Südlich des Hohen Atlas zieht sich eine kaum bekannte Bergkette 400 Kilometer nach Osten bis hinein nach Algerien: Der Jbel Saghro. Als ich vor zwei Jahren die damals noch ungeteerte Straße durch das Gebirge fuhr, bat ich Lahcen Ahansal, er möge hier einen Lauf veranstalten. Da grinste er mich an, denn die Planung für den Lauf war bereits abgeschlossen. Die Saghro Kette ist das Winterquartier der Ait Atta, dem wehrhaften Berberstamm, zu dem Lahcen gehört.
Startpunkt des Trails ist in der Herberge Bassou bei N’Kob, etwa drei Stunden östlich von Ouarzazate, der Stadt des Marathon des Sables. Zum ersten Mal sehe ich das Solarkraftwerk, das uns eine Milliarde Euro gekostet hat, in Betrieb: Halogene Wesen aus verdichteter Luft und Salzkristallen schweben wie Gespenster göttlich-unnatürlich um den Turm, durch den 450 Grad heiße Luft schießt. Drei Stunden lang wird jetzt Strom produziert. Die restlichen 21 Stunden müssen die Module auf einer Temperatur von 150 Grad gehalten werden. Das wird mit 15 Tonnen Diesel erledigt. Der Emissionshandel macht das Kraftwerk, dessen Strom nicht verwendet wird, so lukrativ, dass der Michel eine weitere Milliarde für ein Solarwerk bei Zagora genehmigt hat.
Ich bin zusammen mit Uwe unterwegs, unser Fahrer Jamal stammt aus Zagora. Kleine Trainingstouren durch die Dadesschlucht bereiten uns auf den 70km-Trail vor. N’Kob begrüßt uns mit militärischen Sendemasten. Man könnte auch glauben, sie dienen dem Handyempfang, das mit 5G läuft, doch diese Masten dienen der EU Außenverteidigung. Von der Hauptstraße aus gesehen ist N’Kob hässlich, seine wunderschönen 52 intakten Kasbahs sieht man von der Palmerai aus, dem Palmenhain am Trockenfluss Taoudacht. N’Kob wird vom Berberstamm der Ait Atta bewohnt, die mit hohen Verlusten gegen die französische Kolonialherrschaft kämpften. Mike Batt hat in seinem Lied „Ride to Agadir“ dem verzweifelten Kampf der Großväter der Ahansal-Brüder ein musikalisches Denkmal gesetzt.
Mir wird man kein Denkmal setzen, ich habe Gallenkolik. Seit 30 Jahren habe ich den Stein, gerade jetzt verstopft er den Gallenausgang. Schüttelfieber und Phantomschmerzen in jedem Knochen. Oder ist es Malaria, die ich mir letzte Woche eingefangen habe? Oder das Zeug aus China?
Am Vorabend der Erstaustragung des 70 Kilometer langen Saghro Trails wird entschieden, ob nonstop, oder in Etappen von 25 + 45 Kilometer gelaufen wird. Katharina will nonstop laufen, der Marokkaner, der mich seit Jahren kennt und an dessen Namen ich mich bestimmt erinnere, der auch. Der Rest der Läufer will genießen, also 25 + 45. Die Schlafräume der Herberge werden automatisch nach Deutsch, Marokkanisch, und Marokkanisch-Profi aufgeteilt. Man trifft sich zum nächtlichen Pinkeln vor der Tür, mit der anderen Hand kann man auf eine der zahllosen Sternschnuppen zeigen.
1. Etappe 25 Kilometer, 1000 Hm
Lahcen ist ein liberaler Veranstalter: Vorschriften, Cut-Off Zeiten, Ausrüstungskontrolle? Wir alle sind erwachsene Läufer! Um 8 Uhr geht’s los. Erstmal muss Lahcen diejenigen Leute begrüßen, die keine 200 Meter zu Fuß gehen können, aber wichtig für die bürokratische Unterstützung dieses Laufes sind. Hier wird statt Tamazight Tachelit gesprochen. Woher ich das weiß? Ich hab´s gelesen.
300 Meter „Piste“ bedeutet eine 300 Meter lange Schotterstrecke. Hm. Ich habe meine ältesten Schuhe, obwohl noch laufbar, in Sao Tome gelassen, weil mir deren Geruch zuwider war. Jetzt habe ich frische Schuhe, aber sie werden diese 70 Kilometer nicht überleben. Das Gebirge besteht aus scharfkantigem Vulkangestein, das auch nach Jahrmillionen seine Schärfe nicht eingebüßt hat, oben drüber ist jüngerer Sandstein, der in bizarren Felsformationen erhalten geblieben ist.
Die ersten Kilometer führen uns von der Herberge in Bassou unterhalb der Pitons du Sagrho durch das grobsandige Flussbett des Taoudacht. Das Wasser ist flach, verzeiht Trittfehler. Die salzweißen Steine geben guten Gripp. Leider hole ich Zineb ein, und die versucht mir ein morgendliches Gespräch aufzudrücken. Zu uns gesellt sich noch das Besenmaultier, das auch nicht den Mund halten will. Ich versuche abzudampfen.
Ganz einfach ist das nicht, der gesamte Bauch, davon habe ich reichlich, ist wegen der Gallenkolik entzündet. Das Atmen fällt schwer. Ich versichere, es sind 1000 Höhenmeter auf 25 Kilometern. Der deutsche Club wird nachher von 30-32 Grad berichten. Das stimmt und hört sich tödlich an, ist aber in dieser Höhe von 1700 Metern eher als angenehm zu werten. War die letzte Nacht in der Herberge noch relativ warm, so habe ich Muffensausen vor der nächsten Nacht, wenn wir ohne Decken auf dem nackten Boden schlafen müssen. Ryanair hat halt Gepäckvorschriften, ich komme damit klar.
Beim ersten VP, hinter der Lehmstadt Handour, gibt es Wasser, Datteln und Orangen. Hier kann ich Zineb und das Maultier loswerden, das macht meinen Lauf sehr viel ruhiger.
Der folgende Aufstieg führt uns zu ersten spektakulären Felsformationen, die mich an meine Traumheimat Arizona erinnert. Bab N`Ali heißt diese Formationen, übersetzt: Tor zu Al. Zur Erinnerung: Al Bundy brachte 1966 mit 4 Touchdowns die Pulk High School Panthers zur Stadtmeisterschaft!
Mein Organisationstalent verhilft mir zu drei Dosen Bier am zweiten VP. Wer jetzt einwendet: „Öh, der Joe wieder mit seinem Bier“, dem sei gesagt, dass mein DNF letzte Woche bei den 200 Kilometern in São Tomé tatsächlich auf die künstliche Zitronensäure in den ISO-Pulvern zurückzuführen ist. Ist halt nicht gut für die Galle. Die Orangen und Bananen, die angeboten werden, sind eine Wohltat. Die Datteln kommen aus Zagora. Höchste Qualität: Ohne den uns bekannten Zuckerüberguss sind diese Früchte nicht klebrig sondern wunderbar knackig und mindestens zwei Jahre haltbar.
Ich könnte jetzt von meinem einsamen Kampf gegen die brennende Sonne, die brutal scharfen Steine und die grausame Steigung erzählen und davon, wie ich jeden Schritt in der Galle spüre. Da entdeckt mich der kleine Junge, der zur Schule muss. Wie in Afrika üblich, will sich der Knilch mit mir messen. Yepp, das macht Spaß.
In den tief eingeschnittenen Tälern blühen die Mandelbäume. Der saftig grüne Weizen ist schon 20 Zentimeter hoch, die Hennapflanzen stehen dicht an dicht in kleinen Parzellen. Der Farbkontrast zwischen dem Blau des Himmels und dem Grün der Pflanzen ist genial.
Oben am Pass dominiert die Farbe des Sandsteins. In einer Höhe von fast 2000 Metern leben Menschen. Ihre niedrigen Hütten sind farblich kaum von den Felsen zu unterscheiden. Man bietet mir Wasser an, aber ich nehm’s lieber nicht. Bald sehe ich die weißen Zelte, die unser Camp bilden. Ein Klozelt wird von zwei Duschzelten flankiert. Die Dusche funktioniert so: Man holt sich vom Tanklaster ein, zwei Eimer Wasser und kippt sich die über den Kopf. Das Klo funktioniert so: Deckel auf, Deckel zu.
In den Nomadenzelten liegen die zukünftigen marrokkanischen Spitzenläufer und dösen. Drei blutjunge Nomaden verkaufen kleine Basteleien aus gefärbter Wolle. Edle Gesichter, fantastische Zähne, gepflegte Kleidung. Ich deute an, dass ich ein Foto von ihnen machen will, sie schütteln mit dem Kopf. Sympathische Leute, die heute auch mal Geld verdienen.
Mustafa kommt mit dem Pickup angedüst: Essensausgabe! Gekocht wurde irgendwo in einem Dorf, wir sind bestimmt 60 Personen, die versorgt werden müssen. Heute Abend gibt’s vegetarisch, die hiesigen Gemüsesorten sind ein wahres Geschmackserlebnis. Mustafa veranstaltet eigentlich Raftingtouren im Hohen Atlas. Die Saison beginnt wieder in wenigen Wochen und dauert bis in den Mai.
Wir sitzen am Lagerfeuer und starren in die Glut. Die Marokkaner tanzen und trommeln. Einer kann wunderbar auf der Flöte spielen, alle Achtung!
2. Etappe 45 Kilometer, 800 Hm
Ich hatte meine warme Jacke im November bei Lahcen in der Wohnung vergessen. Ohne diese Jacke wäre ich heute Nacht (1700 m) erfroren. Ein Rumpeln, ein tierischer Fluch: Uwe ist über eine der zahlreichen Steinpyramiden gefallen. Ich bin noch nicht wach, da laufen mir schon die Tränen runter. Dann noch seine Versuche, die Pyramide zu reparieren. Hahahaha.
Es gibt Emmentaler zum Frühstück! Acht Jahre habe ich dafür gekämpft, endlich hat mich Lahcen erhört und lässt nicht mehr diesen unsäglichen „La Vache qui rit“ servieren. Der wurde im ersten Krieg für die französischen Soldaten entwickelt, ein Schmelzkäse, der nicht vergammeln kann, weil er eh tot ist. Damit der von den Soldaten gegessen wird, nannte man ihn „La Walkürie“ in Anspielung an unsere proppere Germania.
Es gibt auch Cornflakes und Joghurt, Bananen, Orangen. Mir reicht Emmentaler und viel Kaffee. Ein glücklicher Morgen! Das merke ich spätestens nach den ersten Schritten: Der Bauchraum schmerzt nicht mehr bei jedem Schritt, ich kann mich jetzt fast im Mittelfeld der Bande halten.
Eine junge Frau fragt mich, ob ich Cola kaufen möchte. Ich bin erstaunt, dass die Halbnomaden Französisch sprechen. Die nächsten Stunden bin ich damit beschäftigt, den Selbstauslöser meiner Kamera zu testen. Ich liebe zerfurchte Tafelberge, sie geben Orientierung und ein Gefühl der Geborgenheit. Die Dinger werden noch da stehen, wenn wir ausgestorben sind, oder auf dem Mars wohnen.
Vor mir liegt nun der Horseshoe Bend, dieser aber ist nicht in Utah, sondern in Marokko. Und er ist quitschgrün. Am Ende eines Flusstales sehe ich ein Auto, da muss ich also hin. Eine junge Feldarbeiterin protestiert, diskutiert energisch (wohl auf Tachelit). Sie gewinnt glücklicherweise, läuft vor mir, zeigt mir den richtigen Weg, von dem ich sehr weit abgewichen bin. Es tut mir leid, durch die Weizenhalme latschen zu müssen, aber ich muss an ihr dran bleiben. Es ist das zweite Mal heute, dass mir jemand den Weg zeigen muss. Die Leute hier sind aber auch wirklich auf Zack: „Shukraan, shukraan“ sage ich dankbar, die junge Dame war sehr hilfreich.
Wenn es nicht über Berge geht, dann geht es durch Flussbette. Grundsätzlich ist ein Flussbett mit großen Steinen und Pfützen ein lustiger Spielplatz - wenn man jung ist. Mit jedem Kilometer werde ich jünger. Um es nochmal klar zu machen: Ich habe den ganzen Tag Zeit zum Spielen, es gibt keine Cut-Off-Zeiten! Ich beobachte, wie die verschiedenen Entwicklungsstufen der Frösche die Mückenlarven vertilgen. An den Felsen kleben Schneckenarten und Libellenlarven in ihren Köchern, die versuche ich mit Stöckchen zu ärgern. In tieferen Pfützen tummeln sich Fische der Gattung Salmer. Oft muss man zwei, drei Meter Höhe überwinden, ehe man einen Tritt findet. Als Bruchpilot mache ich das sehr, sehr langsam.- Ich habe mal gehört, in Deutschland nennt man einen Lauf „Trail“ wenn es über Feldwege oder Almwiesen geht. Schitt, mein Hoka ist über mir hängen geblieben, mein Fuß glücklicherweise in meiner Nähe.
Die Abwechslung von Fluss, Berg, Steinwüste, Sand und grünen Tälern macht Freude. Als ich mal wieder auf einem Berg bin, fallen mir sogleich Abraumhalden auf: Baryt, wird auch Schwerspat genannt. Der Müller mischte es früher ins Mehl um seine Kunden zu betrügen. Ein kleiner Klumpen Baryt wiegt fast so viel wie Gold, und danach wird hier gesucht. Ein Schacht führt senkrecht nach unten, der war/ist wohl lukrativ. Das Baryt der Abraumhalden wird von Kupferverbindungen in Grün und Blau durchzogen. Dazwischen glitzert Pyrit, Katzengold. Wer hier oben im Dunkeln rumtabbt, der sollte einen guten Schutzengel haben.
Als es gaaanz tief in das nächste Tal geht, mache ich keine Fotos, die Lumix ist zwischen meinen Zähnen, die Hände sind in die Felslücken gekrallt. Skorpione, die gibt es hier, die großen schwarzen und die kleinen weißen. Egal ob schwarz oder weiß, wird man gestochen, muss man ins Krankenhaus und den Rückflug verschieben. Schlangen und Spinnen zeigen sich erst im Hochsommer, wenn wir in Europa laufen.
Im Tal angekommen, geht es schon Richtung N´Kob. Eine normale Schotterstraße, links und rechts unter Folie zeigen sich die Keime der Wassermelonen. In wenigen Wochen rumpeln wieder 500 Laster täglich über den Hohen Atlas, um Melonen aus der Sahara nach Europa zu bringen. Die Erbsenpflanzen sind jetzt 1,5 Meter hoch, die Schoten prall gefüllt, so wie die Kipper, die riesigen Lastwagen. Hier kommt der Kobaltflöz von Tiouit an. Der Kipper ist aus Australien, rechtsgesteuert, der Fahrer beugt sich raus und meint, ich sei verrückt. Dafür kann ich laufen, noch nicht perfekt, es wird aber wieder.
Schon bald sehe ich die Funkmasten von N´Kob. Schnell durch das felsige Flusstal und hinein in die Welt der 52 Kasbahs. Der Zieleinlauf ist große Klasse, denn fast alle der 4000 Einwohner sind hier versammelt. Ok, es sind etwa 100. Schnell erhalte ich einen Ehrenplatz im Beduinenzelt hinter dem Zielbanner. Ich befinde mich in einer Art Amphitheater, das von den riesigen Lehmbauten der Kasbahs gebildet wird, auf den Rängen sitzen die Frauen mit ihren Kindern. Alles überlagert vom Wummern der Trommeln. Sehr gut.
In der Kasbah Imdoukal empfängt mich der Duft gegrillter Zicklein, die werden in einem zylinderförmigen Ofen über Holzkohle gebraten. Die einheimischen Läufer geben mir gerne von dem knusprigen Fleisch.
Nächste Austragung des Sagro Trails: 25.-28. Februar 2021
Informationen beim Autor
In 14 Tagen berichtet Joe aus Zagora über den Ultra Trail Eco Sahara (110 km).
Das Programm für den Zagora Ultra über 52 Kilometer, samt Aufstieg zum Toubkal (4167 Meter) im November (03.11-12.11.2020) ist online:
https://www.interair.de/marathon-reise/zagora-sahara-trail-2020/