Wenn ich von Wettkämpfen berichte beschreibe ich für gewöhnlich den Lauf selber, weniger meine Leidensgeschichte. Hier muss ich eine Ausnahme machen, weil ich glaube, dass genau das diesen Lauf ausmacht. Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass „Laufen“ derartig tiefgründige Gefühle, Emotionen und Schmerzen hervorrufen kann. Bilder, Gesichter und Worte, die seit zig Jahren in tiefer Vergessenheit lagen, kommen stechend scharf hervor. Dieser Lauf hat mich stark geprägt.
Nachdem mir diese ewige Marathon-Rennerei wiedermal zu langweilig wird, muss zur Abwechslung ein Ultra her. Aber etwas Besonderes! Etwas Härteres als sonst! Etwas mit Adventure-Faktor! Der erste Gedanke ist der Marathon des Sables. Dafür braucht man dann fast 3 Wochen Zeit und ca. 10.000 €. Beinhaltet dann 8 Liter Wasser am Tag und ein T- Shirt. Na prima. Eine deutlich bessere Alternative dazu ist der Sahara Ultra 111. Der Lauf geht über 111 km durch die Wüste Sahara, beginnt in Ksar Ghilane und endet in Douz. Als deutsche Ansprechpartnerin steht hierfür Claudia Gerling zur Verfügung. Sie hat mit dem italienischen Veranstalter (Zitoway) schon viele Wüstenläufe absolviert, ist ein erfahrener Wüstenfuchs und ist für mich eine große Hilfe in allen Belangen. Somit steht schnell fest: Es geht ab in die Wüste zum Sahara Ultra 111.
Meine Vorbereitung unterscheidet sich nur unwesentlich von jedem anderen Ultra. Ein paar Impfungen auffrischen, Laufen bei größter Hitze, Rucksack und Ausrüstung testen und vorgeschriebene Notfallausrüstung komplettieren. Vor allem will ich die richtigen Schuhe finden und sanddicht bekommen (vergebene Mühe).
Am Flughafen in Djerba treffe ich mich mit Claudia. Nach 20 Min. Taxifahrt erreichen wir das Hotel, in dem sich alle Läufer mit dem Veranstalter treffen sollen. Nach langem Warten wird uns mitgeteilt, dass der Veranstalter nicht wie geplant anreisen kann, weil das Flugzeug wegen Triebwerkschaden nicht gestartet ist. Also sammeln wir das Team und die restlichen Läufer am nächsten Morgen direkt auf dem Weg zum Start am Flughafen ein.
Das große Willkommen findet deshalb im – was die Verkehrssicherheit anbelangt – eher fragwürdigen Bus statt. Fürs Erste verlassen wir also die Halbinsel Djerba und verlegen uns in die Oase Ksar Ghilane. Auf der Fahrt wird mir langsam bewusst, auf was ich mich eingelassen habe. Die Häuser werden weniger, die asphaltierten Straßen enger und der Sand mehr.
Das Zelt Camp in Ksar Ghilane ist beinahe luxuriös. Es gibt Toilette, fließendes Wasser und sogar Matratzen im Zelt, Spinnen und Käfer inklusiv. Als "Tür" dient ja nur ein Laken. Schnell die Tasche in die Ecke gefeuert und die Gegend erkundet. Dieses trostlose verbrannte Stück Erde hat eine unbeschreibliche Schönheit und Faszination. Ich bin schwer beeindruckt.
Nach einer kurzen Technikeinweisung von Claudia, wie eine Sanddüne möglichst energiesparend zu erklimmen ist, explodiert der Angstpegel nach oben. Erste Panik macht sich breit. Dieser Sand ist nicht zu vergleichen mit dem Sand am Badestrand im Urlaub. Abhaken. Das ist feinster Staub. Schuhe 100 % abzudichten erscheint mir unmöglich. Höchste Zeit zum Abschalten. Ich suche mir eine Sanddüne und sehe entspannt der Sonne beim Untergehen zu. Ein schönes Erlebnis.
Die Wettkampfbesprechung am Abend ist natürlich Pflicht und absolut überlebenswichtig. Die Wüste ist definitiv kein Spielplatz. Es gibt Infos zur Streckenausschilderung, den Verpflegungsstellen und der ärztlichen Versorgung. Zusätzlich gibt die Team-Ärztin eine Unterweisung bzgl. körperlicher Höchstleistung in extremer Hitze. Hier zeigt der Veranstalter hohe Verantwortung und Professionalität. Gefällt mir.
Zwischendurch unterschreibt man diverse Haftungsausschluss-Erklärungen und dass man weiß, was man hier tut. Niemand weiß das. Nach der Abgabe des ärztlichen Attestes wird das Pflichtgepäck kontrolliert und das Startpaket ausgegeben. Danach werden wir von den Italienern mit Pasta bekocht. Was auch sonst.
Satt, aber mit absteigender Spannung, lasse ich den Abend mit Sterneschauen ausklingen. In der Nacht breitet der Himmel ein unbeschreibliches Sternenbild über uns aus. Sagenhaft.
Nach dem Frühstück wird das Camp geräumt, die Taschen für das Ziel verladen und der Drop Bag für km 70 abgegeben. Vor dem Start noch die üblichen Fotos. Die Aufregung wird größer und ich beginne über die bevorstehenden Qualen nachzudenken. Wieviel Ausfälle es tatsächlich geben wird, ahne ich zu diesem Moment nicht. Peng! Und schon geht's los. Mit der aufgehenden Sonne im Nacken starten wir Richtung Nordwesten ins Nichts. Ein merkwürdiges Gefühl, nicht zu wissen was da kommt und wie so ein Lauf seinen Verlauf nimmt.
Auf den ersten Kilometern überwiegen noch Euphorie und Aufregung. Dann wird mir ganz schnell klar, dass das noch verdammt anstrengend wird.
Alle 10 km kommt ein Checkpoint mit Wasser und Verpflegung. Eigenverpflegung in Form von Salzsticks, Elektrolyte und Magnesium empfehle ich dringend. Riegel und Gels sind nicht zwingend erforderlich, aber ratsam. Im Rucksack habe ich eine 1-Liter-Trinkflasche. Wie sich zeigt, für Abschnitte mit vielen Dünen deutlich zu wenig. Verbrauch ca. 1,5-2 Liter/Std. Das Team befördert das Wasser mit Quads von CP zu CP. Ein kurzes Winken reicht aus und meine Flasche ist wieder voll. Ab Mittag könnte man das Wasser auch für Tee verwenden, es kocht ja schon.
Als Verpflegung gibt es neben Cerealien Riegel, Bananen und Zitronen unter anderem Datteln. Die kleinen Dinger stehen ab heute in meiner Eigenverpflegungsliste ganz weit oben. Nicht zu süß und haben ordentlich kcal.
Die Laufstrecke wird von der Ärztin immer wieder abgefahren. In den Dünen, mehrere Stunden weg von ärztlicher Hilfe, ein beruhigendes Gefühl. Den "Bist du noch bei Verstand"-Test besteht nicht jeder auf Anhieb. Es wird einige Minuten Auszeit und viel Flüssigkeit verordnet. Die ersten bekommen auch schon sehr früh Probleme mit dem Kreislauf sowie Magen-Darm Beschwerden. Zum Thema Hitzschlag und Dehydrieren soll ich später noch meine Lehrstunde erhalten.
Ein besonders Erlebnis und seither eine Schlüsselstelle in meinen Leben ist zwischen km 72 und 80 in der Wüste Sahara. Hier bin ich alleine. Ganz alleine. Die Gedanken, die mir zu diesem Zeitpunkt durch den Kopf gehen, kann ich nur sehr schwer beschreiben. Noch nie zuvor hab ich eine solche Leere sehen und gleichzeitig spüren müssen. Der Verzweiflung nahe, von Hitze und Muskelkrämpfen gefoltert, laufen mir Tränen über das Gesicht.
Ich lasse mich auf die Knie fallen. Der Körper kippt wie in Zeitlupe nach vorne. Meine Arme stützen mich noch, kurz bevor ich in den heißen Sand falle. In mir sehnt sich alles nach Schlaf. Nur ein paar Minuten. Und da ist es endlich. Nichts mehr! Absolute Leere. Fühlt sich so das mentale "zerbrochen" an? Eine gefühlte Ewigkeit finde ich keinen klaren Gedanken. Fragen durchbrechen meine Leere. Das ist es doch, was du willst. Oder?!? Grenzen spüren. Wissen, was zuerst aufgibt. Der Körper oder der Geist. Jetzt spürst du es. Wie das schmeckt? Ich sag es euch. Beschissen! Ganz beschissen! Wo liegt mein Fehler, dass es soweit kommen muss? Zu wenig trainiert?!? Oder zu viel?!? Dehydriert? Was ist nur los mit mir? Und jetzt? Ende der Fahnenstange?
Ich versuche mich an Erfolge zu erinnern. Was habe in der Vergangenheit schon alles geschafft. Marathon, Mitteldistanz, Langdistanz, Ultra Trails usw. Meine Gedanken suchen schöne Momente, Bilder von meiner Familie und meiner Freundin Heike. Hoffnung keimt endlich auf. Vermeintliche Probleme wie Blasen, der Sand in den Schuhen, die Magenschmerzen oder ein Sonnenbrand sind so winzig geworden. DNF ist keine Option! Ich zwinge mich wieder aufzustehen. Der ganze Körper fühlt sich an wie ausgekotzt, alles brennt und sticht so heftig wie Tausende Nadeln, aber ich setzte wieder einen Fuß vor den anderen und nähere mich mit kleinen Schritten wieder dem Ziel. Es sind ja nur noch knapp 30 km.
Um etwas Dramatik aus der Geschichte zu nehmen und den wieder gefundenen Humor einzubringen... das Ganze wiederholt sich bestimmt noch drei Mal und natürlich jedes Mal schlimmer als zuvor. Aber dieses immer wieder Kaputtgehen und Aufstehen lässt mich viel über mich lernen. Ob man das unbedingt haben muss, weiß ich nicht. Aber es ist eine Erfahrung wert.
Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont und es wird langsam kühler. Bei km 80 holen mich der Zweitplatzierte und bei km 85 der Drittplatzierte ein. Mit diesen erfahrenen Wüstenläufern kann ich nicht mehr mithalten. Die 100 km de Sahara und des Sables-Finisher sprechen mir kurz Mut zu und laufen weiter.
In der Nacht herrscht eine ungewohnte Stille. Erschrecken kann man sich, wenn plötzlich Kamele vor einem stehen. Die tapsen unfassbar leise über den Boden. Kucken aber nur. Wahrscheinlich denkt man voneinander dasselbe. Du hier?
Sternschnuppen gibt es auch genug zu sehen. Übersehen ist auch unmöglich... andere Lichtquellen gibt es ja nicht. Die reflektierende Ausschilderung ist ebenso wenig zu übersehen.
Nach endlos erscheinenden 111 km durch die Wüste erreiche ich nach 16:28:45 Stunden endlich das Ziel. Gebührender Empfang, mit Medaille und Finisher-Shirt ausgezeichnet, stürme ich an die Hotelbar und bestellte eine kalte Cola. Dann gibt es nur noch zwei wichtige Dinge für mich. Duschen und schlafen.
Sogar jetzt beim Schreiben dieser Zeilen fühlt es sich noch sensationell gut an. Ein Traum.
Nach einer kurzen Nacht werden am Vormittag alle Läufer vom Physiotherapeuten bearbeitet. Eine ausgiebige Reizstromtherapie und wohltuende Massage später fühle ich mich wie neu. Am Nachmittag fahren wir dann zurück nach Djerba.
Am Abend findet die Siegerehrung statt. Da ich gesamt nur Platz 4 erreichte, bin ich sehr überrascht als ich nach vorne gebeten werde. Das Team zeichnet mich mit dem Ehrenpokal für „besondere Leistung“ aus. Darauf bin ich sehr stolz und es rundet für mich dieses Erlebnis emotional perfekt ab.
Niemand läuft schmerzfrei 111 km durch die Wüste. Aber für mich war jede Sekunde des Leidens und jeder emotionale Zusammenbruch wertvoll. Ich konnte meine Grenzen verschieben.
Ob ich es wieder mache?
Auf jeden Fall!
Besonderen Dank an Mauro Cottone für die beeindruckenden Bilder und Adriano Zito inkl. Team für das Super Event.