Ich komme Anja, der Ultraläuferin aus Duisburg, immer näher, sie ist nur mehr 200 m entfernt. Ein breiter Gebirgsbach trennt uns, doch man kann diesen nur über einen Steg überqueren. Ich muss den erneuten Umweg in Kauf nehmen. An einzelnen Stellen führt der Pfad über eine steil abfallende Schlucht, in die sich der Bach tief eingegraben hat. Wenn man hier ausrutscht, stürzt man 10 oder 15m in die Tiefe, daher weiche ich nach oben aus, um jegliches Risiko zu vermeiden.
Den schon erwähnten Robert Gruber habe ich bei einem Sturz im Riesengebirge erlebt, er hatte tiefe Abschürfungen an den Knien. So mancher Läufer riskiert Kopf und Kragen, ich hingegen nie. Sport ist Hobby, auch Siegläufer können in unseren Breiten mit den Prämien alleine nicht das Auslangen finden. Allerdings wäre auch der Hobbylaufsport ohne Wettkampfcharakter fad, der Sieger hat die Anerkennung seiner Zunft und einer interessierten Öffentlichkeit.
Ich wundere mich, wie lang einem ein einziger Kilometer im Hochgebirge vorkommt. Selbst bei einem weiten Horizont scheint er nie zu enden. Anja ist wieder weiter vorne. Jetzt muss sie über Steine in einem Bachbett gehen, das bremst sie enorm. Ich hole wieder auf.
Eben habe ich einen müden Wanderer in stattlicher Ausrüstung überholt, der wie Anja und ich auf dem Weg zum 2. Kontrollpunkt ist. Die Uhr zeigt 12 Uhr 55. Noch ist die Hütte nicht in Sicht. Doch hinter der Bergkuppe sehe ich plötzlich das Dach der Jamtalhütte, die auf rund 2200 m Seehöhe liegt, auftauchen. Ich erhöhe das Tempo, manchmal stolpere ich oder bleibe bei einem seitlich herausragenden Stein mit dem Fuß hängen. Einen Sturz kann ich nicht gebrauchen, ich kann ihn gerade noch vermeiden.
Um die Hütte herum haben sich zahlreiche Wanderer eingefunden, man trinkt Bier und isst. Zwei oder drei Helfer befinden sich an der Labstelle. Anja und ich erreichen diese zeitgleich um 35 Minuten später als erlaubt.
Man teilt uns mit, dass wir ja nicht mehr in der Wertung, eigentlich definitiv disqualifiziert seien. Jetzt dämmert es mir, wir würden dank des Chip zwar eine Finisherzeit haben, doch diese wird vom Veranstalter aufgrund der nicht erfüllten Vorgaben eben nicht gewertet.
Mir kommt die Trinkpause am Kilometerpunkt 25, den man um 13 Uhr hätte erreichen müssen, sehr gelegen. Ich habe seit nunmehr 11 km, sieht man von der Begegnung mit der mobilen Helferin beim Aufstieg auf das Kronenjoch ab, die uns eine warme Flasche Wasser reichte, keine Labe bzw. Stärkung mehr beanspruchen können. Allerdings führe ich in meiner Bauchtasche neben Zweitkamera, Akku u.a. auch einige Gels mit, auf die ich zurückgreifen kann. Trailrunning geht ohne Eigenversorgung nicht, das habe ich auch schon herausgefunden. Laut Plan hätte sich eine weitere Labestelle am Finanzerstein befinden müssen, also vor der Jamtalhütte. Doch wie zu erwarten und dies ohne Vorwurf, war diese nicht mehr besetzt.
Nun geht es zu Tal, doch um ca. 13 Uhr 45 sind verbleibende 18,4 km eine lange Strecke, für die man zumindest 2 Stunden einkalkulieren muss. Ich bin wieder überzeugt, dass sich eine Finisherzeit unter 8 Stunden noch ausgehen könnte.
Anja hat es nun sehr eilig, sie stürmt auf und davon. Ich will sie aber gar nicht mehr einholen, denn der Vorsprung am Schluss wird nur wenige Minuten ausmachen.
Die Jamtalhütte ist mit dem Auto erreichbar, wenngleich die Straße gröbere Asphaltschäden aufweist. Auch kommen uns immer wieder Mountainbiker entgegen, die sich langsam den Anstieg entlang des Jamtalbaches, der tief in den Fels eingegraben ist, heraufquälen.
Mir macht die Hitze zu schaffen, es hat auf 2000 m Höhe gefühlte 30 Grad, die Felsen sind aufgeheizt, ohne Kopfbedeckung hätte ich mir heute schon einen Sonnenstich geholt. Die ausrangierte Kappe nehme ich im Sommer immer sicherheitshalber mit.
Ich bin nicht mehr imstande mehr als einen Kilometer durchzulaufen, muss immer wieder Gehpausen einlegen. Anjas Vorsprung wächst.
Landschaftlich ist die Strecke einfach herrlich, das Jambachtal erstreckt sich mehrere Kilometer in Richtung Galtür, links und rechts eingerahmt von hohen, bewaldeten Berghängen. Tief unten das Bachbett mit Blumen bewachsen.
Die nächste Labestation bei der Scheibenalpe ist längst verwaist, doch einige volle, verschlossene Wasser- und Pepsi Cola-Flaschen sind abgelegt, ebenso einige Riegel und Gels. Ich bediene mich und fühle neue Energie in mir aufsteigen.
Nun kommt endlich eine Kilometeranzeige. Auf der ganzen Strecke habe ich diese vermisst, man wusste, dass die Heidelberger Hütte nach 14 km, die Jamtalhütte nach 25 km erreicht sein würde.
Noch 10 km bis ins Ziel werden angezeigt. Es geht nach Galtür hinunter, ich fühle mich beflügelt, denn die Uhr zeigt 14.45 an. In 1 ¼ Stunde sollte ich 10 km vielleicht schaffen. Der Kurs führt beim Casada-Hotel, das ich jedem empfehlen kann, vorbei, hinunter auf die Silvrettastraße. Zwei Polizisten beeilen sich, den Verkehr zu sperren und ermöglichen mir eine sichere Überquerung. Ich bin der letzte Läufer, sie können nun abziehen.
Als ich nun merke, dass die Strecke entlang der Trisanna leicht ansteigend nach Tschaffein führt, ahne ich nicht Gutes. Es geht erneut zumindest 50, wenn nicht 100 Höhenmeter aufwärts. Rund 400 m vor mir geht Anja schnellen Schrittes, sie hat wohl auch gehofft, vor 16 Uhr zu finishen. Doch die verbleibende Rundwegstrecke nach Galtür ist 6 oder gar 7 km lang.
Ich beginne zu rechnen. 7 oder 8 Minuten pro Kilometer ergeben schon jetzt eine Finisherzeit nach 16 Uhr. Als dann erneut ein Anstieg folgt, auf einem Schotterweg, denke ich für einen Augenblick, vielleicht vom gut erkennbar mit grünen Tafeln markierten Kurs abgekommen zu sein. Aber nein, solche von mir als kleine „Schikanen“ erlebten Prüfsteine sind vom Veranstalter eingeplant worden. Ein Auto kommt mir entgegen, es sind die beiden Helfer von der Jamtalhütte, die mir eine Flasche Wasser und eine Cola reichen.
Endlich geht es abwärts. Erneut muss ich die Silvrettastraße überqueren. Zwei andere Polizisten sind behilflich und merken an, dass sie meine Leistung für gut bewerten.
Auf der anderen Seite marschiert Anja den Seitenweg zurück in Richtung Galtür. Als ich nach 5 Minuten dort ankomme, folgt bald darauf nochmals ein Anstieg zur allerletzten Labestelle. Dort befinden sich zwei junge Leute, die noch eine Wasserflasche übrig haben. Die letzten 2 Kilometer nach Galtür liegen vor mir.
Von weitem höre ich, wie die Siegerehrung im Gange ist. Nach 8:20:13 Stunden erreiche ich das Ziel. Ich laufe nicht, sondern spaziere über die Matte, man will ja nicht auffallen. Es nimmt auch keiner mehr Notiz. Anja hat 5 Minuten früher gefinisht. Der Wermutstropfen bleibt: beide sind wir disqualifiziert, der Marathon wird nicht gewertet, höchstens intern bei einem Verein, der rasch seine Statuten ändert, um einem einen Gefallen zu erweisen.
Was mir sehr positiv in Erinnerung bleibt, ist das einmalige Landschaftserlebnis im Hochgebirge. Seit meiner Jugendzeit vor mehr als 40 Jahren bin ich nie mehr auf einen Dreitausender hochgewandert. Mit der Seilbahn kommt man in ähnlich hohe Regionen, doch man strengt sich bei der Abfahrt mit den Schiern nie so an.
Die Strecke des Silvretta 3000 Marathons ist nach der Heidelberger Hütte sehr anspruchsvoll, auch der Abschnitt hinunter zur Jamtalhütte ist schwierig wegen seiner Steilheit und dem Untergrund, nämlich Geröll und Schneefelder. Danach kann man wieder verlorene Zeit gutmachen, nicht jedoch nach dem Ortsdurchlauf in Richtung Tschaffein. Der erneute Anstieg ist demotivierend und kostet Zeit.
Nur für einen trainierten Hobbyläufer sind die Zielzeiten von 2 Stunden bis zur Heidelberger Hütte und 5 Stunden bis zur Jamtalhütte zu schaffen. Ich habe die körperliche Anstrengung gewiss unterschätzt, die Hard-Strecke kann man nicht im Vorbeigehen so mitnehmen.
Falls die Organisatoren in Zukunft an den selektiven Zeitlimits festhalten, wird sich die Teilnehmerzahl zumindest auf der 43,4 Kilometerstrecke nicht sehr positiv entwickeln.Ich finde das schade, denn sowohl die Attraktivität der Strecke als auch die Organisation hätten anderes verdient.
Sieger bei den Männern:
1.Robert Gruber (AUT): 3:42:02
2.Philipp Schädler (AUT): 3:49:58
3.Csaba Nemeth (HUN): 3:59:57
Bei den Frauen:
1.Katharina Zipser (AUT): 4:20:00
2.Carola Dörries (GER): 4:59:05
3.Carmen Otto (GER): 5:01:41
18.07.20 | ABGESAGT: ERINNERST DU DICH? (47) |
Daniel Steiner | ||
20.07.19 | The Hardest Man in the World |
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16.07.16 | Frau Holles Sommertraum |
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18.07.15 | Der Hard-Trail |
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