Den Plan gab es schon lange. Aber letztes Jahr mit Quarantäne wurde nichts draus. Nun sind wir ja alle geimpft und schon sind alle Probleme gelöst. Anreise nach Kiel, mit der Fähre nach Klaipeda, völlig entspannt, Hotel und Co, alles easy. Wie sich das so gehört. Aber es gibt Hürden: Einreise anmelden, Belege vorzeigen, Impfdokumente, bockige Smartphones, Sturm auf der Ostsee… haben wir alles hingekriegt. Wir- das sind diesmal 4 Läufer, die auf allen möglichen Trails und Marathons auftauchen: Harald, Gerno, Uli und Frank. Mit Begleitung sind wir 6, die es angehen.
14.10. Treffen an der Fähre, einchecken, einschiffen, Geburtstag feiern. Da stört auch der Sturm nicht. 20 Stunden an Bord, dazu noch 3 Stunden Verspätung.
15.10. Ausbooten in Klaipeda, imFinstern tasten wir uns zum Hotel vor. Das liegt bequem dicht am Fähranleger. Wenn da auch noch Schilder gewesen wären… Aber echte Trailies schreckt sowas nicht. Mit GPS durchs Gelände können wir ja. Der sehr entgegenkommende Veranstalter hat die Startsachen noch parat, unsere persönliche Nudelparty im Hotel füllt Treibstoff nach. Dann ab ins Bett. Wer die lange 70 km- Strecke läuft, muss schnell schlafen, denn der Bus zum Start fährt um kurz nach 6 ab. Die 47er Trailies haben Zeit, Start ist um 10.
16.10. Riesentrubel im Hotel. Alle 70er machen die Nacht zum Tag. Alles junge Leute, die brauchen keinen Schlaf. Die nicht. Da kann man sich auch schon mal im Zimmer irren. Ich als 47er finde erst Ruhe, als die alle weg sind. Wenigstens für 2 Stunden, dann packen, Frühstück, aufrödeln und zur Fähre. Denn: Klaipeda liegt östlich der Memelmündung, die Nehrung – nur 500 m entfernt – westlich. Ohne Fähre geht es nicht. Der Anleger ist aber nur 5 min vom Hotel entfernt, der Preis 1,10 hin und zurück. Noch 1,5 km zum Startplatz am Jachtklub wandern- tja dann kann es losgehen.
Der Sturm ist zwar noch irgendwie da, aber die Wolken nicht mehr. Sonnenschein! Lausig kalt zwar, aber trocken! Lang-lang- kurz-kurz oder gemischt – alle tragen individuell ihren Dress. Viele das Hemd aus dem Starterpack, andere eins vom Vorjahr. Bunt sind sie sowieso. In der Truppe tauchen noch zwei Deutsche auf, Mirko und Tina vom Südthüringentrail! Mit denen reden ist eine Freude, übrigens mit allen anderen auch; wenn deutsch nicht so gut geht – englisch geht immer! Wir haben nie Sprachprobleme erlebt.
Pünktlich um 10 startet das Feld. Ganz bedächtig. Keiner spurtet los. Die meisten wissen, was kommt…
Die Nehrung ist ein 98 km langer Dünenkamm vom Samland heraufreichend. Dünen bis zu 63 m Höhe und ganz unterschiedlicher Breite. Alles strengstens unter Schutz. Die Wege zum Meer dürfen nicht verlassen werden. Eine Straße führt über die ganze Länge, die war Teil der Postverbindung von Königsberg nach St. Petersburg. Damals. Nun gibt es die EU- Außengrenze quer über die Nehrung, mit allen Scherereien. Und die Post nimmt nun ein Flugzeug… Ostsee außen, nach Westen hin, und das Haff nach Osten. Die Memel, heute Nemunas, mündet dort und sorgt für Süßwassernachschub. Ein kapitales Flüßchen ist das. Und so bildet sich eine riesige Lagune.
Nur auf der Nehrung haben sich Fischerdörfer angesiedelt, Nida- Preila- Pervalka- Juodkrante- Smiltyne. Eins schöner als das andere und gefragte Ferienorte. Im Sommer tobt hier der Bär. Nun aber ist es kalt, die Touris sind weg und die Trailies kommen. Denn heute – und nur heute- dürfen sie auf freigegebenen Wegen und Pfaden über die Nehrung traben.
Wald überall. Kiefern, Birken, grün und gelb. Espen und Eiben, auch Eichen in allen Herbstfarben! Grün, gelb, rot, braun…unter dem endlosen, blauen Himmel des Baltikums. Den gibt es nur hier. Wirklich. An den Bäumen sind kleine Schildchen angebracht: weißer Pfeil auf hellblauem Grund. Oder rote Fähnchen im Gras. Alles top. Gut zu sehen und zu finden. Auf ein GPS könnte man glatt verzichten. Und alle 9,5 km gibt es Versorgung.
Nur beim 70er ist es anders, da sind die Abstände größer. Die starten auf der Parnidden- Düne und arbeiten sich nach Norden vor. Viele Höhenmeter und ein 10 km- Strandlauf sind inklusive. Wir 47er starten am Jachtklub, laufen 22 km südlich nach Juodkrante und 25 wieder zurück. Dort treffen beide Strecken zusammen. Es gibt dazu noch eine 25er und eine 12er. Für jeden etwas.
Tja, oben die Bäume, unten der Sand. Einfach nur herrlich und mit Kiefernnadeln und Gras gepolstert, kaum Wurzeln oder Holzstücke, aber totale Wildnis. Von den 35 Elchen, die hier leben, bekommen wir keinen zu sehen. Der Pfad ist stellenweise kaum zu erkennen, dann wieder wird er zum Weg. Der gehört dem Förster privat, wir müssen zum Strand, Treppen mit Holzstegen führen hoch und runter. Ganz praktisch, weil so kaum Sand in die Schuhe gelangt. Ordentlicher Gegenwind am Strand. Tiefblaue See, weiße Schaumkronen! Und eine Luft ist das – so richtig sauber. Tiieef durchatmen!
Nach kurzer Strecke laufen wir zurück in den Wald und auf sanften Hügeln auf und ab zum ersten VP. Kurz erfrischen und weiter! Erst zickzack, dann im Windschatten der Dünen längs und bei einem tiefen Einschnitt, der heute zu einem Windkanal wird, rüber zum Strand. Nun folgen wir 5 km dem Spülsaum. Was da so alles rumliegt. Alle hoffen ja bei so was auf ein Stück Bernstein. Leider Fehlanzeige, aber es gibt auch keinen Müll. Dass das noch möglich ist!
Auf der Höhe von Juodkrante biegen wir ab in den Wald. Breite Wege bis zum VP. Hier sollte man ordentlich auftanken, denn es folgt der alpine Teil. Steigungen wie in den Alpen, wurzelige Trails, schmale Pfade. Enorm kraftraubend. Und jede Düne wird ausgenutzt, irgendwie geht es gefühlt immer höher. Trotzdem kommen wir an den Ortsrand, nur um gleich wieder in den Wald abzubiegen.
Aber was nun kommt, hat kein anderer Trail zu bieten: der Hexenwald. Wow. Gruselig, aber auch humorvoll. Die sorgfältig geschnitzten Werke erzählen von den Mythen und Legenden, vom Alltagsleben, von Märchen und Gruselgeschichten… Nicht nur Hexen stehen hier, auch holde Maiden und edle Ritter, ja, auch der Teifi mit seinem Höllentor. Laufen ist nicht, nur staunen! Tatsächlich senkt sich der Weg ab zum Haff hinunter, mitten im Ort kommen wir raus und traben an der Haffküste nach Norden weiter. Alte und neue Häuser, Skulpturen, ein Kurenwimpel (hatten die Fischer an ihren Booten, man konnte sehen, woher sie kamen), Sandburgen. Einfach schön.
Am Ortsende wieder in den Wald zurück. Wege werden schmaler, dann zu Pfaden, dann zu Spuren im Gras. Knackige Anstiege hoch zum alten Bocksberg, mit Aussichtsturm, den gibt seit ewigen Zeiten schon. Ostsee – Nehrung – Haff - Nehrung. Alles auf einmal, man muss nur da hoch. Oder ein Stück weiter laufen, da erreicht man einen Gipfel und kann auch alles sehen. Der Trail ist dafür perfekt ausgeschildert. Nur noch wenig Strecke, immerhin nur bergab, dann sind wir wieder am VP. Gut auftanken, man kann ja nie wissen… Eine Zeitmatte prüft uns, nun führen die Wege nach Norden. Geradeaus, fast ganz oben auf dem Dünenkamm. Für ein nettes Auf und Abb ist aber trotzdem gesorgt.
Hier auf dem Kamm sind viele Grasflächen, die weiteste Blicke erlauben. Mal zur Ostsee, mal zum Haff. Es ist es so ganz anders als im Wald zuvor. Dennoch müssen wir von Zeit zu Zeit den Kamm verlassen und in den Wald abtauchen. Sogar der Straße nähern wir uns. Prompt aber wieder hoch, das kostet Kraft und auch Nerven. Vor allem dann, wenn die Körnchen knapp werden…
Seid Juodkrante überholen mich die 70er. Viele sind auch schon längst durch, aber wie das eben so ist, das Feld ist enorm langgezogen. Die meisten sind genauso fertig wie ich. Das tröstet. Die 47er sind schon -fast- alle durch. Nur noch ein paar langsame Deutsche, dann wars das. Eines ist auffällig, es laufen fast nur junge Leute, 20 bis 25 Jahre jünger als meiner Einer. Das erklärt das enorme Tempo. Alles in allem sind 957 Läufer angemeldet, das ist schon eine Hausnummer.
Der letzte VP ist erreicht. Es gibt nicht mehr viel. Wasser, etwas Cola, Banane. Mehr passt auch nicht rein. Und noch 10 km. Ab in den Wald und gib ihm. Diesmal führt die Strecke auf die Haffküste hin, die Straße wird gequert. Niedrige Dünen, viele Laubbäume und Wiesen. Und auch Aussicht auf Klaipeda- Hafen. Der nimmt überhaupt kein Ende. Viel los ist da, Schiffe laufen ein und aus, Bagger buddeln in der Fahrrinne, die Fähren kommen, die Kräne sind auch nicht nur zur Dekoration da. Aber bloß nicht unachtsam werden, da sind die Wurzeln … Plötzliche Anstiege bescheren uns weitere Höhenmeter. Erst recht, als der Pfad wieder auf den Dünenhauptkamm hochführt. Musste das unbedingt…? Ja, denn oben gibt es wieder was zu sehen, was ganz anderes diesmal. Bunker, offen und zugänglich. Eine alte Flakstellung war das mal.
Und dann abwärts. Nochmal über die Straße, aber am Fähranleger. Aufgepasst, die Autos rollen aufs Schiff ohne wenn und aber. Auf der anderen Seite mal wieder hoch - was auch sonst - und bis zum Jachtklub, dem Ziel, auf den letzten Höhenmetern dahin. Als ich endlich eintreffe, wird abgebaut. Die Sonne ist weg, kalter Wind pfeift. Immerhin stehen die Zelte noch und man bekommt eine warme Suppe oder Kascha, eine Buchweizengrütze aus der Gulaschkanone. Eine nette Helferin passt auf und hängt mir noch die Medaille um, es ist geschafft!
Gut beraten ist, wer hier warme Wechselsachen deponiert hat. Nass und kalt und so zur Fähre zurück ist schlecht. Duschen gibt es auch. Nur kein shuttle für die 1,5 km zu unserer Fähre.
Fazit
Ein wahnsinnig toller Traillauf in absolut fantastischer Umgebung! Sehr sorgfältig organisiert, ein Kultlauf im Baltikum. Trailschuhe sind gut, Stöcke nicht nötig. Rucksack eigentlich auch nicht, aber vielleicht für eine Jacke. Um diese Zeit kann das Wetter schon mal komisch kommen. In der Ausschreibung wird alles haarklein beschrieben, nicht nur der Lauf, auch die Anreise (Schiff- Bus- Flugzeug), wo kommt man an und wie dann weiter, geeignete Hotels, die Fähr-Fahrpläne… nichts bleibt dem Zufall überlassen. Also: es gibt eigentlich keine Ausreden, hier einmal dabei zu sein!
Noch ein paar Eindrücke von Ausflügen in die Umgebung. Nida und die Hohe Düne in aller Ruhe. Von der alten Fähre gibt es einen Linienbus bis Nida und zurück. Genug Zeit, um zu wandern, lecker zu essen…
Und dann am Festland an der Haffküste nach Vente (Windenburg) mit dem alten Leuchtturm an der Nemunasmündung und der Vogelwarte; nach Rusne, heute Grenzort am Fluß und Silute (Heidekrug), dem Städtchen mitten in der endlos flachen Memelniederung. Immer wieder beeindruckt die grenzenlose Weite von Himmel und Land…