Es ist nichts so schlecht, dass es nicht für etwas gut wäre. So wurde von meinem Verein, dem HartfüßlerTrail e.V. während der Pandemie die Idee des „Vogesen Crossing“ geboren. Wenn keine langen Rennen angeboten werden, dann machen wir halt selbst eins.
Die erste Etappe dazu wurde 2020 in Saarbrücken gestartet und endete nach knapp 100 Kilometern auf dem Gipfel des Donon, wo die Saar entspringt (zum Bericht). Damals hatten sich die Teilnehmenden versprochen, dass die Tour unbedingt fortgesetzt werden muss und wir in drei weiteren Etappen die Vogesen vom Donon bis nach Belfort komplett durchqueren wollen. Die Planung dazu ist nicht sehr kompliziert, da der Wanderweg GR 5 das komplette Vogesen-Massiv durchzieht und die schönsten Orte und spektakulärsten Aussichten miteinander verbindet.
Im Norden dominiert der Sandstein und auf den bizarr erodierten roten Felsen findet man viele Burgen. Im Süden wurde der Sandstein von den eiszeitlichen Gletschern abgeschliffen. Granit, Gneis und Grauwacke wurden dort stark in die Höhe geschoben und bilden alpine Gebirgskämme. Lediglich die Gipfel wurden abgeschliffen und bilden die sagenumwobenen „Belchen“ oder im französischen „Ballons“. Darüber hinaus sorgte die Vergletscherung für viele malerische Seen, die in den Trogtälern als malerische Himmelsspiegel von Felsen gesäumt sind.
War die erste Etappe noch recht einfach, geht es auf dem zweiten Teil schon richtig zur Sache. Etwa 95 Kilometer mit 3300 Höhenmetern erwarten uns. Start ist am Merkurtempel auf dem Gipfel des Donon und Ziel ist an der Haut-Koenigsbourg im Elsass.
Diesmal sind wir mit einer größeren Gruppe am Start. Von den Teilnehmenden der ersten Etappe sind leider krankheitsbedingt nur drei Teilnehmer übriggeblieben. Die „Neulinge“ haben im April die erste Etappe bei wirklich miesem Wetter nachgeholt. Marius und Ulrike begleiten uns mit dem Auto und organisieren unterwegs die Verpflegung. Eine kleinere Gruppe läuft nur den letzten Abschnitt und nimmt uns morgen mit dem Auto wieder mit zurück. So halten sich Aufwand und Kosten im Rahmen.
Das Wetter der letzten Woche war geprägt durch Starkregen und Überschwemmungen, aber die nächsten 24 Stunden sollen ganz passabel sein.
Je näher wir dem Gipfel kommen, umso bedrohlicher schieben sich dunkle Wolken vor die Sonne. Vier Kilometer vor unserem Parkplatz öffnet der Himmel alle Schleusen, aber beim Aufstieg zum Gipfelplateau regnet es nur noch schwach. Der Merkurtempel ist umgeben von Wolkenfetzen und die Aussicht ist bescheiden. Das hatten wir uns schöner vorgestellt. Aber egal. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Immerhin ist es nicht kalt und die Wege sind trotz der starken Regenfälle der vergangenen Wochen gut laufbar. Es geht erst mal nur bergab. Der Vorteil des schlechten Wetters ist, dass es keinen Motorradlärm gibt. Der Donon ist, wie die komplette Gegend, ein Mekka für Kurvenkratzer, die stellenweise wirklich nerven können.
Die Wolkenfetzen und die absolute Stille zaubern eine mystische Stimmung in den Wald. Wir kommen über einen verlassenen Weg in den kleinen Weiler Grandfontaine. Den Weg auf der Uhr scheint es nicht mehr zu geben. Eine Anwohnerin klärt uns auf: der GR 5 wurde verlegt. Wir machen einen Umweg und treffen nach einem Kilometer wieder auf unsere Strecke, die wir in der Uhr abgespeichert haben. Das fängt ja gut an. Wir sind erst fünf Kilometer unterwegs und laufen schon Umwege. Aber es soll bei diesem einen Schlenker bleiben.
Wir erreichen das Tal der Bruche mit dem kleinen Städtchen Schirmeck. Auch hier wurde der GR 5 wegen einer gesperrten Fußgängerbrücke umgeleitet. Wir halten uns an unsere Uhr und queren ein paar Eisenbahnschienen, die offensichtlich außer Betrieb sind. Dann laufen wir über den Bahnsteig, bis wir hinter dem Bahnhof wieder auf dem beschilderten Weg sind. Dieser führt uns steil bergauf zum Chateau. Wir haben einen herrlichen Blick ins Tal. Die Sonne verabschiedet sich so langsam. Die Regenwolken glücklicherweise auch. Wir machen uns fertig für die Nacht.
Als wir die Gedenkstätte Struthoff erreichen ist es schon stockdunkel. Zuerst passieren wir die Villa, die als Kommandantur diente, dann liegt hinter Stacheldraht das Lager. Nachdem das Elsass 1940 annektiert wurde, eröffnete bereits 1941 das Konzentrationslager Natzweiler. Es war 1944 das erste entdeckte KZ in Westeuropa. 52.000 Deportierte wurden nach Natzweiler und seine Außenlager verschleppt. Etwa 17.000 kamen hier um. Das KZ Struthoff entstand, um das Vorkommen von rosa Granit für die großen Bauvorhaben des 1000jährigen Reichs abzubauen. Es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke, wozu Menschen fähig sind. Besuche solcher Gedenkstätten sollten Pflichtprogramm in unseren Schulen sein.
Auf dem Parkplatz erwartet und die erste Verpflegungsstation. Wir stärken uns mit Kartoffeln, Kuchen und allerlei Leckereien, bevor es wieder in die stockfinstere Nacht geht. Bald haben wir den ersten langen Anstieg geschafft. Der Weg ist jetzt perfekt ausgezeichnet. Die roten Balken auf weißem Grund reflektieren das Licht unserer Kopflampen und sind schon von weitem zu erkennen.
Letzte Schneereste überraschen uns auf dem höchsten Punkt am Champ du Feu.
Pünktlich um Mitternacht verschwinden die Wolken und der große Vollmond wirft sein fahles Licht durch die Bäume. Nebelschwaden wabern durch die Äste. Ab und zu das Rauschen kleiner Bäche, die das Wasser der letzten Tage ins Tal leiten. Dann wieder absolute Stille.
Wir passieren die Cascade du Hohwald, einen kleinen Wasserfall. Jetzt ist es nicht mehr weit bis zur nächsten Verpflegung im gleichnamigen Ort. Es gibt sogar eine öffentliche Toilette, die geöffnet ist. Als wir ankommen, läuft die schnellere Gruppe gerade los. Jenny steigt hier aus. Sie läuft nächste Woche ein hartes Rennen auf den Lofoten und hat die ersten 35 Kilometer als letztes Training genutzt.
Wir ziehen rasch weiter, bevor wir auskühlen. Den Vollmond immer vor uns, erreichen wir eine Formation riesiger Felsblöcke. Das ist die Heidenmauer. Dieser insgesamt 11 km lange Ringwall umgibt das Hochplateau des Odilienbergs.
Die Heilige Odilia kam im siebten Jahrhundert blind zur Welt und wurde deshalb von ihrem Vater verstoßen. Sie erlangte angeblich bei ihrer Taufe das Augenlicht. Auf ihrer Flucht vor einer Zwangsheirat öffnete sich vor ihr ein Felsen, was ihren garstigen Vater so beeindruckte, dass er für seine Tochter an der Stelle die Abtei gründete, deren Äbtissin Odilia wurde. Sie wurde zur Schutzpatronin des Elsass und das Kloster ist heute noch dessen bedeutendster Wallfahrtsort. Leider ist es noch mitten in der Nacht und die Pforten des Klosters sind geschlossen. Von der Terrasse hat man einen fantastischen Fernblick in das Oberrheinische Tiefland und zu den Höhen des Schwarzwaldes. Da muss ich bei Tageslicht mal wieder vorbeischauen. Dann nehme ich auch ein Schluck aus der Quelle ein Stück unterhalb, deren Wasser die Heilung von Augenerkrankungen nachgesagt wird. Wir lassen sie heute aber links liegen und traben ohne Umwege stetig bergab.
Die Rheinebene liegt vor uns. Die Sonne färbt den fast wolkenlosen Himmel bereit in zarte Rottöne. Vor uns immer noch der Vollmond. Unsere Strecke führt uns nun über die Wege des Trail Alsace Grand Est, der letzte Woche hier stattgefunden hat. Die stark beanspruchten nassen Passagen sind matschig, aber lassen sich noch ganz gut laufen. Ich bin froh, dass der Schlamm wenigstens nicht an den Schuhen kleben bleibt. Nasse Füße habe ich eh schon seit gestern Abend.
An der Verpflegung in Barr steigt Sandra mit Magenproblemen aus. Silke hat auch genug und so sind wir nur noch zu dritt. Die schnelle Gruppe hat bereits eine gute halbe Stunde Vorsprung.
Barr ist die Weinhauptstadt des Elsass. In der Dämmerung verlassen wir den schönen Ort und durchqueren endlose Weinfelder. Vor uns verschwindet gerade der Vollmond, hinter uns geht die Sonne auf. Ich liebe das Laufen in den frühen Morgenstunden, wenn die Natur erwacht, sich Vogelgezwitscher erhebt und die ersten Sonnenstrahlen Wärme spenden. Alles erscheint neu und voller Erwartung für den kommenden Tag.
Uns erwartet hinter dem Örtchen Andlau ein langer Anstieg. 750 Höhenmeter sind es bis zum Gipfel des Ungersbergs. Auf guten Wegen geht es langsam in die Höhe. Müdigkeit macht sich breit und ich habe Probleme, die Augen bei dem langsamen Tempo offen zu halten. Wenn man laufen kann, wird es wieder besser, aber dafür gibt es nicht viel Gelegenheit. Ich nehme ein Gel mit Koffein und konzentriere mich, nicht beim Steigen einzuschlafen. Damit geht es, bis wir schließlich den Gipfel mit seinem hübschen Aussichtstürmchen erreichen. Auf einer Bank genießen wir die warmen Sonnenstrahlen. Ich schließe für fünf Minuten die Augen und frisch erholt geht es in einen langen Downhill.
Die flachen Passagen sind jetzt sehr matschig. Ein paar vergessene Flatterbänder erinnern noch an die Veranstaltung by UTMB vor einer Woche. Wir erreichen unseren letzten Verpflegungspunkt in der Schutzhütte eines Waldparkplatzes. Eigentlich wollte ich hier die Schuhe wechseln, aber ich habe keine Lust, mich groß umzuziehen. Wir frühstücken ausgiebig mit Wurst und Bier und so geht es gut gestärkt auf den letzten Abschnitt.
Der vorletzte Anstieg bringt uns zur Burgruine Ramstein. Eine weitere Burgruine ist direkt unter uns. Majestätisch wacht auf dem Berg vor uns die Haut-Koenigsbourg, deren Türme wir hier zum ersten Mal erblicken. Wir steigen ab bis zum tiefsten Punkt unserer Tour. Bis nach Chatenois geht es flach über saftige Weiden. Es ist angenehm warm und die Kühe liegen schon faul im Schatten. Der Ortsname leitet sich von den umgebenden Kastanienwäldern ab. Wir passieren die St. Georges-Kirche aus dem 18. Jahrhundert und den Hexenturm, bevor es wieder durch Weinfelder in den letzten Anstieg zur Haut-Koenigsbourg geht.
Es ist jetzt recht warm und wir sind froh, nach den Weinfeldern wieder in den dichten, schattigen Wald zu wechseln. Die Haut-Koenigsbourg wurde im Jahre 1147 von den Hohensstaufern erbaut und erlebte ihre Blütezeit im Mittelalter. Nach dem Dreißigjährigen Krieg blieb nur noch eine Ruine übrig. Als 1871 das Elsass wieder an Deutschland abgetreten wurde, schenkte die Stadt Schlettstadt (Sélestat) die Burg Kaiser Wilhelm II., der sie als Zeichen deutscher Macht und Präsenz im Elsass aufwendig restaurieren ließ.
Das blieb sie auch unter den Franzosen. Trotzdem hat sie sich als beliebtes Ausflugsziel etabliert und mit jährlich etwa 500.000 Besuchern ist sie die meistbesuchte Burg der Region und einer der am häufigsten frequentierten Touristenorte ganz Frankreichs. Sie thront hoch über der Rheinebene auf einem mächtigen Felsen. Der Anstieg fällt uns schwer, wie immer, wenn es nur noch wenige Kilometer bis zum Ziel sind. Zu allem Elend müssen wir die müden Knochen durch ein wildes Astwerk umgestürzter Bäume zwängen. Unvermittelt kommen wir zu einer kleinen Treppe, an deren oberen Ende wir direkt vor der Burg stehen. Der Ausblick ist grandios und reicht bis zum Kaiserstuhl im Osten und bei guter Sicht bis zu den Gipfeln der Berner Alpen im Süden.
Wir sind am Ziel. Noch ein Stück entlang der Burg, dann steigen wir zum Parkplatz ab, wo wir von der restlichen Truppe herzlich begrüßt werden. 96 Kilometer bei 3350 Höhenmetern stehen auf dem Tacho. Die Strecke war leichter als gedacht und so sind wir auch früher im Ziel als angenommen. Einige Laufkameraden sind heute Morgen angereist und sind die letzten 20 Kilometer unserer Strecke gelaufen. Sie nehmen uns mit nach Hause. Auf dem Heimweg werden schon die Pläne für die nächste Etappe geschmiedet. Dann geht es von der Haut-Koenigsbourg zum Grand Ballon.
Der keltische Waldgott Vosagus hat dieses kontrastreiche Mittelgebirge als westliche Begrenzung der Oberrheinischen Tiefebene in den Osten Frankreichs gezaubert.
Die Vogesen sind ein fantastisches Trail-Revier. Als rote Linie für weite Strecken dient der Weitwanderweg GR 5, der die kompletten Vogesen von Nord nach Süd auf etwa 400 Kilometern durchquert. Er verbindet die schönsten Orte und spektakulärsten Aussichten miteinander. Der Weg ist sehr gut beschildert und auch in der Nacht dank reflektierender Markierung gut zu finden.
Der beschriebene Abschnitt vom Donon zur Haut-Koenigsbourg eignet sich hervorragend als selbstorganisiertes Abenteuer. Die Anstiege, wie die Downhills sind immer moderat und haben keine technischen Passagen. Ich würde beim nächsten Mal später starten, um das Tageslicht besser ausnutzen zu können. Ein Begleitfahrzeug für die Verpflegung und Versorgung bei Rennabbruch sollte dabei sein. Natürlich kann man auch kürzere Etappen wählen und sich in den touristisch gut erschlossenen Dörfern versorgen. Somit ist diese wunderschöne Landschaft, aufgeteilt in entsprechende Abschnitte, recht einfach und ohne Zeitdruck eines Wettbewerbes, läuferisch zu erleben.