Dieser Lauf im Bergischen Land unterscheidet sich von den meisten Etappenläufen dadurch, dass alle Strecken am selben Punkt starten und enden. Das komplette Gepäck für unsere vier Tage Frühling und einen Tag Herbst kann daher im Zimmer liegen bleiben. Dies verspricht eine stressfreie Woche. Das Zeitlimit von 12 Minuten pro Kilometer nimmt auch langsamen Läufern die Angst vor Cut-Off Zeiten und sorgt dafür, dass auch die Letzten jeden Tag lange vor Zielschluss ankommen.
Zur Wahl stehen 275 km mit 6400 Höhenmetern und 167 km mit 4000 Höhenmetern sowie Tagesstarts für einzelne Etappen. Ich entscheide mich für die lange Strecke, aufgeteilt in 50, 60, 70, 50 und 45 km. Veranstaltet wird der Lauf von Oliver Witzke, der unter anderem auch den Deutschlandlauf 2017 organisierte. Oliver ist für die hervorragende Ausstattung seiner Verpflegungsstellen bekannt. Diese werden - unterstützt durch großartige Helfer - auch hier zur Freude für uns Läufer. Es gibt zwar Zeitmessung und täglich Ergebnislisten, aber die Harmonie in der Gruppe und das gemeinsame Erleben steht im Vordergrund. Olli will, dass wir alle mit einem Lächeln laufen. Zu seinem typischen Humor zählt es, dass die lange Strecke offiziell als „Erwachsenenrunde“ und die kurze als „Kindergartenrunde“ bezeichnet wird. Dies soll natürlich nicht die Leistung der 167 km Läufer herabwürdigen, so versteht es zum Glück auch niemand.
Es gibt 41 Anmeldungen für die "Erwachsenenrunde", 30 für die "Kindergartenrunde". Start und Ziel ist die Jugendherberge in Solingen-Burg. In der Startgebühr sind Übernachtung, Frühstück und Abendessen enthalten, dazu kommt die mehr als nur reichhaltige Verpflegung unterwegs, das Preis-Leistungsverhältnis ist super.
Wir treffen uns am Samstagmittag in der Jugendherberge. Nach der Startnummernausgabe und Begrüßung einiger alter Bekannter aus der Laufszene besichtige ich das nicht weit von der Herberge entfernte Schloss Burg an der Wupper. Ab 1130 wurde hier eine Burg erbaut, um 1218 wurde diese zu einer großen Hofburg erweitert. Ab dem 14. JH wurde die Burg nicht mehr militärisch gebraucht und in ein Jagdschloss umgewandelt. In den folgenden Jahrhunderten verfiel das Gebäude immer mehr zu einer Ruine, bis sich ab 1887 ein Förderverein um den Wiederaufbau kümmerte. Am Abend wird heute gegrillt. Auch für Vegetarier wird hier immer etwas passendes angeboten.
Ab 5 Uhr bekommen wir ein reichhaltiges Frühstück, um 7 Uhr starten heute Lang- und Kurzstreckler gemeinsam. Wenige Minuten nach dem Start geht die Sonne auf.
Zuerst auf Asphalt, dann auf einem schönen Trail bergab, wieder Asphalt, dann breite Waldwege - diesen häufigen Wechsel des Untergrunds erleben wir fünf Tage lang. Die ersten beiden Tage kann man hier auch ohne Trailschuhe laufen, für die letzten beiden Etappen braucht man sie aber auf jeden Fall. Am frühen Morgen laufen wir zwischendurch 15 km auf dem „Balkantrasse“ genannten Radweg auf einer ehemaligen Bahnlinie, asphaltiert und nur mit minimalem Höhenunterschied. Eigentlich mag ich keinen Asphalt, andererseits bringt uns das schnelle Laufen bald einen ordentlichen Vorsprung zum ohnehin großzügigen Zeitlimit. Und so übel ist die Strecke nicht, denn zwischendurch bietet sie auch schöne Blicke in eine ländliche Gegend. Manchmal führt die Trasse natürlich auch durch Gräben und unter mit Graffiti verzierten Brücken hindurch. An einer Stelle steht Carsten Brake mit seiner Kamera und fotografiert uns. Carsten wird uns heute nach dem Abendessen gemeinsam mit Laura Mathiaszyk Bilder von einem Etappenlauf im Himalaya zeigen.
Jeden Tag kommen wir etwa alle 10 km an Verpflegungsstellen vorbei. VP 1 ist recht einfach ausgestattet, danach geht das Verwöhnprogramm voll los. Unglaublich, was wir in diesen fünf Tagen alles unterwegs bekommen! Bananen, Äpfel, Orangen, Trauben, Ananas, Tomaten, Salatgurken, Essiggurken, Paprika, Kartoffeln, Würste und Frikadellen, Käse, verschiedene belegte Brote, Kekse, Waffeln, Marshmellows, verschiedene Nüsse, Eier, Konfekt, Salzstangen, Salzgebäck und mehr. Heute kommen auch die Reste des Grillabends hinzu. Hähnchenschlegel, Würste, Steak - nicht unbedingt die typische Ergänzung des Läuferproviants.
Nach Verlassen der Trasse geht es mal an Ortsrändern, meist aber durch friedliche Natur weiter. Die Strecke gefällt mir. Olli ist den ganzen Tag mit dem Rad unterwegs, um die Strecke für den nächsten Tag zu markieren. Am Mittag erreiche ich den eindrucksvollen Altenberger Dom, der ab 1255 als Klosterkirche einer Zisterzienser Abtei erbaut wurde. Vor allem wegen seinem Westfenster aus dem Jahr 1400, dem größten gotischen Bleiglasfenster nördlich der Alpen, würde ich ihn gerne besichtigen. Ich habe schon zwei Stunden Vorsprung vor dem Zeitlimit und überlege kurz, mir die Zeit für eine Besichtigung zu nehmen, laufe aber dann doch weiter. Nun folgt einer der schönsten Streckenabschnitte. Viele Kilometer laufen wir durch das idyllische Eifigental. Ein munter plätschernder Bach, umgestürzte Bäume, sonnige Wiesen, urige Wälder - Naturgenuss pur! Hier sind auch sehr viele Wanderer und Mountainbiker unterwegs. Die Biker müssen an zwei Stellen ihre Räder über Baumstämme schleppen, da haben wir es leichter.
Raimund erzählt mir am Abend, dass in diesem Tal früher Schießpulver hergestellt wurde, was in dieser abgeschiedenen Gegend sicherer war als in einer Stadt. Die letzten Kilometer sind dann weniger spannend.
Auf der zweiten Etappe folgen wir meist dem Röntgenweg um Remscheid. Dieser ist auch durch den Röntgenlauf bekannt, wir laufen die Strecke aber in entgegengesetzter Richtung und statt Herbstlaub zieren frisch sprießende Blätter die Bäume.
Die „Erwachsenen“ starten bereits um 6 Uhr, die „Kinder“ dürfen eine Stunde länger schlafen. Während der ersten halben Stunde brauchen wir unsere Stirnlampen. Zuerst geht es einen teilweise steilen Trail hinab, dann mühsam auf einem Trail hinauf. Schon zieht sich das Läuferfeld in die Länge. Dann erreichen wir den Röntgenweg, dem wir nun auf bequemem Forstweg einige Kilometer in recht hohem Tempo folgen. Noch vor Sonnenaufgang erreichen wir die Müngstener Brücke. Die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands wurde 1897 eröffnet. 5000 Tonnen Stahl überspannen auf einer Länge von 465 m und Höhe von bis zu 107 m die Wupper. Schon der normale Anblick fasziniert, aber die wahre Größe kann man erst erkennen, wenn ein Zug darüber fährt. Wir kommen in diesen fünf Tagen mehrmals an der Brücke vorbei, doch die Züge passieren das Bauwerk immer gerade dann, wenn Bäume die Aussicht verdecken. Nur wenige von uns verlassen kurz den Röntgenweg und laufen hinab zum Diederichstempel, einem 1901 im neugotischen Stil erbauten Aussichtspavillon.
Olli nahm für die heutige Markierung rosa Sprühkreide. Da auch die Forstarbeiter eine ähnliche Farbe nutzen, muss man manchmal aufpassen, sonst zweigt man plötzlich bei „fremden“ Strichen oder Punkten ab. Den Röntgenweg kann man meist recht bequem laufen, es gibt nur wenige einigermaßen steile Abschnitte. Die Wasserkraft der Bäche und Flüsse wurde in dieser Gegend früher intensiv genutzt. Entsprechend oft kommen wir an aufgestauten Teichen und kleinen Kanälen vorbei. Besonders schön ist der Weiler Clemenshammer. Schon seit mehr als 500 Jahren nutzen hier Schleifkotten, Hammereinrichtungen und eine Eisenhütte das Wasser, weitere Gebäude kamen im Laufe der Zeit hinzu. Heute stehen hier viele schöne Fachwerkhäuser, etwas unterhalb der Straße dreht sich ein kleines Wasserrad.
Vorbei an idyllischen Teichen erreiche ich bald das schmucke Hotel Zillertal mit den für diese Region typischen grauen Schindeln. Manchmal ist die E + K Strecke identisch, zwischendurch gibt es für die „Kinder“ Abkürzungen. Die Markierungen sind eindeutig. Einmal passe ich aber nicht auf und übersehe einen gut erkennbaren Pfeil. Einen Kilometer weit folge ich einer Straße hinab in ein Tal, sehe aber unten keine Markierung und erkenne, dass ich wieder den Berg hinauf steigen muss. 15 Minuten habe ich verloren und bin nun zwischendurch ganz hinten bei den letzten Läufern. Mein Unterbewusstsein meint, dass ich mich nun beeilen muss, doch ich weiss, dass ich mehr als genug Zeit habe. Um den kleinen Gaspedal-Teufel in meinem Kopf zu bremsen, setze ich mich an einem Spielplatz kurz auf ein Pferdchen. Keine Eile! Langsam! Es funktioniert. Nun marschiere ich wieder in kraftsparendem Tempo bergauf. Noch liegen 4,5 Etappen vor mir. Ohne weitere Umwege erreiche ich am Mittag die Wuppertalsperre, deren schönem Ufer ich 15 Minuten lang folge.
Meist bin ich alleine, nur selten treffe ich auf andere Läufer. Ein weiterer Stausee folgt, leichte Auf- und Abstiege, fast flache Abschnitte, kurz vor Schluss auch mal steilere Trails, dann liegen auch diese 50 km hinter mir. Nach dem Abendessen liest uns Verena Liebers aus ihrem neuen Buch vor, das unter anderem ihre 100 km Läufe bei der TorTour de Ruhr schildert. Zuvor beginnt sie mit einigen Gedichten, die dank hervorragender stimmlicher Ausdruckskraft bei Kulturveranstaltungen sicher gut passen, aber bei sehr müden Läufern nicht so recht in den matschigen Kopf dringen.
Am dritten Tag folgen wir auf unserer 70 km Etappe mit 1665 Höhenmetern sehr oft dem Klingenpfad, der 60 km weit um Solingen herum führt und auch nahe an unserer Herberge vorbei kommt. Dieser Rundwanderweg wurde 1933-35 von Arbeitslosen angelegt. Dieser Weg überrascht mich. Ich hatte erwartet, beim Umrunden einer Großstadt viel durch Vororte zu laufen, doch der allergrößte Teil der Strecke führt auch hier durch Natur, sogar viel schöner als gestern der Röntgenweg. Viel Grün, nur ganz kurz durch Orte, zwischendurch wieder etwas alte Industriekultur, breite Wanderwege, einfache Trails, ab und zu Asphalt - die Mischung bietet Abwechslung. Stöcke braucht man eigentlich nicht, aber bei den heutigen 1600 Höhenmetern halte ich sie dennoch für sinnvoll. Zum Glück hat Olli sein vor zehn Tagen geäußertes Stöckeverbot schnell zurückgenommen. Im Morgengrauen sehen wir bald wieder die Müngstener Brücke, nun von einem Aussichtspunkt auf der anderen Seite.
Einige Zeit später kommen wir an der Kohlfurther Brücke vorbei. Diese 1893 erbaute Fachwerkträgerbrücke aus Stahl steht heute unter Denkmalschutz. Bis 1969 fuhr eine Straßenbahn über die Brücke, 2005 wurde die Brücke wegen Einsturzgefahr sogar für Fußgänger gesperrt, was die beiden Ortsteile trennte. 2010 wurde die renovierte Brücke wieder eröffnet.
Es geht wie gewohnt recht abwechslungsreich in steter Folge von Auf- und Abstiegen weiter. An der heute einzigen Ampel bleiben wir alle brav stehen und warten auf Grün. Olli verzichtet weitgehend auf Teilnahmeregeln, weisst aber mehrfach darauf hin, dass Müll auf die Strecke werfen und das Überqueren einer roten Ampel sofort zur Disqualifikation führt. Zum ersten Mal in meinem Läuferleben sehe ich 275 km weit keine einzige Gelpackung auf dem Boden vor mir. Aber gleich an der ersten von insgesamt in diesen Tagen nur fünf oder sechs Ampeln erwischte es vorgestern einen Einzeletappenläufer. Olli fährt gerade zufällig mit dem Rad vorbei, ruft ihm noch zu, doch der rennt rüber. Der Läufer darf zwar die Etappe zu Ende laufen, doch nun ohne Wertung. Das finde ich gut, denn für jeden Veranstalter würde die ohnehin sehr schwierige Genehmigung für Laufstrecken deutlich härter, wenn sich herum spricht, dass einer „seiner“ Teilnehmer einen Unfall verursacht hat.
In Gräfrath laufen wir an der Kirche eines im 12. Jh erbauten Augustinerkloster vorbei und dann über Treppen hinab in die schmucke Altstadt mit vielen schiefergedeckten Fachwerkhäusern. Bald darauf kommen wir durch eine kleine Heidelandschaft, später durch einen hübschen Park, meist geht es durch idyllische Landschaft.
Einst standen in dieser Gegend etwa 100 Kotten genannte Schleifereibetriebe, aber nur wenige sind heute noch erhalten. Der sehr fotogene, im 17. Jahrhundert erbaute Wipperkotten wird heute als Museum genutzt, sein Wasserrad wird heute noch für Vorführungen des Schleiferhandwerks genutzt.
Zwischendurch verliere ich 15 Minuten durch einen selbst verschuldeten Irrtum bei der Navigation und bin danach froh, als ich die nächste VP erreiche. Diese VP wird von Helmut Rosieka betreut. Er hat schon 666 Marathons geschafft und will im September zu seinem 70. Geburtstag seinen 700. laufen. Nun geht es hinauf zur Burg Hohenscheid, die im dreißigjährigen Krieg als Zufluchtsort für verfolgte evangelische Christen diente und heute als Christliches Lebenszentrum genutzt wird. Auf einer Wiese grast eine Herde Alpakas. Einige Zeit später laufe ich über eine Wiese auf den Balkhauser Kotten zu. Das um 1500 erbaute Gebäude dient heute als Schleifermuseum, sein vier Meter hohes Wasserrad kann auch heute noch zum Schleifen von Messern, Scheren und anderen Schneidewerkzeugen genutzt werden.
Nach der letzten VP wird die Route deutlich trailiger. Wir steigen einige schöne Pfade hinauf und brettern schmale Trails hinab und sehen auch kurz einen Teil der Sengbachtalsperre. Nachdem wir Schloss Burg und damit auch das Ziel schon fast greifbar nahe vor uns sehen, dürfen wir noch eine weite Runde nach Norden dran hängen. Ich beschleunige mein Tempo, da sich der Himmel verdunkelt. Wenige Minuten nachdem der letzte Teilnehmer das Ziel erreicht, beginnt ein heftiges Gewitter mit starkem Regen. Glück gehabt! Da der Regen bis zum frühen Morgen andauern soll, kündigt Olli an, dass wir morgen erst um 7 starten, dann soll es wieder trocken sein. Eine Stunde länger schlafen - großer Applaus.
Da in der Herberge sehr viel weniger Steckdosen als Läufer sind, wir aber abends die Akkus von GPS-Empfänger, Stirnlampe, Kamera, Smartphone etc. laden wollen, schmückt bald ein hübscher Kabelsalat aus Mehrfachsteckdosen den Flur.
Die 4. Etappe mit 50 km und 1600 Höhenmetern heißt „Auf den Spuren des Wupperbergetrailarathon".
Während des Frühstücks regnet es draußen noch, doch am Start ist es trocken. Dank des späteren Starts können wir nun Schloss Burg im Licht der Dämmerung sehen. Nach drei Tagen Frühling umgibt uns heute typische Herbststimmung mit leichtem Nebel und Wolken an den Berghängen. Ich liebe Abwechslung! Auch diese Atmosphäre hat ihren Reiz. Eine Läuferin wechselte spontan von der Kurzdistanz zu uns langen Läufern. Auch so etwas geht bei Olli problemlos.
Kurz nach Sonnenaufgang laufen wir über die eindrucksvolle, 43 m hohe Staumauer der 1903 eingeweihten Sengbachtalsperre.
Heute platschen unsere Füße nur selten über Asphalt, dafür erfreuen uns viele Genuss-Trails. Dies ist auf jeden Fall die anspruchsvollste Runde der Bergischen 5. Meist sind die Trails nicht besonders schwer, aber ein paar kurze Abschnitte kann man durchaus bei dem nassen Boden als happig bezeichnen. Mal laufen wir unten an der Wupper entlang, mal rechts oder links oben auf den Bergen. Der Name Bergisches Land stammt nicht von den Höhenunterschieden sondern vom Herzogtum Berg. An einer Stelle neben unserem Weg wurde dem Rüden eines Herzogs ein großes Denkmal gebaut.
Nachdem ich gestern die letzten 30 km alleine gelaufen war, hänge ich mich heute an eine Gruppe dran. Gemeinsam ist es unterhaltsamer, aber auch die Orientierung sollte eigentlich im Kollektiv leichter sein. Doch das trifft nicht immer zu. Alleine hätte ich es heute wohl geschafft, keinen einzigen Zusatzmeter zu laufen, doch an einer Stelle, wo Ollis Pfeil ganz klar nach rechts unten zeigt, kommen uns einige Läufer entgegen, die sagen, der Track würde nach links oben führen. Wir wissen zwar seit dem Briefing, dass Sprühkreide für uns Vorrang vor Track haben soll, da die endgültige Strecke manchmal von der zuvor erkundeten abweicht, aber ich folge nun „meiner“ Gruppe und den anderen hinauf zur Burg Hohenscheid, an der wir gestern schon vorbei kamen. Dann führt der Track wieder bergab und wir stoßen wieder auf die richtige Version. Die schöne Aussicht mit herbstlicher Stimmung lohnt diesen Umweg.
Wieder komme ich zur Kohlfurther Brücke, über die heute unsere Route führt. Mal vorbei an Resten alter Kotten und ab und zu an einer Bahnstrecke, geht es hinauf zur letzten VP. Auf den letzten Kilometern gebe ich ordentlich Gas. Nachdem mich über ein Jahr lang Magenprobleme bremsten, genieße ich es, endlich wieder normal laufen zu können. Dann sehe ich die Müngstener Brücke auch mal von ganz unten. Noch geht es ein paar Kilometer bergauf und bergab. An kritischen Abzweigungen hat Olli manchmal sogar Skizzen mit dem richtigen Wegverlauf an dicke Baumstämme gesprüht. Im Ort Solingen-Burg sehe ich über mir schon Schloss Burg. Noch ein letzter Aufstieg, den Touristen auch mit einer Sesselbahn bewältigen können, dann laufe ich durch das Schloss, bleibe anschließend brav an der letzten Ampel stehen und erreiche bald darauf das Ziel.
Das schönste bei Etappenläufen ist das Gemeinschaftsgefühl. Statt einfach nur morgens Startnummer zu holen und abends nach Zielankunft nach Hause zu fahren verbringt man hier lange Zeit mit netten anderen Läufern. Außerdem bin ich immer gerne mehrere Tage hintereinander unterwegs. Seit 1986 stand Fernwandern im Mittelpunkt meines Lebens, erst vor etwa zehn Jahren wechselte meine Vorliebe zum Trailrunning. Ab Juli kann ich beide Leidenschaften vereinen, denn dann starte ich mit meinem Blog „D-Wanderer“, für den ich insgesamt 10.000 km auf den schönsten deutschen Fernwanderwegen wandern, zwischendurch auch laufen, vor allem aber viel fotografieren werde.
Am Abend unterhält uns Günter Liegmann mit seinem durch einige Fotos ergänzten Vortrag über den Deutschlandlauf 2017. Seine pointierte, oft ironische Erzählweise ist lustiger als die meisten Comedyshows. Große Klasse! Dieses Programm sollte er unbedingt als Hörbuch veröffentlichen. Ich würde es sofort kaufen.
Olli ist meist den ganzen Tag über unterwegs, manchmal auch am Abend, und markiert die Strecken mit Sprühkreide. Da diese vom Regen schnell verwischt wird, sollte die Markierung möglichst frisch sein. Olli muss nicht nur die 275 km der langen Distanz ganz alleine markieren, auch die vielen Abschnitte, auf denen die kürzere Distanz von unserer Strecke abweicht, müssen markiert werden.
Heute Nacht war Olli mit den Nerven fix und fertig, denn beim Markieren der letzten Etappe stellte er fest, dass die vor wenigen Wochen erkundete Strecke nun wegen neuer Baustellen nicht mehr möglich ist. In der Nacht überlegte er nun, wie er uns heute morgen schnell eine teilweise andere Strecke zusammen basteln kann. Beim Briefing verkündet er, dass die „Kindergartenetappe“ länger wird, die für die „Erwachsenen“ dagegen kürzer. Wir laufen heute nun alle 36 km. Für die Marathonsammler bietet er an, dass sie nach Zielankunft noch den Rest zur ursprünglich geplanten Distanz alleine „auffüllen“ können und er ihnen dann mit einer Urkunde den Marathon bescheinigt. Für mich zählt nur der Spaß am laufen, daher ist mir die Änderung egal.
Patrick, der Olli bereits beim Deutschlandlauf mit vollem Einsatz unterstützte, steht entspannt daneben. Mit seiner gelassenen Art ist er ein Ruhepol der Organisation. Patrick ist hier Sanitäter, Zeitmesser und für vieles weitere zuständig.
Beim Start um 7 Uhr ist der Himmel klar, leichter Dunst legt sich als Weichzeichner über die Landschaft. Gleich nach einem Kilometer kraxeln wir an einem weglosen Hang bergauf, für zwei der Etappenläufer eine besondere Herausforderung, denn einer ist blind, taub und stumm, sein Guide taubstumm. Den Deutschlandlauf 2017 schafften die beiden bis Solingen, mussten dann aber aussteigen. Ganz große Klasse!
Bald bedecken drei Stunden lang Wolken den gesamten Himmel. Die bei Sonnenschein üppig grüne Gegend wirkt nun etwas grau, gefällt mir aber auch so. Wieder gibt es eine abwechslungsreiche Mixtur aus Trails, breiten Waldwegen und nur wenig Asphalt. Da ich mir auf den ersten vier Etappen meine Kraft gut eingeteilt habe, kann ich heute schneller laufen als bisher. Ich fühle mich wie bei einem ganz normalen Trainingslauf mit Freunden. Ab 11 Uhr scheint die Sonne vom wolkenlosen Himmel und erfreut uns wieder mit glücklichen Frühlingsgefühlen. Unterwegs kommen wir an der Vorsperre Kleine Dhünn vorbei, zwischendurch laufen wir auch noch einmal ein kurzes Stück durch das Eifgental.
Eigentlich wollte ich an der letzten VP noch einmal Cola trinken, doch dass uns 6 km vor dem Ziel hier auch Sekt angeboten wird gefällt mir. Auch eine neue Erfahrung: „Rotkäppchen verleiht Flügel!“ So schnell wie auf diesen letzten Kilometern lief ich in dieser Woche wohl noch nie. Auf den letzten Kilometern kommen mir einige Läufer entgegen, die Ollis Angebot nutzen, die zum Marathon fehlenden Kilometer selbst aufzufüllen. Ich könnte heute problemlos auch noch zehn oder zwanzig km weiter laufen, sehe aber für mich selbst im „Auffüllen“ keinen Sinn. Ob dieser Tag als mein 97. Marathon/Ultra gewertet wird spielt für mich keine Rolle.
Bei der Siegerehrung wird jeder einzelne Teilnehmer nach vorne gerufen, was ich in so einer netten Gruppe schön finde. Zur Auflockerung gibt es zwischendurch Kaffee und Kuchen, aber ich habe vorhin wie viele andere Pizza bestellt, daher muss ich auf die leckeren Kuchen verzichten. Beim Gravieren der Pokale gab es kleine, amüsante Pannen. Statt 6400 Höhenmeter steht 6400 km drauf. Bei der Teamwertung sollte jedes Team-Mitglied einen eigenen Pokal bekommen. Ok, jetzt müssen sich die beiden Männer entscheiden, wer den mit der Aufschrift „Damen“ nimmt. Nicht nur für die Sieger gibt es etwas, Ollis typischer Humor sieht auch ein Erinnerungsstück für die Letzten vor: diese bekommen einen hölzernen Gehstock.
Dann bekommt auch Olli eine von allen Läufern unterschriebene Urkunde und herzlichen Applaus. Es folgt die Verlosung von einem halben Startplatz für den auch von Olli organisierten Deutschlandlauf 2019 und für eine Trainingswoche in St. Moritz sowie weiterer Preise.
Schließlich werden natürlich auch noch die Helfer mit sehr, sehr herzlichem Applaus geehrt. Leider sind zwei gerade nicht anwesend, fehlen also auf den Abschlussfotos. Was wären wir Läufer und auch die Lauf-Veranstalter ohne die vielen Menschen, die ihre Freizeit opfern, um stundenlang bei jedem Wetter an der Strecke zu stehen und sich um uns zu kümmern? Nichts wären wir! Und auch die Leiterin der Herberge wird dann heraus gerufen und gebührend gefeiert, denn sie stand jeden Morgen lange vor ihrem Dienstbeginn auf, um uns Frühstück zu richten und täglich 40 Liter Kaffee zu kochen. Es ist wirklich zu schade, dass diese Jugendherberge noch in diesem Jahr abgerissen werden soll. Als Ausgangspunkt für Läufe und Wanderungen im Bergischen Land hat sie eine sehr gute Lage. So wie es aber aktuell aussieht, müssen die Läufer bei den nächsten Bergischen 5 in Hotels übernachten. Aber dass es eine zweite Ausgabe dieser rundum empfehlenswerten Veranstaltung geben wird, daran zweifelt niemand.
Schnellste Frau auf der langen Distanz war Katja Dasbach (33:25) vor Elke Link-Holtermann (38:17) und Eva Schlüter (40:09), schnellster Mann Fabian Benz (26:58) vor Volker Greis (27:05) und Dirk Thomas (28:48). Die kurze Distanz gewann Laura Mathiaszyk (mit 20:28 eine Dreiviertelstunde vor dem schnellsten Mann!) vor Nina Ropertz und Christiane Küttner (beide 21:16). Schnellster Mann war Dirk Minnenbusch (21:15) vor Sören Sahling (21:17) und Detlef Korioth (21:36).