Schön, wenn man einen Italienkurzurlaub über Pfingsten mit einem Marathonlauf verbinden kann. Doch ohne den Info-Link von Hartmann Stampfer wäre mir entgangen, dass an diesem Wochenende in Cervia der erste Eco-Marathon stattfindet.
In Italien gibt es inzwischen zahlreiche derartige Eco-Laufveranstaltungen, die gemäß Trail-Running-Philosophie den bewussten Einklang von Mensch und Natur beim Laufsport verfolgen. Abseits von Autoverkehr, Lärm und Gestank eröffnen sich dem Läufer ausgedehnte Rückzugsgebiete, umgeben von Wiesen, Wäldern, Flusslandschaften mit Biotopen, auf Bergen und in abgelegenen Seitentälern, die alle dem strengen Naturschutz unterliegen. Der Respekt vor Flora und Fauna soll wachsen und damit auch der Läufer selbst zum Schutz unserer Umwelt auf oft einsamen Pfaden beitragen.
Eigentlich hätte ich ja in Riga starten wollen, doch aus privaten Gründen und aus alter Familientradition verbringen wir mehrmals im Jahr einige Tage in Jesolo. Hartmann ist Spezialist, wenn es um neue Marathonläufe geht. Er läuft jeden Marathon ortsbezogen nur ein einziges Mal und hat inklusive seiner Ultraläufe längst die 250er-Marke erreicht. Hartmann sammelt auch Länder, in der Zwischenzeit sind es deutlich über 60 – den italienischen Rekord im Visier.
Ich melde mich dank dem Tipp von Hartmann am 12. Mai um 23 Uhr 50 knapp vor Ende der elektronischen Registrierungsfrist bei mySDAM.it an. Die Startgebühr beträgt 40 Euro, ein ärztliches Attest, ausgestellt für den Aquileia-Marathon zu Ostern und ein pdf meiner verlängerten Runcard, die Nichtitaliener um 15 Euro-Jahresgebühr für Laufveranstaltungen in Italien erwerben und vorlegen müssen, attache ich. Tags darauf bestätigt man mir die Teilnahme per E-Mail, die Startnummer 183 wird mir zugewiesen.
Wir haben eine Juniorsuite im Hotel Brasilia gebucht, aber ich werde die Nacht vom Samstag auf den Pfingstsonntag in Cervia verbringen. Wegen einer blockierten Bremse am linken Hinterrad, vermutlich beim Reifenwechsel in der Werkstätte verursacht, geht es für mich am Samstagnachmittag mit einem Leihauto von Jesolo-Lido in die ca. 300 km weiter südöstlich an der Adria liegende Salinenstadt weiter. Die Gegend ist mir nicht unbekannt – in früheren Jahren waren wir öfters im rund 25 km entfernten Rimini. Einmal verbrachten wir die Osterwoche in einem Lauftrainingscamp in Cesenatico – damals nahm ich noch an Triathlons und Duathlons teil und erkämpfte mir sogar Medaillen in der Altersgruppe M-50.
Nach drei Stunden Fahrzeit in einem für meine Größe ungewohnten Kleinstwagen der Type Nissan micra erreiche ich um 19 Uhr das Hotel Airone in der 30.000 Einwohner zählenden Stadt, die zur Provinz Ravenna und zur Region Emilia Romagna gehört. Vom einfachen Dreisternhotel in der via Monreale zur Piazza Andrea Costa sind es weniger als 500 m. Dort kann man sich laut Ausschreibung die Startnummer und den Leihchip abholen. Erst nach dem Lauf würde man bei Rückgabe des Chips ein zusätzliches Startsackerl mit einem Funktionsshirt und Bon für die Pasta bekommen, erklärt mir die Helferin.
Der Abend ist zwar nicht lau, aber kühl ist es auch nicht. So beanspruche ich eines der Leihräder des Hotels und fahre an der Meerpromenade entlang. Man könnte bis nach Rimini weiterradeln, doch mit dem einfachen Damenrad ohne Gangschaltung wäre das eher anstrengend. Gegen 20 Uhr 30 komme ich zur Piazza Andrea Costa zurück, wo in einer gemauerten ehemaligen Lagerhalle dem Öko-Trend bei einer Verkaufsausstellung Rechnung getragen wird. Mit einer hübschen Frau aus Rom komme ich ins Gespräch. Als Mitarbeiterin eines Tour-Büros bewirbt sie u.a. auch Walking-Trails in der Emilia Romagna. Als wir auf gesunde Ernährung zu sprechen kommen, gesteht sie, dass für ihr leibliches Wohl vegetarische oder gar vegane Kost nicht in Frage komme. Sportler brauchen eine ausgewogene Ernährung, meint sie. Darüber könnte man diskutieren.
Wenn ich daran denke, auf welch ein reichhaltiges Frühstück ich freiwillig im empfehlenswerten Hotel Brasilia in Jesolo heute verzichte, so kommt mir das karge colazione-Angebot im Airone noch bescheidener vor. Für solche Momente sorge ich aber stets vor und kaufe einige Lebensmittel am Vortag ein. Ich esse daher im Zimmer ein zweites Mal. Rennbeginn ist um 9 Uhr, Start und Ziel befinden sich an der Piazza Andrea Costa.
Den ersten Läufer, den ich dort erblicke, ist ausgerechnet Hartmann Stampfer. Er hat letzte Woche in Elba gefinisht, erzählt er mir. Davor war er in Südamerika unterwegs. Wer Zeit und Interesse hat, möge Hartmanns hervorragend gestaltete Homepage ansehen, die unter seinem vollen Namen von den gängigsten Suchsystemen im Web rasch gefunden wird.
Jetzt um 8 Uhr 45 steht noch eine lange Schlange vor der Startnummernausgabe. Ich finde das bequem, denn viele Läufer/innen sparen sich so die Übernachtung, wenngleich in Cervia die Hotelpreise in der Vorsaison moderat sind. Ich nutze die verbliebene Zeit bis zum Start, um das Geschehen zu fotografieren und so Eindrücke von der guten Stimmung bei schönem Wetter zu vermitteln. Marathons in Italien sind stets ein Erlebnis, das werden auch die M4Y-Reporterkollegen bestätigen. „Wir sind Marathon!“ wird hier gelebt. Wenn man selbst mal einen läuferischen Tiefpunkt hat, sollte man am besten bei einem Event in Italien mitmachen und schon übertragen sich die gute Laune und der Optimismus auch bei Kollegen jenseits der siebzig auf einen.
Ein wenig Hektik kommt auf, als die zahlreichen Verantwortlichen sich nicht entscheiden können, ob das zunächst quer über die Straße auf Hüfthöhe gespannte Band weiterhin von zwei Personen links und rechts gehalten werden soll. Es könnte nach dem Startschuss jemand u.U. darüber stolpern. Ich stelle mich drei Meter vor die Absperrung, um die Läufer so von vorne gut knipsen zu können. Die Zeitnehmung wird trotz mySDAM-Chip am Schuhband offenbar händisch ausgelöst, denn wir sind 50 Meter vom Zieleinlauf postiert.
Nach rund 30 Sekunden des permanenten Knipsens eile ich an der Seite des entgegenkommenden Feldes zur Startmarkierung zurück und schließe mich dem Läuferstrom an. Marathon- und Halbmarathonläufer/innen sind gemeinsam gestartet, letztere sind gut an ihren grün unterlegten Startnummern erkennbar. Hartmann ist zu diesem Zeitpunkt schon 20 Meter vor mir. Es geht zunächst die via Evangelisti stadtauswärts Richtung Westen. Schon nach einem Kilometer am Ende der Ortstafel von Cervia kommt es zu einem Stau, als wir durch eine Eisenbahnunterführung laufen.
Wir gelangen so in den Salinen-Park, der mit einer Fläche von 827 Hektar und einem Netzwerk aus Kanälen, die zusammen 46 Kilometer ergeben, ein einzigartiges Ökosystem und inzwischen auch staatliches Naturschutzgebiet bildet. Über 2.000 Flamingos und 100 Vogelarten leben laut Naturschutzbeobachtern hier. Die Adriaküste ist weniger als zwei Kilometer entfernt. Der Untergrund hier im Naturpark ist lehmig, das mit Hochwasser hereinschwappende Meereswasser wird in den künstlichen Becken aufgefangen und verdunstet unter der Sonne, dünne Salzschichten bleiben zurück.
Die Wasserhöhe der Salinen beträgt meistens nur wenige Zentimeter, die Salzkonzentration über 150 ‰. Der Natriumchlorid-Anteil des bei Cervia gewonnenen Salzes liegt bei über 97 %. Wegen seiner Reinheit und geringeren Bitterkeit gilt es als eines der besten Italiens. Im Sommer finden geführte Touren statt, bei denen man den verschiedenen Aktivitäten im Rahmen der noch wie in früheren Zeiten von Hand durchgeführten Salzernte zusehen kann.
Schon nach weniger als zwei Kilometern sind wir mitten im Salinenpark. Hartmann hat im Smalltalk vor dem Start darauf hingewiesen, dass der Marathon-Trail nach Nordwesten und dann wieder zurück zum Ausgangspunkt über Wiesen, auf Schotter- und Waldwegen und Sanddünen führen würde. Auf der Veranstalterhomepage wird der Rundkurs in einer langgezogenen Schleife grafisch dargestellt.
Zunächst komme ich noch gut voran. Doch sobald die gut befestigten Schotterstraßen in kaum mehr als zwei Meter breite Trampelpfade auf Wiesen entlang der Salinen einmünden, habe ich Probleme mit den Unebenheiten. Die Läufer/innen bewegen sich in Gänsemarschformation auf zwei von den Reifen von Agrarfahrzeugen erzeugten geraden Spuren inmitten von 20 cm hohem und feuchtem Gras. Niemand will sich die Schuhe nass machen, so laufen fast alle hintereinander. Nur vereinzelt wird überholt, eine Läuferin entschuldigt sich bei mir, als sie sich vorbeidrängt: „Sono di mezzo maratona …“ glaube ich gehört zu haben. Ich hätte Trailschuhe anziehen sollen, denn meine schlecht gedämpften Laufschuhe mit dünnen Sohlen gleichen die Bodenunebenheiten nicht aus.