Es ist stockdunkel. Der Zug hält um 20 Uhr in Den Helder, dem „Tor zur Hölle“. Zwischen Den Helder und der Insel Texel lagen die Schiffe der Holländischen Ostindien-Kompanie auf Reede, um auf günstige Winde für den Weg um das Kap der Guten Hoffnung zu warten. Die heutige Wettervorhersage ist ungünstig: Wind der Stärke 7 aus Südwest. Noch gehe ich von einem lockeren Strandlauf über 50 Kilometer aus.
Ein Seemann, der den Heuervertrag unterschrieben hatte, unterstand nicht mehr der Gesetzgebung des Festlandes, sondern der des jeweiligen Kapitäns. Die Kapitäne verweilten jedoch auf Texel. Deswegen war in Den Helder immer was los, und der Name Den Helder (Tor zur Hölle) entstand. Sympathisches Städtchen. Startnummernausgabe ist gegenüber des Bahnhofes in einem Hotel mit dem höllischen Namen „Wienerhof“. Der Start ist um 21 Uhr (tidenabhängig) angesetzt.
Der Dutch Coast Ultra (25 + 50 km) findet zum zehnten Mal statt. Zum Jubiläum sind drei weitere Ultrastrecken dazugekommen: 75, 105 und 135 km.
Kaum stehe ich am Tisch mit der Startnummernausgabe, da kommen schon die ersten 135- und 105 Kilometerläufer herein. Die sind heute Mittag in Deining aan zee, also „Dünen an der See“, „tweede paviljoen rechts in der Stadt Castricum aan zee“, also dort sind die gestartet. Und dort wird mein 50er in spätestens nach acht Stunden gefinisht sein. Das Strandrestaurant „Deining“ ist das Zentrum für das Rennen. Zwischen dem Wienerhof und dem Deining gibt es nur eine Wasserstation und die ist beim Ziel des 25 Kilometer-Laufes. Keine Markierungen. GPS-Daten sind „normaal gesproken“ nicht notwendig, es geht einfach am Strand entlang. Nur wer 75 Kilometer und mehr laufen will, braucht Navigation, denn dann geht es östlich durch die Grasdünen.
Henri und Rinus organisieren diese Veranstaltung, die vor 10 Jahren ganz privat mit 23 Läufern anfing. Heute starten wohl 115 und immer noch ganz privat. Henri und Rinus erkennen mich sofort, „Ausländer“ sind selten im Winter, obwohl der Lauf im DUV-Kalender gelistet ist. Kurze Einweisung auf Englisch. Nein, einen Besenwagen gibt es nicht: „Der Luxus ist in deinem Rucksack!“
Die angetretenen Läufer sind notiert. Bei Kilometer 25 und 50 wird die Ankunft kontrolliert, es soll niemand am FKK-Strand zurück bleiben. Im Wienerhof gibt es Snacks und warme Getränke. Die Pasta kostet 5 Euro, ist sehr gut. Im Nebensaal wird ein Bridgeturnier ausgetragen. Ist das Sport? Ich habe mich für die 50 Kilometer gemeldet (17,50 Euro) und hatte Glück, über die Warteliste rein zu rutschen. Und jetzt?
21 Uhr: Der „zwaarste strandloop“, der schwerste Strandlauf, Untertitel: „Run like Hell“ wird gestartet. In der winzigen Fußgängerzone gelingen mir noch wenige Fotos, es geht Richtung Fährhafen (Texel), über die Keizersgracht nach Norden, Richtung Küste. Zum Glück denke ich wenigstens jetzt dran, meine Uhr zu starten, um den Kilometerstand am markierungslosen Strand checken zu können. Es soll Strandpfähle geben, die haben Nummern, zu denen könnte man den Rettungsdienst 112 rufen.
Die hohe Deichtreppe ist schnell genommen. Oben auf der Kuppe schlägt mir der nasse Wind mit scheußlicher Kraft entgegen. Stirnlampen sind auf dem Deich aufgereiht, doch der Regen klatsch genau auf die Linse meiner Kamera. Der Leuchtturm schickt drohend Lichtblitze über das schäumende Meer, als würde er vor einem Tsunami warnen. Treppe runter zum Wasser. Fünf Kilometer schönster Deichradweg, mit zwei leuchtend weißen Streifen. Den rechten sollte man nicht übertreten, denn ab da geht es sofort die Rutsche hinab in die strandlose Brandung. Diese Deichanlage ist mächtig, das Meer schäumt vor Wut.
Auf der Meerseite ist es stockdunkel. Hier also beginnt die Hölle. Wer die falsche Klamottenwahl getroffen hat, hat Pech. Ich habe Pech, großes Pech.
Nach den fünf Kilometern auf dem Deichweg habe ich eine optimale Laufhaltung gefunden: Wie Quasimodo bewege ich mich vorwärts. Doch nun kommen wir in die Huisduinen, die kann man nur am Rande der Wellen durchqueren. Einzelne Läufer kommen mir entgegen, hoffentlich melden die sich später bei der Rennleitung ab. Es ist vernünftig umzudrehen. Auch für mich, den ewigen Haudegen. Aber dann habe ich keine Möglichkeiten mehr nach Deining zu kommen, wo meine Wechselklamotten mit dem Erfrischungsgetränk stationiert sind.
Es gibt seit 30 Minuten keine Läuferlichter mehr. Nichts, gar nichts. Da überholt mich plötzlich ein schwarzer Vampir in gebückter Haltung. Ich habe ihn nicht bemerkt, er hat nur eine sehr schwache Lampe. Wir brüllen uns Grüße zu, doch wir hören aneinander nicht. Das Heulen und Knattern des Windes an meinen Ohren wird lauter, je mehr ich nach Süden komme. Meine Brille ist undurchsichtig, die Augen tränen, Rotze fliegt über die Schulter, ich hoffe es ist meine.
Manchmal sehe ich die Grenze zum Wasser. Es gibt zwei: die deutliche, die vom Meerwasserschaum gebildet wird, und die undeutliche, die überraschend mit den Wellen kommt. Vom Brandungsrand aus kommend, flitzen wilde Fetzen aus Meerwasserschaum mit 50 Stundenkilometern auf mich zu. Das könnte lustig sein, ist es aber nicht. Meine einzigen, witterungsangepasste Kleidungsstücke sind die wasserdichten Strümpfe: Ist erstmal Waser drin, geht es nichts mehr raus.
Ich laufe jetzt wie ein Skater, doch mit meinen kalten Armen kann ich keinen Schwung holen. Ich will, dass der eisige Regen aus den Ärmeln rausläuft und halte sie seitlich von meinem Körper weg. Von meiner Skaterhaltung weiche ich nur dann ab, wenn mich eine Welle erwischt, dann ist auch schon wieder frisches Wasser in meinen wasserdichten Strümpfen.
Blickpunkte bieten die hellen Schulpe, die Kalkskelette der Sepien, eine abgerissene Boje, Netze oder ein einsamer Schuh. Andere Läufer finden einen Seehund am Strand, ich finde nicht mal Spuren meiner Vorläufer. Blöd die Meldung auf FB letzte Woche: „ Strand weggeslagen“. Tatsächlich hat der letzte Sturm unsere geplante Laufstrecke stark verengt.
Nur gut, dass meine Uhr die Kilometer zählt. Etwa bei km 13 überhole ich Dave, seine Stirnlampe gibt auf. Wir versuchen uns im Sturm zu unterhalten. Er spricht Indonesisch, ich Französisch. Da läuft was in unseren Hirnen nicht korrekt. Aber ich verstehe ihn, er ist in Batavia geboren worden und will bei km 25 raus. Und dann passiert etwas Seltsames: Wir bleiben für ein gemeinsames Selfie stehen, da sacke ich kraftlos in mir zusammen, und er fällt mit einem lauten „OOOOH“ auf mich drauf. Eine verwirrende, peinliche Situation, die man normalerweise erst nach zwei Flaschen Whiskey in einem homoerotischen Etablissement erlebt. Hat mir mal jemand gesagt, der jemanden kennt.
In diesem Fall ist es der akute Sauerstoffmangel, der eintritt, als wir stehenblieben und uns gegen den Wind stellten. Auf der Leeseite herrscht bei dieser Windstärke ein Unterdruck, der saugt Luft aus den Lungen.
Peinlich betroffen, heimlich grinsend, stapfen wir wortlos weiter, an Skaten ist nicht mehr zu denken. Im Schwanken meiner Stirnlampe erkenne ich Eichenstämme in der Brandung. Sie tragen wohl ein Strandrestaurant. Eigentlich wäre jetzt Ebbe, doch der Wind treibt die Nordsee hoch in unser Laufrevier. Bei Kilometer 31 könnte die Nordsee wegen des Windes sich mit einer Lagune vereinigt haben, so sagte mir Rinus beim persönlichen Briefing im Wienerhof. Dann müsse man 1,5 zusätzliche Stunden um die Lagune laufen. Wenn ich so weiterlaufe, dann bin ich eh 1,5 Stunden über Cut-Off.
„Wegen des starken Windes werden sicherlich die Zeiten aufgehoben. Oder nicht? Wenn nicht, was dann? Wie komme ich zurück in die Zivilisation?“ Gedanken, die immer düsterer werden, ich zittere. Meine Ohren schmerzen stark, meine Augen haben Wasserfall. Das Brüllen des Sturmes macht mich wahnsinnig, ich habe Kopfschmerzen. Ab und zu drehe ich mich nach Dave um, seine Lampe ist noch sichtbar. Meine Lippe blutet und ich bin plemmplemm: Die Brandung rechts erscheint mir als Sandwand, links die Dünen erkenne ich, aber ich gehe permanent diese Dünen hinauf, ohne sie zu erreichen. Ich versuche jetzt die Sandwand rechts, die ja keine ist. Die Brandung wird lauter. Also wieder nach links zum Sandrohr. Obwohl es stark regnet, so hat der Wind den Sand in eine weiche Trockenwüste verwandelt. Sand weht kniehoch, ich versuche Lichter zu erkennen, ich versuche den Ausstieg zum Parkplatz Petten zu finden, ich versuche die Sandtränen zurück zu halten.
Über Petten hatte ich mich damals in der Bravo informiert, aber Cut Off nach 3:30 Stunden, das hatte Dr. Sommer nicht erwähnt. Cut-Off fordert meine Religion nicht. Wer beim Petten mehr als 3:30 Stunden braucht: „Kom je later: bellen!“ so steht es in der Ausschreibung. Man muss also die Crew bei km 25 anbellen.
Oft schaue ich zurück nach Dave, er hat wohl seine Lampe ausgeschaltet. Die Kilometeranzeige auf meiner Uhr sagt, ich müsste längst am Parkplatz Petten sein. Rinus sagte noch beim Briefing: „Wir versuchen eine Beleuchtung für den Ausstieg bei Kilometer 25 zu machen“.
Angst habe ich nicht. Wenn ich nicht stehenbleibe, dann kann ich nicht hinfallen. Aber wenn ich am Parkplatz Petten vorbei laufe, was dann ? Ein bisschen Angst habe ich schon. Es wird mehr, mehr und noch mehr. Und wieder bin ich abgeschweift, lande in der Brandung. Wenn ich hier liegen bleibe, bekomme ich dann ein Schild umgehängt: „Kann Reste von Schalentieren enthalten“? Wenn ich hier in der Brandung erfriere, kann ich dann noch verbrannt werden?
Ich finde zurück in mein optisches Sandrohr und kämpfe mich die vermeintliche Steigung Richtung Osten hinauf. Der Sturm kämpft jetzt mit pfeilschnellen Sandkörner gegen mich. Mit den klatschnassen Tempos kann ich noch ein letztes Mal meine Brille klären, dann sehe ich ein kaltes Licht irgendwo in den „Bergen“. Es gibt viele Lichter, die sich auf der Wasserfläche reflektieren, da blinkt mal eine Stranddusche oder eine Alarmanlage an irgendeinem Parkautomaten. Oh Fuck, der Parkplatz beim km 25 liegt hinter dem Deich, den kann man vom Strand aus nicht sehen. Ich muss hier irgendwie raus, sonst habe ich nochmals 25 höllische Kilometer vor mir. Immer wieder versuche ich nach links leicht hinauf zu laufen, aber es gelingt mir nicht. Ohne visuelle Anhaltspunkte kann ich die Strecke nicht peilen. Der Wind von vorne rechts treibt mich in eine gefühlte Linkskurve, die aber rechts in die Brandung führt. Diese Situation ist nicht lustig.
Da ist wieder das kalte Licht, ein Licht, das anders ist. Es ist bläulich und scheint hinter Gräsern, hoch oben in der Düne verborgen. Als ich näher komme, kreist es wie ein Leuchtturm. Der Turm hat rote Farbe, es ist Henri, der bärtige Chef. Boah bin ich happy! Er geleitet mich über den sandverwehten Parkplatz hinauf und über den Deich auf die andere Seite. Die kalten Markierungslämpchen haben schon keinen Saft mehr. Ich bin spät, knapp an den fünf Stunden dran. „Mach dir keine Gedanken!“ sagt Henri, „die sind alle hier raus!“
Ich mache mir keine Gedanken, das war ein tolles Erlebnis. Eine neuartige Abreibe. (Für holländischen Leser: Abreibe= höllischer Arschtritt in den inneren Schweinehund.) Jetzt bin ich geimpft gegen Windstärke 7. Schwer, kalt, nass war ich schon vorher.
Der Minibus braucht vom Parkplatz Petten 1,5 Stunden hin/zürück von Deining. Bin froh, dass er schon dort steht und ich nicht noch 1,5 Stunden in der Kälte warten muss. Eigentlich sollte ein großes Feuer in einer Metallschale brennen, doch bei diesem Sturm ist das nicht möglich.
Tief in Decken gehüllt und zitternd warte ich noch auf Dave, während die Orga telefoniert, wo die verschwundenen Läufer sind. Nach 30 Minuten ist der Verbleib aller Läufer geklärt, es geht ab nach Deining.
Es ist 3 Uhr, als ich am prächtigen Kaminfeuer sitze und auf meine Trainerin warte. Der Restaurantbetrieb ist eingestellt, die Bierzapfhähne abgedreht, der Raum für diese nächtlichen Stunden nur angemietet. Gute Idee der Orga. Der Kakao ist super, die gegrillten Hühnerbeine auch. Snelle Jelle ist Honigbrot. Flan isst Vanillepudding. Tatsächlich haben zwei Läufer die 135 Kilometer gefinisht
Dieser Lauf von Freunden für Freunde hinterlässt endlich mal wieder eine tiefe Kerbe in meiner Lebenslinie. Es ist nicht die Frage, ob du können könntest hätten, sondern ob dein Hirn mit macht. Ich danke dem Team vom Dutch Coast Ultra für diese neue, stürmische Lauferfahrung. Dieser Lauf ist definitiv nur was für völlig Durchgeknallte. Und davon haben „wij Duitsers“ auch einige. Ich bringe einige davon nächstes Jahr mit, definitiv.
Der Luxus ist in deinem Rucksack!