Im Schatten der Achttausender
Der Himalaya, das höchste Gebirge der Erde, stellt schon seit Jahrzehnten ein faszinierendes Ziel für Bergsteiger und Abenteurer dar. Zehn der vierzehn höchsten Berge der Erde befinden sich hier. Viele Mythen und zum Teil tragische Geschichten existieren um diese Bergriesen. Im indischen Teil dieser gewaltigen Gebirgskette findet Ende Oktober bzw. Anfang November ein Lauf der besonderen Art statt: The Himalayan 100 Mile Stage Race.
Bei diesem Etappenrennen gilt es insgesamt 100 Meilen (161 Kilometer) und knapp 7.000 Höhenmeter in fünf Tagesetappen zu bewältigen. Schon die Anreise zu diesem Lauf am 24. Oktober 2009 ist für mich ein Abenteuer. In einem völlig überfüllten Jeep-Taxi fahren mein Kumpel Chris und ich von Darjeeling im indischen Bundesstaat Westbengalen nach Mirik, wo sich der Ausgangspunkt zum Rennen befindet. Für die knapp 50 Kilometer lange Strecke benötigen wir fast drei Stunden! Ich checke erstmal in die Mirik Tourist Lodge ein, wo der Großteil der Läufer untergebracht ist.
Insgesamt stellen sich in diesem Jahr nur 43 Athleten der Herausforderung Himalayan 100 Mile Stage Race. Am Abend findet ein Briefing statt. Renndirektor C.S. Pandey begrüßt offiziell die Läuferinnen und Läufer. Er und seine Crew haben über die Jahre eine top organisierte Veranstaltung auf die Beine gestellt, die in diesem Jahr die bereits neunzehnte Auflage feiert. Der folgende Sonntag ist für Sightseeing und zum Entspannen gedacht. Ich nutze den Tag und besuche ein bekanntes Kloster im Ort. Dabei habe ich die Möglichkeit, einer Gebetsstunde junger Mönche beizuwohnen. Ich befinde mich mittlerweile seit einem Monat auf Reise. Die ersten vier Wochen verbrachte ich in Nepal, wo ich mich auf dem Annapurna Circuit Trek schon einmal akklimatisierte. Der Himalaya-Lauf wird das letzte Highlight meiner Reise sein.
Mein Wecker klingelt schon um 4:30 Uhr. Es ist Montag, 26. Oktober 2009. Eine Stunde später werden wir in Bussen nach Maneybhangjang gebracht, eine kleine Ortschaft neunzig Minuten von Mirik entfernt. Dort befindet sich der Start zum Lauf. Das gesamte Dorf ist zusammengekommen, um uns Läufer anzufeuern. Kinder in eindrucksvollen Gewändern führen einheimische Tänze auf. Als Ritual erhält jeder Läufer vor dem Start einen Seidenschal, der für die kommenden fünf Tage Glück bringen soll. Nach den letzten Ansprachen erfolgt endlich der Startschuss zum diesjährigen Himalayan 100 Mile Stage Race.
Auf der ersten Etappe gilt es 38 Kilometer und über 2.500 Höhenmeter zurückzulegen. Gleich nach Maneybhangjang geht es bergauf. Nicht so steil, dafür aber lange. Insgesamt zwölf Kilometer am Stück! Die ersten Kilometer lege ich noch im Laufschritt zurück. Doch schon bald ist Gehen angesagt. Die Luft wird immer dünner. Ich bewältige Serpentine für Serpentine. Je höher wir kommen, umso bewölkter wird es. Von der traumhaften Bergwelt des Himalaya bekommen wir während der Etappe nicht so viel zu sehen.
Nach dem kilometerlangen Anstieg folgt eine längere Bergabpassage. Diese zeichnet sich durch unangenehme Kopfsteinpflasterwege aus. Ständige Konzentration ist hier gefordert, um mögliche Verletzungen zu vermeiden. Ich laufe ein paar Kilometer mit Richard, einem bulligen Südafrikaner, und Jeff, einem Lauf-Journalisten aus Kalifornien. Die kurzen Gespräche lenken ein wenig von den Anstrengungen der Etappe ab. Dann ziehe ich wieder alleine weiter. Plötzlich kreuzt eine Herde Yaks den Weg. Imposant und ein wenig Angst einflößend bewegen sich diese majestätischen Tiere auf mich zu. Erst im letzten Moment gehen sie zur Seite. Ich erreiche wenig später den nächsten Verpflegungsposten.
Wie bei diesem Rennen üblich, muss jeder Läufer zur Kontrolle seine Unterschrift abgeben. Freundliche und zuvorkommende Helfer versorgen mich mit Wasser, Keksen und Kartoffeln. Es stehen auch ein paar neugierige Kinder am Stand, die mich wie einen Außerirdischen anstarren. Einen Mann mit langen, blonden Haaren haben sie wohl noch nicht so häufig gesehen. Ich spreche ein paar Worte auf indisch, was bei ihnen ein Lächeln hervorruft. Dann ziehe ich weiter.
Nur noch zehn Kilometer bis zum Etappenziel liegen vor mir. Doch dieses letzte Teilstück hat es noch mal in sich. 1.000 Höhenmeter müssen bewältigt werden! Bei europäischen Bergläufen ist spätestens bei 2.700 Meter Höhe Schluss. Diese Höhe markiert bei diesem Rennen erst den Beginn des letzten Anstiegs. Besonders bei dieser Bergaufpassage nach Sandakphu komme ich nur unendlich langsam voran. Mir scheint es, als trete ich auf der Stelle. Die zunehmende Höhe erschwert jeden Schritt. Mein Höhenmesser zeigt 3.350 Meter. Es kann nicht mehr weit bis Sandakphu sein. Nach jeder Kurve hoffe ich, das Bergdorf zu sehen. Dann habe ich es geschafft! In Sandakphu (3.616 Meter) habe ich - endlich - einen Ausblick auf die Himalaya-Bergwelt. Besonders das beeindruckende Massiv des Kanchengjunga, der dritthöchste Berg der Erde, fasziniert mich. Wir sind über den Wolken! Was für ein sagenhafter Anblick! Sandakphu ist der einzige Ort in der Welt, an dem man Ausblicke auf vier der fünf höchsten Berge der Erde hat. Neben dem Kanchengjunga kann man den Mount Everest, Lhotse und Makalu erblicken. Wir sind für die nächsten zwei Nächte hier in Berghütten untergebracht.
Am zweiten Tag steht eine 32 Kilometer Etappe auf dem Programm. Am Morgen ist es noch sehr frisch. Ich verweile bis kurz vor dem Start in der Hütte und wärme mich am heißen Ofen auf. Mr. Pandey sagte mir, dass es vor zwei Jahren hier heftigen Schneefall gegeben hätte und das Rennen kurz vor dem Abbruch stand. Da haben wir in diesem Jahr richtig Glück mit dem Wetter. Die Sonne zeigt sich bald und erlaubt uns erneut atemberaubende Ausblicke auf die Himalaya-Gipfel. Ich bleibe alle paar Minuten stehen und halte diese traumhafte Kulisse in Bildern fest. Ich genieße diese Momente in vollen Zügen! Die Zeit ist für mich bei diesem Lauf absolut sekundär! Wie oft läuft man schon am Everest entlang?