussieht. Wenn schon, dann nennt mich Gehsportler. Dies klingt schon athletischer und rechtfertigt meine Startnummer.
Was folgt, ist der Auftakt zu einer gnadenlosen Verfolgungsjagd. Ich rufe, um mir Platz zu verschaffen: „Scusi“ keine Reaktion! Ich versuche es mit einem freundlichen „Sooorry“. Das klappt. Der beliebteste Trampelpfad Italiens ist international bevölkert. Besonders Amerikaner zieht es auf den Trail. „Grazie“ äh, „Thank you“ und schon bin ich an der nächsten Gruppe vorbei. Sollte sich aber doch jemand derart erschrecken oder verletzen, so befinden sich auf dem Streckenabschnitt der Dörfer entlang des Weg "Emergency Points" deren Koordinaten bei einem Unfall schnelle Rettung bringen. Sanfte und steile Treppen und Hänge wechseln sich ab. Schmal führt der Weg durch Weinterrassen und einem alten Saumweg auf dem man früher das Öl, Wein, Obst und die Fische transportiert hat, in die Ortschaft Volastra.
Noch bevor die ersten Bewohner die Steilküste bewohnten, war der kleine Ort Volastra bereits in römischer Zeit besiedelt. Daher stammt wohl auch der Name Volastra, der vom lateinischen Oleaster, was so viel bedeutet wie „das Dorf in den Oliven“, herrührt. „Attenzione! Tratto pericoloso!“. Der steile Abstieg nach Corniglia, dem dritten Dorf der Cinque Terre, beginnt. Konzentration und der Einsatz von Kraft werden ununterbrochen gefordert.