Wer eine direkte Qualifikation für den Hartrock 100 oder den UTMB braucht, der sollte den Fiord Ultra Trail in Patagonien laufen, dessen Namensgebung eine Untertreibung ist. Auch wer seine Gesundheit aufs Spiel setzen will und keine Ansprüche bezüglich der Orga hat, der ist bei dem Rennen, das einem Überfall ähnelt, goldrichtig.
250 Kilometer nördlich von Puntas Arenas in der Provinz Ultima Esperanza (Letzte Hoffnung) liegt in der Stadt Puerto Natales das Veranstaltungszentrum des Ultra Fiord Race. Es werden 100 M, 100 K, und kürzere Strecken angeboten. Gerald, Alterskategorie Condores, und ich, Kategorie Zorro (Fuchs), wollen die 100 Km Strecke mit 4700 hm bewältigen.
Das Laufgebiet ist extrem, der Startpreis auch. Dafür gibt es angeblich einen Helikopterflug, sollte man abbrechen. Für die Anmeldeprozedur investiert man mehrere Stunden. Die Korrespondenz mit der Organisation ist erstklassig, der 56seitige „Runners guide“ lässt keine Fragen offen.
Nach 24 Stunden landen Gerald und ich in Santiago de Chile, Weiterflug nach Puntas Arenas. Dann mit dem Auto nach Norden. Nandus, Guanacos, Flamingos, Gänse, Ibisse. Gauchos, die Schafherden treiben. Touris, die auf der Straße liegend die Weite fotografieren. Dann rücken die „Cuernos“, die berühmten Hörner des Paine-Massivs ins Blickfeld. Unser Trailrevier liegt vor dem Nationalpark Torres del Paine („Türme des blauen Himmels“), drei nadelartige Granitberge, die vom Meeresspiegel direkt 3000 Meter in die Höhe schießen. Für die Querung des Chacabuco-Gletschers am Cerro Tenerife (Nacken des weißen Berges) brauchen wir Spezialausrüstung, denn dort oben ist letztes Jahr ein Läufer krepiert.
In Puerto Natales ankommen, wimmelt die Stadt von Läufern. Der Verticales findet gerade statt. Jeden Tag findet ein Lauf statt, es sind Punkt-zu-Punkt Läufe, die im Prinzip auf Teilstrecken des 100 Meilen Kurses stattfinden. Jeden Tag werden die Strecken länger, bis hin zu den langen Läufen am Wochenende. Zwischen den Läufern sind Abenteurer, die gerade aus dem Nationalpark kommen. Man erkennt sie am Geruch, dem „Spirit of the Nature“ .
Puerto Natales (Heimathafen) wurde von deutschen Schafzüchtern gegründet, von Kriminellen und Verzweifelten, an denen der Wohlstand der Gründerzeit vorbei gegangen ist. Schlachthöfe, Fischfabriken, Wellblechhütten, Kneipen und Bordelle. Mord und Totschlag waren normal, beliebt war das Robbenwettschlachten. Immer noch besteht der Ort hauptsächlich aus Wellblechhütten mit Hostels und Läden für Farmbedarf. Der Übernachtungsgast muss regelmäßig sein Zimmer verlassen, dann kommt der Kammerjäger: „ You have to protect your touthbrush from the insecticides!“
Mit einem Bergführer planen wir den Aufstieg in das Badertal zwischen die Türme. Doch zunächst müssen wir den Lauf überleben.
Der Zeitunterschied zu Deutschland: - 5 Stunden. Auf Sommerzeit wird im August umgestellt. So zeitaufwändig, wie die Anmeldungsformalitäten ist das Pflichtprogramm, das täglich an verschiedenen Orten abgehalten wird. Ganz oben steht natürlich die Kontrolle der Ausrüstung. Im Briefing geht es lange um das Risiko der Unterkühlung, noch einen Toten will man hier nicht haben. Von 100 km/h Wind redet man.
Am Donnerstag fahren die 70 Kilometer-Läufer mit dem Schiff drei Stunden zum Start unterhalb der Cornes. Dort angekommen, wird der Lauf abgesagt. Sie fahren wieder drei Stunden zurück, sollen morgen mit uns zusammen starten. Abends wird uns über FB mitgeteilt, dass die Gletscherroute für alle Läufe gesperrt ist, die 100 Meiler, 100 Kilometer und 70 Kilometer starten gemeinsam. Fragen, ob man nun die Crampons, die Gletscherkrallen mitnehmen muss, werden nicht beantwortet.
Freitag 6:30 Uhr. Busse sollten uns nach Puerto Bories bringen, das aus einem riesigen Schlachthof mit Postoffice und Radiostation gebildet wird. Wir sollten eigentlich mit dem Schiff über den Fiord Ultima Esperanza nach Norden fahren.
Stattdessen fahren wir zum Hotel Serrano. „Serrano“ bedeutet eigentlich „Berg“. Dieses Hotel ist aber nach dem Kapitän Serrano benannt, der eines der Schiffe der Flotte von Ferdinand Magellan befehligte. Er entdeckte den gleichnamigen Fluss auf der Suche nach der Passage in den Pazifik.
Statt um 9 Uhr starten wir nach 10 Uhr. Eine Stunde Tageslicht, die uns nachher fehlen wird. Zunächst starten die 70 Kilometerläufer, dann die 100er und die 100 Meiler, denen nur 100 Kilometer zugestanden werden. Markierungen fehlen. Thomas Ernst, der Schweizer Ausnahmeathlet, läuft vorweg. Er nimmt zum vierten Mal teil. Traumhaft schön der Trail durch eine Landschaft, deren urige Bäume mit Girlanden aus Flechten behängt sind, als sei hier immer Weihnachten.
Angenehmes Auf-und Ab, mal unter Bäumen durch, mal drüber. Schlammstellen werden noch vorsichtig umlaufen, erste Bachquerungen schreiend versemmelt.
Nach etwa einer Stunde beginnt der Aufstieg Richtung Chacabuco. Der erste PAS = punto de assistencia y control ist irgendwo im Wald. Ein Kontrolleur notiert die Startnummern: „ You must request for permission to continue.“ Er nickt mir zu, ich darf weiter. Die Strecke ist super markiert, es ist die Markierung der letzten Jahre, die Plastikstöcke mit den Reflektoren bleiben einfach stecken. Aber wehe, wir lassen ein Geltütchen fallen.
2016 hatten sich zwei Läuferinnen verlaufen, sie wurden nach drei Tagen gefunden. Das Überleben in der Wildnis wird locker gesehen: Wasser gibt es reichlich, wer Hunger hat, der findet Calafatebeeren (Michay auf Chilenisch). Die kleinen Berberizen sind stachlig, wer davon isst, wird wieder nach Patagonien zurückkehren. Unterschiedliche Arten von Heidel- und Preisbeeren komplettieren das Menü.
Die Trailstrecke wurde von der Organisation vor 4 Jahren in den Wald gesägt. Es geht über privaten Grund und Boden der großen Haziendas, da vergisst man anscheinend schon mal die Genehmigung für die diesjährige Querung einzuholen. Daher gibt es Umwege. Es ist Klasse, dass es jemanden gibt, der diesen Lauf organisiert, doch das war´s schon an Leistung.
Bis jetzt erste Sahne, dieser Trail. Grandiose Blicke zurück auf den Rio Serrano mit den Türmen des Paine Massifs. Kribbeln in der Magengegend, so geil ist das. Erste Moorgebiete nimmt man noch locker, erste Schlammlöcher können auch nicht schocken. Super Stimmung unter den Läufern, wir haben Zeit für Fotos. Das Zeitlimit beträgt 35 Stunden für die 100 Kilometer. Julia, die ich vom Trail aus Kambodscha kenne, rechnet sich eine Zielzeit von 20 Stunden aus. „You ´ll never know “ raune ich ihr zu.
Der Wald besteht aus Bonsai-Buchen, mit winzigen, farbenfrohen Herbstblättchen, wie bei Hallo Kitty. Die Äste wachsen waagerecht, bilden ein dichtes Dach über uns. Im Gestrüpp blühen Fuchsien und andere filigrane Schönheiten. Auf der Kuppe empfängt uns der patagonische Wind. Brutal. Das freut die Kondore, die uns wortwörtlich ins Gesicht glotzen. Ich bin damit beschäftigt, mir warme Schichten anzulegen. Das ist nicht einfach ein Wind, das ist eine unglaubliche Kraft der Natur. Meine Finger sind gefroren. Der gefühlte Temperaturunterschied ist enorm. Im Wald warm und feucht, in exponierten Lagen eisig kalt. Der Wind kommt immer von vorne.
Die ersten Schneefelder werden begeistert begrüßt. Ich fühle mich fit, habe mir im letzten Monat sieben Kilogramm abgehungert, überhole jetzt locker einige Mitstreiter. Carsten, der Deutsche aus Rio, bleibt leider zurück, die anderen sprechen kaum spanisch, geschweige denn englisch. Etwa 5mal bin ich bis jetzt gestürzt, einmal schwer gegen einen Ast gerannt. Also genau wie bei einem normalen Wochenende in Frankfurt. 4 Stunden sind vergangen, keine Verpflegungsstation. Das eiskalte Gletscherwasser vermische ich mit den Resten des Inhalts meiner Sprite-Flaschen.
Unterhalb des Paso Byron (1240m). Der Pass ist nach dem Weltumsegler John Byron benannt. Als sein Schiff 1740 sank, kämpfte sich Byron mit 19 Männern über diesen Pass und dann durch Südamerika bis nach Rio de Janeiro. Vier Männern kamen nach vier Jahren in Rio an. Von dem Pass oben kommt die Originalstrecke über den Gletscher, sie ist nicht markiert. Mir wird klar, warum wir diese Route nicht laufen können. Fürchterliches Donnern: Eisschlag. Zwei Kondore warten auf Nahrung. Ich warte auf einen Verpflegungspunkt, nach 5 Stunden kommt der Kontrollpunkt Kilometer 20 „Chacabuco“.
Der mürrische Chileno bleibt in seinem Zelt. „Passaporte!“ Ich drücke ihm meinen Laufpass in die mit wollenen Fingerhandschuhen bewehrten Hände, er quittiert. Nix Nahrung, nix Cola. Eine Läuferin hat die Abdrücke von zwei Schlammhänden auf ihrem wohligem Hintern. Ich träume, es waren ihren eigenen Hände.
Birgit hat in ihrem Bericht vom Eco Trail de Paris von Schlamm berichtet. Was jetzt kommt, bezeichnen die Patagonier als Schlamm. Die Beine sinken komplett ein. Das mag lustig klingen, ist es aber nicht, vor allem dann nicht wenn man sogleich auf die Fresse fliegt. An den Füßen hat man das Gefühl, als laufe man über volle Babywindeln. Und so riecht es auch, wenn es einem gelingt, den Schuh wieder raus zu ziehen. Der Kraftaufwand dafür ist enorm. Ich helfe einer Läuferin ihren Schuh zu finden, sie weiß aber nicht genau, wo er stecken geblieben ist. An unseren Schuhen ist mit Kabelbinder der Ortungschip befestigt. Wir finden ihren Treter, der ein unanständiges Geräusch macht, als ich ihn aus dem Dreck ziehe. Nervige, grüne Papageien quittieren diesen Erfolg mit einem schrillen Geschrei.
Am nächsten Kontrollpunkt El Salto liegen drei Salamischeiben auf einem moosigen Baumstamm. Ich verzichte. „ No hay altra cosas?“ radebreche ich, dann reicht mir ein Helfer einen Keks. „Aqua?“- „ En el rio!“. Vom Rauch des Lagerfeuers benebelt laufe ich weiter. Normalerweise esse ich keine Gels, bringe sie von meinen Fernreisen immer zurück. Auf der Laufstrecke liegt jetzt so eine Tüte. Ich kann es nicht glauben, laufe zurück. Hurra! Sie ist (noch) nicht ausgelutscht.