Im Golf von Guinea liegen die beiden Inseln São Tomé und Príncipe (STP). Der winzige Staat liegt zwischen den ehemaligen Deutschen Kolonien Togo und Kamerun. Deutschland und England hatten 1913 einen Vertrag unterzeichnet, wonach STP dem Deutschen Reich zufallen, sollte Portugal nicht seine Schulden an Deutschland zahlen können.
1471 entdeckten die Portugiesen die Inseln und nannten sie: „Sankt Thomas und Thronfolger“. 1493 kamen die ersten Einwohner, 2000 jüdische Kinder, die im Zuge der Reconquista auf der Iberischen Halbinsel nach STP deportiert wurden. Ansonsten besteht die Bevölkerung aus Nachfahren entlaufener Sklaven und Arbeiter aus der ehemaligen Kolonie Angola. 1975, nach der Nelkenrevolution in Portugal, wurde STP von Portugal unabhängig. Die DDR wollte hier einen sozialistischen Musterstaat errichten. Geblieben sind Leninbüsten, Hammer-und-Sichel-Plaketten, russische Panzer, die im Dschungel vermodern und natürlich die Brauerei, die das hiesige dünne Bier liefert. Es wird abgefüllt in alte deutschen Flaschen ohne Etikett (weiß eh jeder, was drin ist) und wird ganz simpel „National“ genannt.
Seit dem Ende der DDR gibt es kaum politischen Beziehungen zu STP und keine gegenseitigen Botschaften. Nur die deutsche Botschaft in Gabun finanziert zwei Frauengruppen auf STP. Frankreich macht es besser: Sie schicken ihre schwarzen Neubürger als Lehrer in jede Schule des Inselstaates. So bin ich erstaunt, dass die Jugend gerne französisch spricht.
Der Lauf wird von Global Limits veranstaltet: 200 Kilometer vom Norden STPs in den Süden, in 6 Etappen. Die Insel ist nicht so lang, so werden wir immer wieder hoch zwischen die Vulkankegel geleitet werden. Ziel wird auf der winzigen Ilheu das Rolas (Taubeninsel) sein, dort wo der 0-Meridian sich mit dem Äquator kreuzt.
Es gibt nur eine europäische Flugverbindung, die über Lissabon. Für Europäer ist eine Schiffsanreise nicht ratsam, im Golf von Guinea ereignen sich 82 % der weltweiten Entführungen. Nicht in der Straße von Malakka oder in der Straße von Hormus, hier im Golf von Guinea sind die Piraten am aktivsten, Mitarbeiter von Ölfirmen eignen sich gut als Geiseln. STP verkauft Lizenzen für eine zukünftige Ölförderung in seinem Hoheitsgebiet.
Mit unserer Zwischenlandung in Accra (Ghana) sind wir auf ehemaligem preussisch-brandenburgischen Boden: Von 1683 bis 1717 existierte hier die erste deutsche Kolonie, Groß Friedrichsburg.
Durchschnittlich 50 Touristen pro Woche landen in der Hauptstadt São Tomé. Wir sind alleine schon 58 Läufer, dazu Ärzte und das Helferteam. Nach uns wird der Flughafen geschlossen. In zwei Tagen gibt es wieder eine Landung, dann kommt der Flieger aus Luanda, darin Marko, der etwas preiswerter fliegen wollte.
30-38 Grad und Gewitter, wir müssen uns schnell daran gewöhnen. Erster Eindruck dieses kleinen Landes: Alles recht simpel, wie der Landesname „STP“. Die Währung Dobra ist an den Euro gekoppelt, Kreditkarten funktionieren nicht, auch nicht, wenn man noch ein Rückflugticket kaufen muss. In der Hauptstadt gibt es Geldwechsler, die erkennt man an der Bauchtasche. Der erste Tag bringt noch einen fundamentalen Eindruck: Die Leute hier sind super- super nett und fröhlich. Kriminalitätsrate: Null. Kein Ampeln, keine Verkehrsschilder, außer Halteverbotsschilder, die niemanden interessieren.
Der zweite Tag beginnt mit einem 5 Kilometerlauf durch die Stadt, an dem einige hiesige Läufer teilnehmen. Der Ministerpräsident und der Sportminister belassen es bei frohen Worten, denn 5 Kilometer bei der Hitze und den Dieselabgasen sind grausam. Start und Ziel ist das portugiesische Fort am alten versandeten Hafen. Im neuen Containerhafen baden die Bewohner der Hauptstadt.
Schnell bin ich am Ende des Läuferfeldes, werde von den Zuschauern frenetisch gefeiert, die können sich mit mir wenigstens identifizieren. Die dicken Marktweiber tanzen mich freudestrahlend an, aber ich kann nicht verweilen. Der winzige Innenhof des Forts lässt keinen Sauerstoff rein, wir sind keine glücklichen Läufer, noch nicht.
Letzte Dusche für diese Woche, dann fahren wir zu unserem ersten Camp: Roça Agostinho Neto
In Portugal ist eine Roça ein Bauernhof. Auf STP bezeichnet man so die Plantagen samt der Herrenhäuser aus der Kolonialzeit. Die Roças stehen auf der Liste der UNESCO, wir befinden uns auf dem Gelände der Nummer Eins der Liste. Die Plantage wurde 1865 für den Anbau von Kakao angelegt und erhielt zunächst den Namen Rio do Ouro, Goldfluss. Nach der Unabhängigkeit von STP (1975) wurde die Plantage nach Agostino Neto benannt, dem ersten Präsidenten von Angola. Ich will ergründen, warum 1975 und die Zeit davor und danach nicht so lustig war.
Zu einer Roça gehören Wirtschaftshäuser, Unterkünfte für die Arbeiter, Kindergarten, Kirche und oft sogar ein Krankenhaus. Das ehemalige Hospital war einst das größte der Insel, schön rosa mit einer gewaltigen Freitreppe, unser morgiger Startort. Im Herrenhaus mit dem Originalparkett sind die Moskitozelte aufgebaut, STP ist Malariagebiet. Unsere Generatoren liefern Strom, Eimer liefern Wasser für die Klospühlung. Ja, es gibt noch zwei Schüsseln aus den 70ern, nach uns sind die verstopft.
Zunächst schleppe ich mein Moskitozelt in den ehemaligen Botanischen Garten, doch dann kommt ein Gewitter auf, von nun an ist der Inhalt meiner Reisetasche nass. Auf der geländerlosen Außenveranda ist es besser, die liegt aber genau gegenüber der Disko, die in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude ist. In STP wird abends immer gefeiert, am Wochenende die ganze Nacht. Da die Moskitozelte nicht auf europäische Körpergröße ausgelegt sind, stechen die Biester in meine Füße und in meinen Kopf. Wenn ich mich anders legen will, dann beißen die großen Ameisen. Geschlafen hat heute Nacht niemand wirklich.
Júlio und Ismael sind von STP, sie werden ihren Heimvorteil bei diesem Rennen nutzen. Guillaume und Didier betreiben auf STP eine Fabrik, die Kokosnüssen verarbeitet. Fair trade. Guillaume war auf derselben Schule in Frankreich, wie ich. Die restlichen 54 Läufer sind Teilnehmer, die mehrere Rennen von Global Limits in Kambodscha, Sri Lanka, Albanien und Bhutan gelaufen sind. Dies ist ein Familientreffen, an dem ich trotz meiner einjährigen Laufpause unbedingt teilnehmen wollte.
Die gesamte Roça verfällt. In den Reihen der Arbeiterhäuser wohnen jetzt Familien. Die Wasserversorgung des Waschplatzes funktioniert noch. Die hohlen Fenster des Krankenhauses hoch über der Freitreppe mahnen uns, ja nicht krank zu werden. Die kleinen Schulkinder singen die Nationalhymne, der französische Lehrer ist sichtlich stolz. Auch Jorge Lopes Bom Jesus war Französischlehrer, studierte in Toulouse und ist jetzt Ministerpräsident. Ohne seine Hilfe könnte der Lauf nicht stattfinden. Er braucht keinen Bodyguard.
Wir laufen los, zunächst wieder die ehemalige Prachtstraße hinunter in Richtung Herrenhaus. Die Kopfsteinpflasterwege aus portugiesischer Zeit werden oft unser Laufrevier sein. Die Schienen, auf denen die Ernte in kleinen Wagons transportiert wurde, werden uns noch oft zum Stolpern bringen. Locker geht es hinab zur Nordküste zum ersten VP bei km 10. Durch die leeren Fabrikhallen von Fernão Dias laufen winzige Schweine, die wurden vor 500 Jahren auf der Insel ausgesetzt. Zwei „National“ am Straßenrand. Es entbrennt eine Diskussion mit der „Wirtin“, weil ich die Flaschen mitnehmen will. Die sind aber Eigentum der ehemaligen DDR-Brauerei und damit der Regierung.
Es geht wieder hinauf zur Roça Agostinho Neto, zunächst durch wilden Bananenstauden, dann durch Zuckerrohr, das die Hitze des beginnenden Tages zurückwirft. Die Arbeiter in den Maniokfeldern singen bei der Arbeit, schauen nicht auf, wie ich mich hinaufschiebe. Am zweiten VP überhole ich Nigel, den ich schon lange kenne. Wir werden uns noch oft duellieren. Immer höher geht es in die Berge, immer noch auf altem Kopfsteinpflaster, dann auf schmalen Pfaden durch den Regenwald, in dessen Schatten sich Kakaobäume ducken. Frauen sammeln Schnecken im Wald, es ist deren Hauptproteinquelle.
Völlig fertig komme ich im Zielörtchen Monte Café an. Ein kleines Café lädt zum weltbesten Arabica-Kaffee ein. 1000 Sack davon werden hier jährlich geerntet und in Skandinavien konsumiert. Unser Camp ist im Schulgebäude. Fünf nebeneinanderliegende Stehklos in einem Raum ohne Sichtschutz für mehr als 70 Leute. Wasser und Strom - Fehlanzeige. Dicht gedrängt schlafen wir in den niedrigen Klassenzimmern.
Bis heute ist die Roça Monte Café im Besitz des ersten marxistischen Staatpräsidenten Manuel Pinto da Costa, was die Aufmerksamkeit der Russen für diesen Berg erklären könnte. Damals wurden Flakgeschütze auf dem Berg in Stellung gebracht, man erwartete eine Invasion der Amerikaner oder der Südafrikaner.
Der Morgen beginnt für mich mit einer Tasse Kaffee. Der kommt nicht von hier, sondern vom Pennymarkt. Wir müssen uns selbst versorgen. Es gibt nur heißes Wasser, damit bereiten wir uns unsere Nahrung. Zum Frühstück gibt es bei mir Banane-Mango-Brei für Kleinkinder von der Firma aus Friedrichsdorf im Taunus. Am Nachmittag, je nachdem, wie spät ich ins Camp komme, habe ich Astronautennahrung aus Kirchentellinsfurt im Gepäck, die ich mit heißem Wasser genießbar mache. Stan und Patrick sind dafür bekannt, dass sie im tiefsten Dschungel Pizza organisieren können. Hier klappt das nicht. Ich bin bekannt für die Organisation von Bier. Glücklicherweise bringt die Küchencrew welches zusammen mit Cola ins Camp.
Start ist zwischen den Gebäuden der ehemaligen Kaffeefabrik. Wir verabschieden Søren, er hat einfach genug, er will morgen nach Hause fliegen. Dietmar legt sich 10 Meter hinter der Startlinie hin, er wird diese Etappe noch finishen, doch sein operiertes Knie zwingt ihn, die folgenden Tage an den Verpflegungsstellen auszuhelfen.
Moo Woong wird für die nächste Zeit mein Duellpartner, manchmal abgelöst von Haruki. Leicht geht es den Berg hinab. Unter den Urwaldriesen finden sich vereinzelt Kaffeepflanzen. Die Plantagen bei Karen Blixen sahen besser aus.
Eine Farmerin trägt einen Rock, darauf steht: „Junggesellenabschied ´08… Wer ist hier der Depp?“ Ich komme in ein Gebiet, in dem die Kaffeepflanzen blühen, der Duft ist himmlisch. Doch dann bekomme ich die Scheißerei. Drei Gottesanbeterinnen besteigen mich dabei. Nachdem ich die festgekrallten scharfen Insekten vertrieben habe, überhole ich noch andere Läufer, die im Dickicht hocken. Diskret schaue ich in eine andere Richtung. Deborah, Mark und Pat überholen mich. Den 80jährigen Wahlkalifornier Hans und seine Laufbegleitung Angie bekomme ich noch in Sichtweite, dann steigt aus der Magengegend die Schwäche empor. Dicke Gewitterwolken ziehen auf, es wird stockdunkel im Wald. Am VP 2 schaue ich noch glücklich aus, doch die Haut meiner untrainierten Füße löst sich ab. Eine Freude ist eine Schar Schulkinder, die mich begleiten. Die Jungs springen demonstrativ mit ihren dünnen Schlappen in jede Pfütze, wollen mich leiden sehen. Die kleinen Mädchen strahlen mich an. Ich kann nicht strahlen, müsste eigentlich in die Büsche. Ich werde definitiv morgen nicht mehr mitlaufen.
Das alte Kopfsteinpflaster führt nun zum Zielpunkt, der Pousada Bombain (Gasthaus Bombay)
Die Roça Bombain ist die abgelegenste Plantage von STP und liegt auf einer Hochebene inmitten des saftigen Urwaldes. Benannt ist die die Roça tatsächlich nach Bombay (gute Bucht) das 1534 von Portugal annektiert wurde. Längst schon gehe ich einfach durch die Pfützen durch, doch dann reißt es mich in ein tiefes Loch. Dort unten ist methanstickende Brühe, die sich in meine wasserdichten Strümpfe ansammelt. Irgendwo hier hat es auch Ingo von den Füssen geholt. Seine Kniewunde wird ihm am Ende der Tage eine schwere Sepsis bringen.
Einst war die Roça wohl ein Ort des Tourismus. Auf der einen Seite sind die stark verfallenen Wirtsschafts- und Wohnhäuser, auf der anderen das Gasthaus, durch dessen Dach es regnet. Alle Läufer reihen sich um die trockene Kochstelle, wo unser Wasser zubereitet wird. Generatoren liefern Strom, es ist hier ein bisschen wärmer. Vielleicht 24 Grad, wir frieren auf einer Höhe von 800 Metern. Pit scheidet aus, er hat die Höchstdosis Imodium nehmen müssen. Damit kann er nicht mehr laufen, das Zeug behindert den Wasserhaushalt. Das gesamte Haus steht unter Wasser, die einheimischen Helfer kämpfen gegen Flut und Dreck. In einem Nebenzimmer, das noch niemand entdeckt hat, finde ich eine Matratze mit Blümchenmuster aus den 70ern. Das wird eine traumhafte Nacht werden! Moskitozelt auf die Matratze. Gegen die Bettwanzen lege ich meine Schlafmatte über die Matratze. In der Dusche ohne Wasser klebt eine Riesenspinne. Ich finde eine andere Dusche, da gibt es Wasser, man muss allerdings über das verstopfte Klo klettern.
Ich lasse mir die zahlreichen Blasen ausdrücken. Die Zehen sind rot und geschwollen, das sieht nicht gut aus. Stinkiger Dreck hat sich während meines achtstündigen Urwaldlaufes unter die Zehennägel gedrückt. Die Socken riechen nach Verwesung. Wie jeden Abend kriechen wir um 19 Uhr in unsere durchsichtigen Moskitonetze. Die Malariaprophylaxe setze ich ab, das Auswärtige Amt verschweigt in seinen Empfehlungen, dass Malarone nichts für Läufer ist. Ich habe Fieber. Nachts suche ich mehrmals das Klo auf, in dem die Wasserspühlung noch funktioniert. Dabei flitzen mir Kakerlaken um die offenen Wunden meiner Füße. Ich werde morgen nicht antreten.
Im Halbschlaf denke ich über die einstigen Bewohner nach, die 1975 fluchtartig das Land verließen. Das Land wurde von Portugal als Lehen an die portugiesischen Farmer vergeben, vielleicht hat das die Flucht während der damaligen Unruhen erträglicher gemacht. Die Besitzer waren eh schon in Portugal, ihre Vorfahren kamen nach der Unabhängigkeit von Brasilien auf die Insel. Offiziell wurde die Sklaverei 1869 abgeschafft, aber die Sklaven mussten sich noch neun Jahre lang freiarbeiten. Der Kakaoproduzent Cadbury zog sich wegen Arbeitermangel von der Insel zurück. Vermutlich deswegen willigte England ein, dem Deutschen Reich die Insel als Kreditpfand zu überlassen. 1919 hatte sich das dann erledigt gehabt.
Ich stehe doch am Start, mitten im Matsch. Immer wieder faszinierend sind die verfallenen Gebäude aus der Kolonialzeit, die vom Urwald überwuchert werden, wenn sie nicht von ärmlichen Leuten bewohnt werden. Die ehemalige Pracht der Häuser steht im Kontrast zu den Bewohnern, die Kleidung aus europäischen Containern tragen. Die Pflanzen entlang des Pfades schneiden in Beine und Arme. Die Schnittstellen sind mit Reihen aus entzündenden Pusteln flankiert, die gerne von Fliegen besucht werden. Milliarden von Fliegen türmen von den vergorenen Jackfruits, die auf dem Boden liegen. Der ganze Wald wird vom Gährungsgeruch der Früchte erfüllt, die von vogelschissweiß in tiefschwarz mäandern.
Viele Tiere auf STP sind endemisch. Man vermutet, dass die Vorfahren der zahllosen Amphibien vor Urzeiten mit der Strömung aus dem Kongodelta angeschwemmt wurden, darunter eine Kobraart, mit denen ein paar Läufer Begegnungen haben. Bei einigen Vögeln besteht keine Verwandtschaft außerhalb der Inseln. Nur wenige Säugetiere haben es ohne den Menschen nach STP geschafft, z. B. eine Spitzmaus und einige Fledermaus- und Flughundarten. Die Fledermäuse huschen nachts um unser Camp, die Flughunde plappern uns quitschend in den Schlaf.
Flussdurchquerungen sind wohltuend für die Füße. In kleinen Regenwaldlichtungen werden Maniok, Süßkartoffeln und Taro angebaut. Was in London die Aktentasche, ist hier die Machete. Vor fünf Jahren hätte ich ein mulmiges Gefühl beim Anblick einer Machete mitten im Wald gehabt. Aber diese Leute hier sind so lieb. Manchmal quatsche ich mit denen, um einen Grund zur Laufpause zu haben. Die Leute sind sehr sprachbegabt. Mein Durcheinander von Französisch, Spanisch und Portugiesisch wird mit einem kreolischen „Dank“ belohnt. Oft bieten sie Früchte an. Wir Läufer sind uns einig: Diese Menschen sind glücklich. Als ich mich für ein Bier in eine der Hütten setze, begrüßt mich ein Mann in einem Finishershirt vom Tui Marathon Palma 2009. Es könnte das sein, das ich irgendwann in die Altkleidersammlung gegeben habe. Und tatsächlich bin ich wenig später am VP in Palma. Die Gebäude der Kakaofirma Fabrica de Oleo de Palma (1910) in Aqua Ize dominieren hier den Küstenort. In den ehemaligen Werkshallen werden nun Autoteile per Hand hergestellt. In den alten Wohnsiedlungen der Sklaven leben ärmliche Familien, dazwischen Häuser auf Stelzen der besser Situierten. Die Schüler feiern mich frenetisch. Man grüßt mit „Hola!“
800 Meter vor unserem heutigen Camp ist das beste Fischrestaurant der Insel. Dort sitzen schon Teresa und Stan. Ich werde es heute nicht mehr hierher schaffen, meine Füße sind zu wund. Xavi, Jonas und Simon sitzen vor einer „Kneipe“ und treiben mich zwischen die Zielbanner. Das heutige Camp zwischen den Stelzenhäusern besteht aus Zelten, die in der Sonne braten. Drei gute Klozelte laden zu einem Hock-Inn ein. Auf den Steinen liegen Klamotten der Läufer, die Zeit hatten, ihre Sachen zu waschen.
Wie jeden Abend machen die Einheimischen Party. Viel Musik und laute, sehr laute Gespräche. Hinter meinem Zelt protestiert eine zukünftige Schwiegermutter lautstark, während der Typ genauso lautstark seine Vorzüge anpreist. Ich bin froh, dass ich nicht mehr Malarone einnehme. Es geht mir besser. Ich gebe auch nicht mehr Brausetabletten oder Isopulver in meine Wasserflaschen, trinke keine Cola oder diese unsäglichen Dosenlimonaden, denn die künstliche Zitronensäure in diesen Produkten zerreißt mir den Darm.
Gleich ein ziemlich heftiger Anstieg, vergammelte Schilder, die zu verfallenen Landhäusern führen. Die zerbröckelnden Ruinen der Roças erinnern mich an meinem Besuch in Tschernobyl nach dem Kiew Marathon: Fluchtartig verlassen, geplündert und vergammelt. Der morbide Charme der vergangenen Zeit, die zerstörten Möbel und Wandmalereien geben mir das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit: Was geschieht mit meinen Finishermedaillien, wenn ich nicht mehr bin? Noch bin ich, und der Lauf hier oben an den Vulkanhängen auf altem Kopfsteinplaster ist gut, wenn man neben demselben läuft. Die Roça am Wendepunkt dieser Teilstrecke hat sich mit einer enormen Mauer geschützt. Wieviel Geld und Arbeitskraft wurde hier verbraten? Waren die 500 Jahre der portugiesischen Kolonie schlecht? Weiter geht die Tour unter bunten Korallen- und Brotfruchtbäumen oberhalb eines brausenden Wildbaches entlang.
Als ich am VP 1 ankomme geht es mir blendend, ich bin im guten Mittelfeld, als mich Stefan, der Chef von Global Limits, an der Küstenstraße empfängt. Steven Lee lädt mich zu seinem 12-Stundenlauf in Singapur ein, letzter Sonntag im Dezember. Schnelle Läufer, die zeitversetzt gestartet sind, überholen mich nun auf der Küstenstraße, der einzigen, die den Norden mit dem Süden verbindet Je mehr Läufer mich überholen, desto mehr werde ich demoralisiert. Am VP 2 sitzen George, Steven und Nigel - sie sind raus.
Scheiße. 38 Grad auf der Straße. Meine Blasen in den nassen Schuhen beginnen zu gären. Auf meinem Rücken entstehen Schweißblasen, die sich mit der Reibung des Rucksackes entzünden. Die nasse Kleidung reibt schwärende Wunden. Ich schaffe zunächst einen Kilometer, bevor ich mich setzen muss, dann nur noch jeweils 300 Meter. Ein Weißer im Pickup hält an, fragt, ob ich Hilfe brauche. „Si, donne moi une biere!“ „Solamente warm beer!“ antwortet er. „Deme cerveja quente!“- „ En el derriere!“ Er ist ein Arsch, auf seinem Pickup ist nicht mal warmes Bier. Ich frage, ob bald ein Dorf kommt. Er sagt, es gäbe hier keine Dörfer mehr. Das bringt mich um, ich lege mich an den Straßenrand und dämmere weg. Eine Stunde später weckt mich Harry, die Volontärin, die bewundernswert schnell von VP 2 nach VP 3 läuft. Mein Problem: Die Füße sind jetzt extrem geschwollen, die Blasen schmerzen unerträglich. Ich könnte die Innensohlen rausnehmen, aber im Delirium denke ich nicht dran. Anfängerfehler. Wenigstens weiß man jetzt, dass ich noch lebe und irgendwann beim VP3 ankommen werde.
In einem schmutzigen Dorf trinke ich zwei Dosen von dem künstlichen Fruchtsaft, weil die kein Bier haben. Ich komme danach 300 Meter weit, dann verätzt die Zitronensäure auf unnatürlichem Weg die üppige Vegetation. Ultralaufen ist sowas von entwürdigend! Stark geschwächt sitze ich auf der Leitplanke und beobachte die Schatten der Bananenblätter, die wie lachende Witzfiguren auf dem glühenden Asphalt tanzen. Fünf Stunden brauche ich für die 12 Kilometer, und Henda ist immer noch drei Stunden hinter mir. Henda ist eine hartgesottene Spaziergängerin, die einerseits unsere Bewunderung erhält, andererseits den Ablauf der ganzen Veranstaltung bremst. Aber sie zieht das Ding durch.
Ich sehe keinen gesunden Grund darin, nach Mitternacht anzukommen. Ich war und will wieder ein stolzer Läufer werden, und will nächste Woche 75 Kilometer in Marokko laufen. Als ich beim VP 3, bei Kilometer 32 ankomme, bricht Peter gerade zusammen. Er kann nicht mehr aufstehen, er scheidet aus, wie elf andere Läufer. Das hat es bei Rennen von Global Limits noch nie gegeben. Bryan, der Chefarzt fragt mich mehrmals, ob ich wirklich raus will. Ich will. Er fragt nochmals. Das ist fair, verdammt fair, ich sehe wohl noch fit aus. Aber ich kann nicht mehr, habe Fieber und friere. Hier in dem Fünf-Sterne-Restaurant in Sao Joao dos Angolares könnte ich zwar Mittagessen und ein klimatisiertes Klo benutzen, aber ich bin bewegungsunfähig. Nie wieder Malariaprophylaxe.
Dicht gepfercht in einem SUV fahren wir Abbrecher zum fünften Camp. Oberhalb der Urwaldriesen sehen wir ab und zu den Pico Cão Grande (Spitze des Großen Hundes), das Wahrzeichen von Sao Tome. Es ist ein steckengebliebener Lavaschlot. Davon gibt es viele hier, aber dieser ist markant und wohlgeformt. 300 Meter ragt der Pico Cão Grande penisartig über dem Regenwald empor. Man kann dort hinauf klettern, aber glitschige Moose und Unmengen von Schlangen behindern den Aufstieg.
Unser Camp ist am Praia Grande, am Großen Strand, wo der Fluss, der am Pico Cão Grande entspringt, in den Atlantik mündet. Endlich bin ich einmal der erste, der im Camp ankommt und kann mir den besten Zeltplatz aussuchen. Das Flusswasser ist angenehm weich und juckt nicht so, wie das Salzwasser. Den ganzen Tag liege ich im lauwarmen Wasser und ignoriere soweit es geht die anderen Läufer, die ins Ziel laufen. Ab und zu trinke ich einen Ingwertee, essen kann ich nichts. Um Mitternacht höre ich, dass Henda ins Ziel kommt.
Alle Läufer werden sagen, das sei die schönste Etappe gewesen. Blick von den Bergen hinab auf das Meer und so. Wir Kriegsversehrten reisen mit dem SUV drei Stunden über verfallene Straßen zum wohl stinkigsten Ort der Insel: Porto Alegre (dem fröhlichen Hafen). Durch Zufall entdecke ich den Panzer am Straßenrand: „Stop! Stop! Stop!“ rufe ich dem Fahrer zu, diese Sensation lasse ich mir nicht entgehen. Es ist ein sowjetischer Panzer, den die DDRler Ende der 80er hier stehen ließen. Alles was verwertbar ist, wurde abmontiert, einschließlich Kanone und Drehturm. Aus den Ketten sind Wäschetrockner geworden. Einst sollte der Panzer den Einheimischen wohl zu Demonstrationszwecken dienen. Man feuerte einfach in den Dschungel und erschreckte ein paar Vögel, in einem Land das wohl nie mehr erobert wird. Das Fahrgestell ist nun von Wandelröschen, Fackelingwer und bunten Kongolieschen überwuchert.
Wir erreichen unser letztes Camp: Praia Piscina, den Pool-Strand.
Jeder kennt den Praia Piscina aus der Bacardi Werbung. Von den netten Damen ist hier nichts zu sehen. Niemand sammelt Bacardiflaschen oder Plastikflaschen ein, es gibt einfach keine, der Strand ist blitzsauber. Nur einige Markierungen aus Bambus zeigen Gelege von Meeresschildkröten an. Erst als die ersten Läufer zu mir in die Brandung springen, wird der Strand mit abgelösten Pflastern und Tapes garniert.
In der Dämmerung sehe ich noch, wie ein Krebs in meine nassen Hokas krabbelt. Der Schein meiner Stirnlampe vertreibt ihn. Die Wanderung der Babyschildkröten ins Meerwasser verpasse ich, ich bin zu müde.
Beide einheimischen Läufer haben im Zelt neben mir geschlafen und die ganze Nacht gebabbelt. Ich kriege kaum die Augen auf und schütte mir das heiße Wasser, statt in die Kaffeetasse über mein Knie. Ühiii, das schmerzt. Jetzt bin ich wach.
Die Startzeiten sind unterschiedlich angesetzt, je nach Schnelligkeit der Läufer, schließlich wollen wir nicht zu lange auf dem Äquator sitzend auf die Letzten warten müssen. Zunächst geht es vermatschte Wege durch wilde Bananenstauden und unter Papaya- und Jackfruitbäumen entlang. Käpten Blight (Meuterei auf der Bounty) hatte den Auftrag, Brotfruchtbäume von Tahiti in die Karibik zu bringen, um die dortigen Sklaven zu ernähren. Aus der Karibik fanden die Bäume hierher. Mir schmecken die Gerichte aus Brotfrucht nicht, auch die gebratenen Bananen nicht. Drei Sorten Bananen gibt es auf Sao Tome, die Bratbananen sind grausam wie Topiak. Aber sonst zählt das Essen der Insel zum besten, das ich kenne. Vor allem der frische Fisch ist traumhaft saftig.
Meine Gruppe läuft los, es ist ein relativ frischer Morgen im saftigen Grün. Nach wenigen Kilometern sind wir in Porto Alegre, schmutzig und schlimm nach Fisch stinkend. Schweine durchwühlen die Fischabfälle, die von den Trockengestellen gerutscht sind. Ein Bilderbuchdorf aus vergangenen Zeiten. Außer dem vielen Müll zeugt nichts von einer anderen Welt. Kann mir nicht vorstellen, dass man hier mal eine Invasion erwartet hatte. Auf dem Schornstein der Fischfabrik wächst Farn. Das Herrenhaus oben am Berg neben der verfallenen, katholischen Kirche grüßt mit hohlen Fenstern. Darunter die einzige evangelische Kirche der Insel, die von den DDRlern erbaut wurde. Dann kommen wir am Panzer vorbei, den ich gestern beschrieben hatte. Nach acht Kilometern laufen wir über den Strand, gegenüber ist die Ilheu das Rolas (Taubeninsel) zu sehen, dem einzigen Platz auf der Welt, wo sich der Null-Meridian mit dem Äquator kreuzt.
Aaahh, der Lauf über den weißen Strand ist wunderbar. Nicht so wie mein letzter an der holländischen Küste. Das Paradies ist hier. Ich laufe hart an der Brandungsgrenze, meine Schuhe sind eh noch nass. Bei Kilometer zehn warten sechs Fischerboote auf uns, die Zeit wird gestoppt, dann setzen wir über zur Taubeninsel.
Nach 20 nassen Minuten erreichen wir das glasklare Wasser der Äquatorinsel und springen von Bord. Die Läuferliste wird abgehakt und rein geht es ins Inselinnere, für mich erstmal rein in die „Hafenkneipe“. Die Wirtin heißt Maria, ich drücke ihr meine Kamera in die Hand. Sie hat das erste Mal einen Fotoapparat in der Hand und wir lachen uns kaputt, wie hilflos sie damit umgeht. Andere Bewohner kommen dazu, geben ihr Tipps, jeder weiß es besser. Lustiges Völkchen.
Sechs Kilometer rund um das grüne Einod stehen an, zweimal über den Nullmeridian, zweimal über den Äquator, dann hinauf zum Kreuzungspunkt der Weltlinien, ein weltweit einmaliges Erlebnis.
Der Pfad ist übersät mit Bergen von Kokosnussschalen. Die vermodern nicht auf dem kargen, schwarzen Lavaboden und behindern jeden Schritt. Wie sich auf dieser kleinen Insel fünf Läufer verlaufen können, ist mir ein Rätse. Ultralaufen macht wohl doof. Ich habe natürlich keine Probleme und finde den Weg zum Kreuzungspunkt der Hemispheren sofort. Der ist auf der Nordseite, also auf der Seite zur Insel Sao Tome inmitten des Hanges gelegen. Touristen gibt es hier nicht und so haben wir den Zieleinlauf für uns allein.
Das Zielbanner ist zwischen Arktis und Antarktis gespannt. ich springe über das Band, so hoch, wie seit meinem Beinbruch nicht mehr und zerschmettere Europa: That´s one small step for a man, one giant leap for mankind.
P.S. Liebe Leute, wer nach meinem Bericht Geschmack für diesen Ultralauf gefunden hat…Ich muss Euch enttäuschen. Dieser Lauf wird nicht mehr stattfinden. Oder vielleicht