Genau jetzt benötige ich ihn: Den Knopf zum Wegbeamen. Scotti hol mich hier raus. Ich habe genug. Wir Trailläufer suchen Grenzen, suchen die Herausforderung. Aber wir sind auch in der Verantwortung uns selbst gegenüber, sich frühzeitig die Grenze einzugestehen und weitere Gefahren abzuwenden. Es geht nicht um den Stolz, die Ehre, die Sache auf Teufel komm raus durchzuziehen. Nein es geht darum, Spaß an dem Trailsport zu haben und auch immer sagen zu können: "Für heute reicht es. Meine persönliche Grenze ist erreicht."
Da kann der Veranstalter nichts dafür. Ja, das Wetter ist schlecht, aber es ist ja meine Entscheidung, diesen Outdoorsport zu praktizieren. Ich hasse mittlerweile die Diskussionen in den Social Medias über Sinn und Unsinn von Veranstalter-Pflichtausrüstung oder ITRA-Pflichtausrüstung. Der Veranstalter erstellt seine Forderung an die Pflichtausrüstung, weil er die Gegend kennt. Ich halte mich an solche Erfahrungswerte.
Ich war aber auch sehr froh über meine zusätzlich mitgenommene Ausrüstung. Ersatzshirt, Ersatzshirt-Langarm, ärmellose Weste, Sealskin-Socken, drei Buffs. Alles in Zipplock-Beutel eingetütet. Und das war meine Rettung zum Schutze meiner eigenen Gesundheit. Was haben wir beim Laufen plötzlich gefroren. Nach 16 Laufstunden, durchgemachter Nacht, kommt gegen 06:30 diese Kaltfront rein. Eigentlich war der Regen auf nachmittags 15 Uhr prognostiziert. Da wäre das Hauptfeld aus dem Hochgebirge draußen gewesen.
Auf ca. 2000mtr stehend eine Kaltfront mit heftigen Winden und ca. 5 Grad frontal abzubekommen, ist kein Vergnügen. 5km hinter uns ist ein Rennstopp ausgesprochen. Hilft mir gerade wenig. Mein Sturz vor einer Stunde kommt erschwerend hinzu. Knie verdreht, Stock gebrochen, Rippenprellung. Schlechte Phase erwischt. Regenhose und Regenjacke, Buffs schützen gerade so. Laufen, laufen, laufen, nur damit ich nicht auskühle. Schwierig bei den Schmerzen. Ich muss noch auf 2500mtr hoch, um aus diesem Hochgebirge ins Tal absteigen zu können. Das kalte Wasser läuft an meiner Regenhose in meine Schuhe. Eisklumpen. Die Kontrollstelle auf dem 2500 mtr hohen Pass hat ein kleines Zelt. Ich verkrieche mich darin, um meine eiskalten Socken gegen meine wasserdichten Sealskin-Socken zu tauschen. Welche Wohltat.
Der Helfer sagt zu mir, noch ca 7km bergab, dann kommt die Berghütte Rif Calvi. Die Entscheidung ist getroffen. Für heute reicht es bei mir. Aktuelle Platzierung ist so bei 100 von 245 Teilnehmern. Ich bin nicht schlecht dabei, und 61km und ca. 6500Höhenmeter sind in 19 Std geschafft. Weitere 80km stehen aus, bei vielleicht 25 zusätzlichen Laufstunden. Lebensakku schonen! Mit mir gehen zwölf weiter gute Läufer bei 61k raus, eine Profi-Dame zittert wie Espenlaub. Uns hat das Wetter gerade zermürbt. Der Kaminofen in der Hütte ist eine der schönsten Nebensache zu diesem Zeitpunkt.
Kein Handyempfang, dafür ein Hüttentelefon mit Wählscheibe. Das Wählen im Kreise dauert ultralange. Welche Ironie, aber meine Frau geht Gott sei Dank ran und ich kann Entwarnung geben. Cappuccino bestellen, Wechselsachen anziehen. Ich habe noch eine trockene Unterhose dabei, Beinlinge wärmen, trockenes Shirt und Armlinge. Aus meinem Rucksack ist das Wasser unten nur so rausgelaufen. Alles ist durchweicht, nur der Inhalt der Zipplocktüten nicht!
Ich bin trocken! Die anderen frieren extrem.
Die unerwartete Massen-Aufgabe zwingt die Orga zum schnellen Handeln. Das funktioniert auch sehr gut. In Etappen komme ich zügig, aber immer noch in 2 Std mit Jeep und Bus nach Bergamo. Die Rettung meiner Gesundheit: Meine zusätzlichen trocken verpackten Klamotten. Auch das gehört zum Trailsport. Das sichere After-Race. Das Open-Window des Körpers nicht zu vernachlässigen. Geschafft. In der Altstadt von Bergamo gibt es die erlösende warme Dusche und ganz frische Anziehsachen.
Und der OUT, der Orobieultratrail: Eine brachiale Schönheit - ein kommender Stern am Läuferhimmel. Eine Bereicherung. Es muss nicht immer weiter, höher oder um einen monumentalen Berg herum gehen. Das hier glänzt mit einer außergewöhnlich faszinierenden Landschaft. Die Alpenzüge in der Lombardei sind eine großartige Challenge. Extrem rau, fordernd, unheimlich technisch. Ein Extrem für sich. 140km und +/- 9500 mtr.
Die Organisation ist für eine Premierenveranstaltung top. Mit Hilfe von Sponsoren, viel erfahrenen Läufern und einer Marketingagentur, welche auch u.a. für UTMB und LUT zuständig ist, geht alles seinen Lauf, wie bei jahrelangen Laufevents. Ich fühle mich hier gut aufgehoben, von der Startnummerabholung, dem Briefing bis hin zu den vielen Stationen mit Helfern. Hier kann man den Italienern nur das größte Lob aussprechen.
Das Wetter: Ja, das spielt dieses Jahr einigen Laufveranstaltungen nicht so ganz in die Karten. Auch beim OUT sind die Veranstalter permanent gefordert. Nach 30 Laufstunden muss ein Rennabbruch wegen erneuter Unwetter ausgesprochen werden. 41 Finisher über 140km zählt der 1.Orobieultratrail bei 245 Startern. Das ist eine Quote, mit welcher man sicherlich nicht rechnete.
Aber der Lauf wurde gebeutelt durch zwei Regenfronten und die sind in gewissen Höhenlagen nicht gerade förderlich. Aber er ist ein wunderschöner Lauf. Es gibt so viele Highlights zu entdecken. Die Bilder und die persönlichen Eindrücken spiegeln es wieder. Man sollte jedoch bestens vorbereitet und schwindelfrei sein, Gratwanderungen mögen, Wegbeschaffenheiten mit Ketten und Seilen beherrschen und auf sehr anspruchsvollen Untergrund laufen können. Ein Lauf mit sehr viel Potential. Der OUT zählt für mich zu den ganzen großen Erfahrungen.
Gewonnen hat auch jemand:
Bei den Männern Marco Zanchi aus Bergamo in 23:38 Std:min,
bei den Frauen Lisa Borzani in 28:07 Std:min.
Schlußsatz: nach 3 Tagen Wundenlecken, Erlebnisse verarbeiten, Analyse der eigenen Laufsituationen und diversen Fragen kann ich doch schon wieder sagen: Der OUT hat was, vielleicht komme ich wieder - der Kampfgeist ist da!