Das Mittelrheintal zwischen Bingen und Bonn ist eine der schönsten Regionen Deutschlands und zählt seit 2002 zum UNESCO-Welterbe. Millionen Besucher aus der ganzen Welt reisen hier her. Nahe der berühmten Loreley dürfen nun auch wir Läufer diese herrliche Landschaft genießen.
Ein Trail-Wettkampf mit knapp 3,5 km Streckenlänge und 185 Höhenmetern klingt recht entspannt. Doch wir laufen diese Runde nicht nur einmal, sondern 24 Stunden lang so oft wie möglich. 10, 20 oder 30 Mal steil bergauf und bergab wird sehr, sehr anstrengend! Aber anders als bei einem Start-Ziel-Lauf drängen bei Rundenläufen keine Cut-Off-Zeiten. Marathon-Sammler können auch „nur“ 13 Runden laufen. Und selbst wenn man nur eine einzelne Runde gemütlich wandert, zählt man als Finisher. Ergänzend zu den Einzelstarts kann man sich auch als Zweier-Team anmelden.
Am Freitag fotografiere ich vom Dreiburgenblick die Aussicht hinüber zur Laufstrecke. Bild 1 zeigt ganz links oben die Scheinwerfer am Sportplatz, wo wir starten, ganz rechts unten ist St. Goarshausen.
Am Samstagmorgen bauen manche Läufer am Parkplatz vor dem Schul- und Sportzentrum im Ortsteil Heide eigene Pavillonzelte auf, doch auch im Start-Ziel-Bereich stehen genügend Zelte. Hier oben kann man in den Laufpausen mit schöner Aussicht zur Loreley und auf den Rhein rasten. Überraschend viele der angemeldeten Teilnehmer sind nicht gekommen. Insgesamt starten nun 52 Einzelläufer und 3 Teams.
Wenige Minuten vor dem Start erzählt uns Veranstalter Alex Holl etwas über die Strecke. Dann begrüßt uns auch der Bürgermeister von St. Goarshausen. Pünktlich um 10 Uhr geht es dann los. Ich lasse allen, die es eilig haben, genug Vorsprung. Viele von ihnen werde ich irgendwann einholen und überrunden.
Gleich nach dem Start kommen wir an zwei Aussichtspunkten mit herrlichem Blick zur Burg Katz und nach St. Goarshausen und St. Goar vorbei. Dann laufen wir schnell durch wunderschönen Wald bergab. Die erste Hälfte der Abstiegsstrecke kann man einigermaßen gut laufen, danach folgen immer wieder teilweise steile Treppen. Neben dem Weg blühen viele Blumen, Sträucher und Bäume. Obwohl wir an der um 1371 erbauten Burg Katz (eigentlich Burg Neu-Katzenelnbogen) vorbeilaufen, sieht man von dem Gemäuer an diesem Streckenabschnitt nur wenig. Die Burg ist in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden.
Die Höhenmeter verteilen sich nicht gleichmäßig auf die gesamte Strecke. Beim Abstieg geht es auf 1,3 km 170 Höhenmeter bergab, beim Aufstieg mühen wir uns auf 850 m 175 Höhenmeter bergauf, dazwischen bieten der völlig flache Abschnitt unten am Rhein und der fast ebene Teil im Ortsteil Heide Gelegenheit für schnelleres Tempo. Obwohl nur wenige Prozent der Gesamtstrecke über Treppen führen, prägen diese den sportlichen Charakter. Gut, dass ich in den letzten Wochen Treppensteigen geübt habe.
Am Marktplatz von St. Goarshausen wird die Zwischenzeit gemessen. Kurz laufen wir durch die sehr ruhige Fußgängerzone, dann etwa 300 m neben der Bundesstraße am Rhein entlang.
Durch eine schmale Unterführung passieren wir die Bahnstrecke. Schon beginnt der Aufstieg. Auch hier wechselt die Strecke oft zwischen einigermaßen moderat und steilen Treppen. Im unteren Abschnitt begeistern mich die Aussicht auf den Rhein und St. Goarshausen sowie die Vegetation und die alten Steinmauern. Früher wurde auch hier Wein angebaut, aber inzwischen holt sich die Natur ihr Revier zurück.
Dann steigen wir wieder durch lichten Wald bergauf. Hier belohnt uns intensives Vogelgezwitscher für unsere Anstrengung. Kurze Zeit laufen wir über blühende Wiesen, dann noch einmal kurz durch den Wald. Im Ortsteil Heide können wir eine Weile mit minimalem Gefälle etwas schneller laufen oder uns vom Aufstieg erholen. Als ich nach meiner ersten Runde wieder am Start-Ziel-Bereich ankomme, ist der Bürgermeister noch immer da und plaudert mit Läufern. Man merkt, dass dies nicht nur ein PR-Besuch von ihm ist, sondern echtes Interesse dahintersteckt.
Die erste Runde lege ich trotz vieler Fotostopps schneller als geplant zurück. Ich trinke nur etwas Kaffee und laufe dann gleich weiter.
Obwohl viele Freunde aus meinem Verein sehr gerne bei 24-Stunden-Läufen starten und von der besonderen Atmosphäre dieser Art von Veranstaltung schwärmen, hatte ich bisher keine Lust darauf. Doch als ich die Ausschreibung zu dieser Strecke mit sehr anspruchsvollem Trail-Anteil und in herrlicher Landschaft las, wusste ich sofort, dass der Tanz in den Mai für mich wie maßgeschneidert ist und ich hier die 24-h-Lücke in meiner Läuferbiographie füllen kann.
Bei wohl allen anderen 24-h-Läufen haben die Teilnehmer die Strecke fast für sich alleine. Aber hier laufen wir auf einer äußerst beliebten Wanderroute. Alex weisst uns ausdrücklich darauf hin, dass wir auf den schmalen, steinigen Pfaden mit viel Gegenverkehr rechnen müssen. Doch das sehr trübe Wetter mit nur 8 bis 14 Grad hält heute wohl viele Leute vom Wandern ab. Die meisten wandern ohnehin nur morgen am Maifeiertag. Die wenigen Wandergruppen, denen wir begegnen, marschieren brav im Gänsemarsch, so dass wir überall problemlos voran kommen.
Da die Hälfte unserer Strecke auf dem Rheinsteig führt, einem der beliebtesten Fernwanderwege Europas, treffen wir natürlich auch einige Etappenwanderer. Bei meinem 10.000 km Deutschland-Wanderer Projekt war ich hier im Rekordsommer 2019 unterwegs. 41 Grad auf schattenlosen Weinbergen - da ist mir das kühle Wetter heute deutlich lieber. Zum Glück bleibt der angekündigte Regen aus, denn die Schiefersteine am Boden werden bei Nässe recht rutschig.
Beim Gedanken an Rundenläufe graute mir immer vor der Vorstellung, ein paar Dutzend Mal an den selben öden Stellen vorbeizukommen. Hier gibt es dagegen keinen Abschnitt, den ich nicht mag. Ich kann mich bei jeder Runde schon auf die nächste freuen. Natürlich ergibt sich bald ein gewisses Deja-Vu-Gefühl, wenn ich schon wieder unter dem blühenden Flieder hindurch laufe, erneut zwei besonders steile Treppen hinauf steige, wieder am Café Loreley vorbeikomme, aber besonders krass wird es, als in der siebten Runde schon zum vierten Mal an fast genau der selben Stelle eine Maus vor mir über den Weg rennt.
Die Verpflegung ist mehr als nur hervorragend. Zusätzlich zur enorm vielseitigen Auswahl der üblichen Sachen von Kartoffeln mit Salz, Süßigkeiten und Gesundem bis zu verschiedenen Kuchen und belegten Broten gibt es immer wieder Sonderaktionen. Mal werden wir mit frisch gebackenen Waffeln mit Sahne und Puderzucker verwöhnt, mal mit Pasta, mal mit Kartoffelsuppe oder am Morgen mit Rührei. Auch Veganer können hier zufrieden sein.
Bei einem Rundenlauf muss ich natürlich anders als bei normalen Ultratrails keinen Rucksack tragen, da ich nach etwa 45 Minuten immer wieder zum Parkplatz mit meiner Wechselbekleidung und zur Verpflegungsstelle komme. Auch die Kamera trage ich dieses Mal nur bei einem Viertel der Runden mit mir. Egal ob man ohne Pause durchläuft, sich eine Weile an der VP aufhält oder dazwischen sogar mal einige Stunden schlafen geht, endet jeweilige Runde erst nach Überschreiten der erst hinter der VP liegenden Zeitmessmatte.
St. Goarshausen wurde 1222 erstmals urkundlich erwähnt. Schon Anfang des 14. Jahrhunderts wurde hier Weinbau dokumentiert, bereits damals auch der heute für das Rheintal typische Riesling. Im 30jährigen Krieg waren St. Goarshausen und das gegenüberliegende St. Goar stark umkämpft und zeitweise belagert. Im Hessenkrieg 1644-48 wurden die Städte erneut belagert. Am Ende der kleinen Fußgängerzone laufen wir am Eckigen Turm vorbei, der einst Wehrturm und Zollstation für die Rheinschiffer war und heute als Wein- und Stadtmuseum dient.
Alex Holl verbindet seine Veranstaltungen gerne mit Benefizprojekten. Heute ergänzen wir die sehr niedrige Startgebühr durch 1,50 Euro Spende pro gelaufener Runde für einen guten Zweck. Alex organisiert einige reale Läufe, darunter einen Backyard, dazwischen auch virtuelle Challenges. Als 2020 wegen der Pandemie meine beruflichen Einnahmen und Zukunftsperspektiven schlagartig auf Null sanken, rettete mich seine Online-Challenge, bei der ich innerhalb von 111 Tagen 42000 Höhenmeter lief und wanderte, aus meiner mentalen Krise. Zuletzt erzielte er mit einer Online-Challenge insgesamt netto fast 150.000 Euro Spendengelder für Kriegsopfer in der Ukraine.
Nach einem sehr trüben Tag dringt ab 19:30 Uhr doch noch die Sonne durch die Wolken. Bei Sonnenschein sieht der Wald gleich noch viel schöner aus. Ich genieße das weiche Abendlicht und bleibe immer wieder zum Fotografieren stehen. Inzwischen liegt schon mehr als ein Marathon mit über 2000 Höhenmetern hinter mir und ich fühle mich nach wie vor fit. Unterwegs begegne ich jetzt deutlich weniger Teilnehmern, da manche schon auf dem Heimweg sind und nun den schönsten Teil des Tages verpassen.
Um 20:45 Uhr geht die Sonne unter. Ich liebe den Wechsel des Lichts zwischen den letzten bzw. ersten Sonnenstrahlen, der Dämmerung und der völligen Dunkelheit. Eine weitere Runde komme ich nun noch gut voran, ohne die Stirnlampe einzuschalten. Bei meiner 16. Runde könnte ich ohne Lampe aber unmöglich laufen.
Da ich auf der Suche nach neuen Erfahrungen bin, beschloss ich bereits bei der Anmeldung, heute erstmals nicht die ganze Nacht durchzulaufen sondern auszuprobieren, ob mir dazwischen einige Stunden Pause helfen. Gegen 22.45 Uhr verlasse ich daher wie geplant die Strecke und starte erst 4:14 Uhr zu Runde 17. Wie erhofft fühle ich mich nun wieder deutlich fitter als zuvor und habe keine Probleme wegen steifer Muskeln. Nach wenigen hundert Metern laufe ich wieder flott bergab. Noch ist es völlig dunkel, doch während der nächsten Runde wird es dann schon fast von Schritt zu Schritt heller.
Das Vogelzwitschern im oberen Teil der Aufstiegsroute gefiel mir bereits gestern sehr gut, doch so viele Vögel gleichzeitig wie heute vor Sonnenaufgang habe ich wohl noch nie im Leben gehört. Schon alleine dafür lohnte es sich, früh auf die Strecke zurückzukehren.
Kurz nach 6 Uhr geht die Sonne auf. Sobald es hell ist, rast auch schon wieder André Birnbaum an mir vorbei. Dieser Zwölfjährige begeistert uns alle. Er ist als Team mit seinem Vater angetreten, läuft nun manchmal auch alleine und steht am Schluss mit 42 km und 2280 Höhenmetern in der Ergebnisliste. Ich bin sicher, dass wir ihn in den nächsten Jahren noch oft sehen werden.
Bei der Anmeldung hatte ich mir 20 Runden als ehrgeiziges Ziel gesetzt, vor einigen Wochen aber auf 22 Runden erhöht, um die 4000 Höhenmeter zu knacken. Als ich Runde 20 beende, fühle ich mich nun noch fit und hätte genug Zeit, sogar 23 Runden zu schaffen. Doch wen interessiert es, ob ich eine Runde mehr oder weniger laufe? Daher beschließe ich, die letzten beiden Runden weiterhin ohne Zeitdruck zu genießen.
Eine Dreiviertel Stunde vor Zielschluss beende ich Runde 22. Da in der offiziellen Ergebnisliste die Runden sogar mit 190 Höhenmetern gewertet werden, kamen bei mir nun 77 km mit 4180 Höhenmetern zusammen.
Eine Weile bleibe ich noch oben im Zielbereich stehen, doch da ich inzwischen meine gesamte warme Wechselbekleidung „verbraucht“ habe, kann ich nun nichts mehr trockenes anziehen. Ich friere und will mich nicht erkälten. Deshalb warte ich nicht die Siegerehrung ab und mache mich auf den Weg zum Quartier. Deshalb verpasse ich, wie den Siegern eine momentan besonders begehrte Rarität überreicht wird: eine Flasche Sonnenblumenöl.
Die schnellsten Männer sind Marcel Bilek mit 36 Runden, Patrick Obert mit 32 Runden und Achim Rhein mit 30 Runden. die schnellsten Frauen Karina Boppre mit 27 Runden, Claudia von Weber mit 24 Runden und Alena Maria Pantis mit 23 Runden.
Am nächsten Morgen scheint bei warmem Frühlingswetter die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Vom gegenüberliegenden Ufer fotografiere ich noch einmal einen Teil der Laufstrecke. Hier erkennt man den Höhenunterschied besonders gut. Rechts oben sieht man auf dem Bild die Scheinwerfer am Sportplatz. Nächstes Jahr findet der Tanz in den Mai wieder statt, dann hoffentlich mit mehr Teilnehmern und sehr gerne auch wieder mit mir.