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20.09.18 - Special Event

Albania - The hidden Treasure - Der verborgene Schatz

Autor: Joe Kelbel

Albanien ist sicherlich kein Traumziel. Es ist auch kein Land in dem gelaufen wird. Das will ich ändern, ich bin Pionier, ich suche neue Wege.

Nach zwei Stunden landet der Flieger in Tirana. Hundert Euro sind ein mächtiger Stapel Lek, wie die  Währung genannt wird und reicht für 125 Bier, sollte man welches auf den 220 Kilometern in den folgenden sechs Tagen finden. Wir sind 40 Starter und wollen durch das Südliche Bergland von Norden nach Süden ans Ionische Meer laufen. 8000 Höhenmeter gilt es dabei zu bewältigen. Egal, was passiert, ich werde bester Deutscher sein.

Vom Flughafen fährt man über breite, chaotische Straßen in die Innenstadt. 90 Prozent der Autos stammen von einer Stuttgarter Autofirma, die neben der Einfallsstraße zahlreiche Verkaufshäuser errichtet hat. Dazwischen sind die großen Vertretungen internationaler Firmen und Hotelketten. Supermärkte und zahllose Kioske gibt es überall. Albanien ist zwar arm, aber auf Tiranas Straßen ist davon nichts zu sehen. Dass hier nur Dieselautos gefahren werden, erklärt sich von selbst.

Auf der Dachterrasse des Hotels komme ich mit drei Albanern ins Gespräch, natürlich geht es bald um Flüchtlinge: Wir Deutsche sollten doch mehr Flüchtlinge aufnehmen, prozentual wäre das ja gar nichts und schließlich bekämen wir von der EU dafür Geld. Reisen bildet.

 

 
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Unser Startort ist 100 Kilometer südlich von Tirana in der UNESCO World Heritage Site von Berat. Berat wurde im dritten Jahrtausend vor Chr. besiedelt. Die Burg, die wir jetzt sehen, ist im 4. Jahrhundert vor Chr. von den Illyrer erbaut wurde, thront auf einem Hügel, der an die Saarschleife erinnert, aber von dem Fluss Osum umwunden wird. Die Illyrer wurden nicht in das Reich Alexanders des Großen (336-323 v.Chr.) integriert, sie waren zu mächtig. Die Illyrer sind somit identitätsstiftend für die Balkanvölker.

Im Inneren der Festung ist unser Zeltlager. Gegen die wenigen Touristen wird es mit Absperrband verteidigt. Von hier oben haben wir einen grandiosen Blick in die Ebene Myzeqe. Verwinkelten Gassen winden sich zwischen Kirchen und Steinhäuser durch. Die Moschee und die türkische Kaserne sind Ruinen. Wechselvolle Geschichte. Mazedonier, Griechen, Römer, Venetier, Burgunder und noch andere Völkern waren hier. Vor der Dreieinigkeitskapelle findet das Briefing für den Lauf statt. Tragen müssen wir nur unseren Tagesrucksack. Der Rest mit der Verpflegung für 6 Tage wird von der Organisation zum nächsten Camp transportiert. An der Laufstrecke gibt es alle 10 Kilometer Wasser, mehr nicht.

 

1.  Etappe 38 Kilometer, + 1100 m

 

Unterhalb der Burg ist der steile Stadtteil Mangalem, durch den wir zum Start hinunter laufen. Die Häuser stehen dicht, die Fassaden zum Tal des Osum haben alle große Fenster. Deswegen trägt Berat die Bezeichnung „Stadt der tausend Fenster“, die man aber nur sieht, wenn man ein paar Bierchen getrunken hat. Dafür ist keine Gelegenheit mehr. Am Ufer des Osum gibt es eine hübsche Fußgängerzone, dort empfängt uns die Bürgermeisterin und ein paar Schulkinder singen die Nationalhymne. Start.

Von der Brücke über den Osum wage ich einen schnellen Blick zurück auf den Burgberg und stelle fest, dass man höchstens 100 Fenster sieht. Nachdem ich alle Läufer vor der Kulisse fotografiert habe, bin ich Schlusslicht.

Schnell geht es durch den christlich geprägten Stadtteil Gorcia mit der Osmanische Steinbrücke von 1780 und der Kirche Shen Spiridon, dann nimmt uns ein Flusstal auf, das keinen Namen trägt. Nur in Berichten der Wehrmacht und der NATO gibt es vage Hinweise, wo wir entlanglaufen. Von dem jetzt verlassenen Örtchen Gjeroven zitiere ich mal einen Natobericht: „915 Tonnen Granaten gesprengt, drei Tote, keine Verletzten“. Es handelt sich um den Bericht über die Entwaffnung der Albaner nach dem Kosovokrieg. Die Waffen stammten aus der Zeit des Kalten Krieges. Jede Familie hatte einen eigenen Geschützstand, jedes Dorf einen Bunker. Albaniens Diktator Hodscha hatte Angst vor einer Invasion des Westens. Darüber kann man lächeln, wenn man im Westen aufgewachsen ist, aber die Albaner waren von NATO Staaten umringt und sind erst seit 2009 selber drin.

 

 
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Vom Dörfchen Rehove hat man einen herrlichen Blick auf die umliegenden Berge. Kopfsteinpflaster könnte man den Untergrund nennen. Anstieg. Wenige Bauern bestellen die kleinen Felder, grüßen freundlich. Von dem,  was wir hier machen, haben sie keine Vorstellung. Oft werde ich gefragt, woher wir kommen, wohin wir laufen. Die Verständigung per Zeichensprache ist nicht einfach.  Die Ortsnamen, die ich nenne, kennt man nicht. Wer in dieser Gegend wohnt, der hat keinen großen Aktionsradius.

Viel zu sehen gibt es nicht, nur einmal haben wir eine Aussicht zum Nationalheiligtum, dem Berg Tomorr (2616). Im August finden wahre Pilgerströme zum Baktashi Heiligtum statt, das auf halber Höhe liegt. Der islamische Baktashi Orden geht auf den Mystiker und Derwisch Hatschi Bektasch aus dem 13. Jahrhundert zurück. Ein Derwisch ist ein islamischer Hippie, der durch Tanzen, Askese oder auch Wein die Nähe zu Gott sucht: „ Die Trauben, die wir nicht essen können, die pressen wir und lagern sie in Holzfässern. Und was dann geschieht, ist allein Allahs Wille.“ Sehr sympathisch diese Glaubensrichtung.

Rechter Hand Blick auf den Shiraq. Hinweisschild  nach Komar, von wo mutmaßlich die Vorfahren von Ewald kommen. Es gibt viele zerschossene Ortsschilder an der Strecke, Orte aber nicht mehr. Im Weiler Coraj hat sich schon ein Laufpärchen zusammengefunden. Die Läuferin will nicht, der Läufer bleibt trotzdem an ihr dran. Gut für mich, ich rutsche jetzt schon im Global Ranking zwei Plätze nach oben. Global Limits bzw. Stefan Betzelt ist der Ausrichter dieses Laufes. Diesmal brauchte ich nicht kiloweise Markierungsbänder für ihn durch den Zoll bringen, oder gar die Marmorplatten, die es in fünf Tagen als Trophäe im Ziel gibt.

Das heutige Etappenziel ist eine große Schule. Stefan nennt es das „hässlichste Dorf“ Albaniens wegen dieser überdimensionierten Schule. Ich finde, es ist das schönste Dorf, denn neben der Schule sind drei Kneipen. Vielleicht sind diese Kneipen für albanische Helikoptereltern gedacht. Aber wenn, dann würde man sie hier Maultiereltern nennen. Der NATO Bericht spricht von 700 muslimischen Einwohnern des Ortes Buze. Das war einmal, jetzt gibt es höchstens noch fünfzig, und die zeigen keinerlei Glaubensrichtung. Während die Spanier eine gebratene Ziege schänden, trinke ich mit dem Wirt Raki, der aus heruntergefallenen Wildpflaumen gebrannt wird. Schon in der jugoslawischen Zeit war das Schwarzbrennen verboten. Alles normale Leute hier.

Hatte der Wirt vorher noch griechisch gesprochen, so fehlen ihm nach den albanischen Liedern, die wir lautstark mitsingen, die Worte. Mein Schnarchen hallt wenig später durch das Schulgebäude.  

 

2. Etappe 30 km, + 1260 m

 

Ich habe blaue Flecken, mutmaßlich jeder Läufer hat mich heute Nacht getreten. Heute Abend werde ich Ohrstöpsel verteilen.

Unser Start ist vor der dritten Kneipe, wo die Statue von Tafil Buzis steht, nach dem dieser Ort benannt ist. Der Typ war Widerstandskämpfer gegen die italienischen und deutschen Besatzer. Der Wirt grinst mich an, soll wohl heißen, dass ich stets  willkommen bin.  

 

 
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Der erste Ort nach Buz nennt sich Arrëz e Vogël. Ein Franzose würde übersetzen : „Halte an und vögel“, aber wir sind in Albanien und das „ë“ wird wie „a“ ausgesprochen und bedeutet so viel wie „Kleine Nüsschen“, was mutmaßlich kein Hinweis auf das Skrotum hiesigen Männer ist, sondern die  Walnüsse bezeichnet. Das nächste Örtchen nennt sich Arrëz e Madhe und bedeutet ganz simpel „Große Nüsschen“.

Stille ist keine Seltenheit in Albanien, doch hier auf der Strecke ist es sehr still. Nur wenn ich Läufer überhole, höre ich deren Klagen. Die vielen scharfkantigen Steine reißen die Füße auf. Ich klebe vorsorglich morgens meine Fersen ab. Wunde Stellen behandele ich abends mit Jodtinktur.

Die Hochwiesen dagegen sind ein Lauftraum. Kurzes Gras und Herbstzeitlose. Eine große Schlange verschwindet im Gebüsch. Die gefährlichsten Tiere jedoch sind Hunde, die ihre Schafherde verteidigen. Zwar hat Organisator Stefan viele Schäfer angesprochen, sie mögen ihre Hunde zurückhalten, doch sicherheitshalber stehen an neuralgischen Punkten Helfer, die mit Stöcken und Steinen die pflichtbewussten Tiere von unseren Waden fernhalten.

Von hier oben ist der Fluss Vjosë sichtbar. Die Vjosa gilt als der letzte lebendige Wildfluss Europas. Auf einer Länge von 270 Kilometern fließt sie ungezähmt und frei. Sie entspringt in Griechenland, fließt mal schmal durch Canyons, mal zwei Kilometer breit durch Auenlandschaft. In der Narta Lagune mündet sie ins Meer.

Am Ufer des Flusses schaue ich über die Mauer auf eine Terrasse, dort sitzt ein altes Pärchen. Schnell greift sie die Rakiflasche und verschwindet in der Hütte. „Una Schermania“ heißt „ ich Deutsch“.  Ein Grinsen geht über deren Gesichter, die Rakiflasche erscheint wieder, ich soll mich zu ihnen setzen. Drei Enkel hätten sie, zwei Söhne in Karlsruhe, eine Tochter in den USA, alle sprächen fünf Sprachen. Das alles verstehe ich nach 30 Minuten Zeichensprache. Brett humpelt auf einem Stock gestützt vorbei, ich muss ihn mehrfach anbrüllen, dann rettet eine Colaflasche sein Leben. Rebecca hört nichts, sie hat Ohrhörer, ist nicht mehr in dieser Welt.

Den Aufstieg zum Zielort Peshtan meistere ich jetzt locker. Mirella betreibt einen kleinen Kiosk mit Kühlschrank. Sie ist Postbeamtin, Emailverteilerin und so was wie die Bürgermeisterin von Peshtan. Sie verteilt auch die Unterkünfte für uns in diesem Bergdorf.

Ich bekomme eine Schüssel mit roten Früchten in die Hand gedrückt, sehen aus wie Oliven. Anscheinend sind es Gojibeeren, schmecken brutal sauer, ähnlich wie Schlehen. Ein Junge soll meine Tasche zu Haus 2 trage, doch er schafft den Berg mit der schweren Last nicht, also nehme ich ihm die Tasche ab.

 

 
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Haus 2 ist weiträumig und gehört dem Großvater, der im Hinterzimmer auf dem Sofa liegt und Kriegsfilme schaut. Die Enkel schauen zu, wie ich mich mit Wasser aus der Regentonne dusche. Unangenehm, ich versuche sie zu verscheuchen. Man zeigt auf den Verschlag, der wie vermutet die Latrine ist. Ein unglaublicher Ammoniakgestank empfängt mich, ich muss gleich würgen. Die Latrine ist  randvoll und mindestens so alt, wie der Großvater. Bademäntel hängen in dem stickigen Raum, der von 1000 Fliegen belebt wird. Ein kleines Loch im Boden soll morgen früh Zielscheibe für acht Läufer sein. Herrliche Aussichten.

Genauso gruselig ist das kleine Museum von Mirella, der guten Seele des Ortes. Sie ist auch Bergführerin und hat Fundstücke aus dem ersten Weltkrieg und dem Italienisch-Albanischen Krieg 1939 zusammengetragen. Alle albanischen Helme haben Durchschüsse. Nur der eine italienische Helm ist unversehrt. Auch wenn ich mir einen Helm spaßeshalber aufsetze, lustig sind die Fundstücke nicht. Makaber sind die vielen persönlichen Ausrüstungsgegenstände, die sie gefunden hat.

Die Bewohner von Haus 2 haben uns Abendessen gemacht: Knorkiges Rindfleisch, Reis, Pommes und Tomatensalat. Ich habe meine Matte in den Eingangsbereich gelegt und warte, bis es im Haus ruhiger wird, als die Tochter sich zu mir setzt und per Übersetzungsapp fragt, was ich beruflich mache. Ich schreibe auf ihrem Handy zurück, dass ich Arzt sei. Blöde Idee, denn sie schreibt, sie sei Krankenschwester, und ich solle ihr einen Job in Deutschland besorgen. Dann sagt sie „Të dua“, ausgesprochen Ta Dua, und die App übersetzt:  „I love you“. Im Eingangsbereich, wo ich schlafen will, sind die Schuhe der Großfamilie gestapelt. Schlechte Wahl des Schlafortes, denn aggressive albanische Schuhbakterien kriechen nachts in meine Bronchien. Läufer, die nachts zur Latrine müssen, laufen auch noch an mir vorbei, selbst die blöde Katze bringt den Fußboden in Schwingungen. Ich kann nicht schlafen, Mücken umschwirren mich.  Ich liebe da Leben eines Streuners.

 

3. Etappe, 55 km, + 2100 m

 

Um 4:30 Uhr schleppe ich mich mit meinem schweren Gepäck hinunter zum Kiosk von Mirella. Dort gibt es heißes Wasser, das uns jeden Morgen und Abend für die Zubereitung unserer Astronautennahrung bereitet wird. Längst wissen alle 39 Laufkameraden, dass ich morgens nicht ansprechbar bin und machen sich einen Spaß daraus, mir ein Gespräch aufzuzwingen.

 

 
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Kontrolle der Pflichtausrüstung. Los geht’s. Wir sind am Eingang zum Zagoria Tal. Zagora ist in der Sahara, dort bin ich im November, hier fließt die Zagoria durch das Massif des Lunxheri (2160 m) im Westen und durch das Massif des Dhembeli (2100m) im Osten, bildet ein wildromantisches Tal. Wunderbarer Trail unter alten Eichen und urwaldartiges Gestrüpp, lange laufen wir in einer Reihe. Schon bald erreichen wir die osmanische Bogenbrücke ohne Geländer, die nur aus Steinen besteht und hoch gespannt ist. Respektvoll stehen wir davor. Wer wagt den ersten Schritt?

Die Steinbrücke wurde wie fast alle großen Bauwerke der Region in der Ära von Ali Pasha (1741-1822) gebaut und gewährt uns Übergang über den Fluss.

Viele Erdbeben hat diese Brücke seitdem überstanden. Seit 2013 liegt Albanien mit der Türkei im Clinch um die Rückgabe des Kopfes von Ali Pasha. Senkrecht stehenden Steinplatten bilden das Pflaster der Straße, so fanden die Räder Halt. Für unsere Füße sind diese stillen Zeitzeugen eine Tortur, doch künden sie von einer glanzvollen Vergangenheit des Karawanenhandels. Heute liegt dieser Landstrich brach. Ungeklärte Eigentumsverhältnisse und Auswanderung  sind Grund dafür. Und dann sind da auch noch die vielen Bunker, die eine großflächige Bewirtschaftung verhindern. Reihe hinter Reihe sind sie vergraben. Der Reihenabstand wird immer enger, je näher wir der Grenze nach Griechenland kommen. Rund 700.000 dieser Bunker, die uns kaum sichtbar anstarren, soll es geben. Panzersperren am Pass.

 

 
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Am Kontrollpunkt sagt man mir, ich sei letzter der Läufer. Ich beginne eine großartige Aufholjagd. Bergsicht auf das Lunxheria-Gebirge und den Cajupi, 2156 m,  wir kommen in die Region Nivan. William Tilman, einem der letzten großen Entdecker des 20. Jahrhunderts, ein Himalaya-Pionier, der hier im zweiten Weltkrieg kämpfte, hat die Gegend beschrieben. Nicht nur Byzanz und das Osmanische Reich haben Spuren hinterlassen, auch das kommunistische Erbe wiegt schwer in der Region. Bunker, alte Lagerhallen und Partisanenmonumente sind nur einige der Überbleibsel des stalinistischen Regimes. Die Entwaffnung der paramilitärischen UCK , die in Deutschland gegründet wurde, erfolgte gegen Bares. Polican und Suhe sind verlassene Orte, in Suhe ist der zweite Kontrollpunkt (CP). Die Indonesierin Waki wird aus dem Rennen genommen, sie verträgt die Hitze nicht. Weiter geht es entlang mehrerer Reihen Panzersperren.

Stunden später sehe ich das historische Gjirokaster, UNESCO Welterbe, bekrönt durch eine gewaltige Festung, die bereits im 3. Jh. v. Chr. von den Illyrern angelegt wurde aber erst durch Ali Pasha ihre heutigen Ausmaße erhalten hat. Gjirokaster ist in den steilen Hang unterhalb der Festung gebaut.

Eine wunderbare neue Teerstraße endet vor einer rettenden Dorfkneipe. Die traditionellen, grauen Steinhäuser müssen einmal sehr schön gewesen sein. Bis auf wenige sind sie nun aber dem Verfall preisgegeben, sie verrotten weiter. Ich muss auch weiter, liege mittlerweile auf Platz 24.  Von hier oben kann ich jetzt den Viroit See sehen. An dessen trockenem Ufer erkenne ich die aufgereihten Zelte. Mein schneller Zieleinlauf zusammen mit Arun krönt diesen Tag.

Das Camp am See, in dem man nicht baden kann, ist trostlos. Keine Sitzgelegenheit, nicht mal in den Klozelten, die ein wenig abseits stehen. Zwei Bretter geben Trittsicherheit über dem braunen Loch. Nach getaner Arbeit schaufelt man Erde drüber. Hygiene wird bei dieser Veranstaltung groß geschrieben.  Es gibt Desinfektionanlagen, in denen man sich die Hände reinigen kann. Nichts wäre schlimmer als ein allgemeiner Zusammenbruch. Die Kelle, mit der man sich heißes Wasser in seine Astronautennahrung schöpft, darf man nur mir Händen anfassen, die vorher in Chlor gebadet wurden. Die letzten Läufer kommen in der Dämmerung an, da liege ich schon im Zelt und horche wie  Dan seinen Zelteingang mit Mageninhalt dekoriert, er wird morgen nicht mitlaufen.

 

 4. Etappe: 39 km  + 1900 m

 

Die Stimmung heute Morgen ist super.  Das ändert sich nach 400 Metern, die wir am See entlanglaufen, denn auf den Steinen reißt es einige Läufer. Ein Sturz ist nach all den Tagen nicht elegant, nur gemeinsam können wir die Gefallenen wieder auf die Beine bringen. Ultralauf ist entwürdigend. Wir queren den Fluss Drin, der in den Drino mündet und der mündet in die Viosa, was keinen Arsch interessiert. Interessant sind die Teddybären, die reihenweise an den Zäunen der Felder hängen. Sie künden nicht von der erfolgreichen Vermehrung des Feldbesitzers, sondern sollen die Blicke ablenken.

 

 
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Wir laufen durch die ehemalige Cannabis-Hauptstadt Europas: Lazarat, einst Kolonie von Aussätzigen, wurde nach Lazarus benannt, den Jesus von den Toten auferweckte. Dann brachte man hier Antikommunisten unter und schließlich kamen die Drogenbarone. Vor vier Jahren wurde der Ort von Polizisten gestürmt. Die Bewohner wehrten sich mit Maschinengewehren und Panzerfäusten. 900 Tonnen Cannabis wurden hier einst geerntet und  4,5 Milliarden Euro pro Jahr dafür eingenommen. Die hiesigen Prachthäuser sind einmalig für Albanien. Jeder ehemalige Drogenbaron hat an seiner Eingangsmauer einen Kreis mit Kreuz angemalt bekommen. Jedes Haus hat das. An einer besonders schönen Villa öffnet gerade jemand sein Panzertor, ich frage nicht nach Wasser. Er nennt sich Gjerji, spricht englisch, lädt mich auf seine Terrasse ein. Er erzählt von italienischen Helikoptern und wie sie sich erfolgreich wehrten. Er erzählt von schwerbewaffneten Spezialeinheiten, die sie beschossen. Ich danke für das Bier, er wirft mir noch drei in den Rucksack. Guter Mann. Die Italiener berichten von 650.000 zerstörten Cannabispflanzen in diesem Drogenkrieg. Wer das gezählt hat, der muss ein Genie sein. Am Fuße des Hanges, der einst mit diesen Pflanzen bewachsen war, sehe ich eine Reihe von dunklen Bunkern, die offen stehen. Es sind etwa zehn, in denen hiesige Produkte einst vor dem Zugriff der Polizei gelagert wurden. Zwanzig Prozent vom Ertrag bekam ein Polizist. Albanien ist immer noch das korrupteste Land der Welt. Vorhin bei Gjerji hatte ich deswegen die Hand aufgehalten, ihm erzählt ich würde über ihn berichten. So kam ich zu den vier Bieren. Korruption ist geil.

Am ersten Kontrollpunkt hole ich die Hälfte der Laufkollegen ein.  Ich brauche natürlich kein Wasser,  bin fit für den Anstieg, der durch ehemalige Plantagen führt. Leider kein gefiedertes Blatt zu sehen, nur ein paar alte Zäune.

Ein Aufstieg ist trügerisch, denn man sieht nie den Gipfel, es folgt immer die nächste Welle. Zunächst sind wir eine lustige Truppe, doch bald kämpft jeder für sich. Mark fragt noch ein letztes Mal nach Rebecca und Lena, doch irgendwann kämpft auch er nur noch für sich selbst. Oft muss ich mich in den Schatten setzen.  Die albanischen Schuhe, neben denen ich schlafen musste, haben meine Bronchien malträtiert, ich bin fertig. Auf den rutschigen Schotterhalden in der brennenden Sonne verliere ich den Anschluss. Schatten und Nahrung geben die Mirabellenbüsche. Die Früchte sind saftig und süß. Das Beste aber, es gibt in dieser Höhe keine Insekten, mit denen ich diese köstlichen Früchte teilen muss.

Auf dem Pass  schaue ich staunend hinunter zum Ionischen Meer und seinen Inseln, die Schauplatz von Homers Odyssee waren. Nicht Homer Simpson, sondern der altgriechische Dichter, der von der Irrfahrt des Odysseus durch die Chlamydien erzählt. Oder waren es die Zykaden?

Seltsames Gefühl, wenn man nach einem großartigen Ultra auf eine kleine Welt schaut. Wie erbärmlich ist doch das Leben derjenigen da unten, die wie Seelöwen am Strand liegen und sich höchstens ab und an auf die andere Seite drehen. 

 

 
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Lena aus dem Kosovo posiert für Fotos. Ihre Fotos und Interviews gingen im Vorfeld des Laufes durch Presse und Fernsehen. Die albanische Ehre hängt jetzt an ihrer Leistung.  

Ich interessiere mich für das Kloster Mesopotam, dem Zielort, der von hier oben deutlich sichtbar ist. Ein kreisrunder Hügel, mit Zypressen bewachsen, deutet auf eine heilige Stätte der griechischen Antike hin. Die jetzige Kirche stammt aus dem 13. Jahrhundert. 500 Meter davor soll es eine Bar geben.  Dort muss ich Vorrat kaufen, denn es ist verboten, das Camp nach dem Zieleinlauf zu verlassen. Klingt bekloppt, aber ein Etappenlauf ist kein Volkslauf. 

Bis dahin sind es noch 20 Kilometer über eine steile, steinige Militärpiste. Meine Knieprobleme habe ich in den Griff bekommen, so kann ich jetzt diese grausame Piste in praller Sonne gut bewältigen. Zwei Stunden später erreiche ich Lefterohor, Kakodhiq, Delvine, Kostar oder Brajlat, jedenfalls eine schöne Stadt mit einer großen Bar, wo mutmaßlich die Hälfte der männlichen Bevölkerung anwesend ist. Meistens wird Backgammon gespielt, manchmal auch das sinnlose Domino. Ein wunderbarer Weg führt mich weiter entlang der Häuser, hinauf zu der nächsten Erhebung. Das weiße Minarett im türkischen Stil konkurriert mit den dunkelgrünen Zypressen. Jedes Haus hat Carports, in denen deutsche Autos stehen, darüber Weinreben. Der Müll wird in den Kurven unseres Weges entsorgt. Der Hauptanteil des Mülls besteht aus Windeln und Schuhen. Seitdem ich bei der Familie in Peshtan neben den Schuhen übernachtet habe, verstehe ich, warum man in Albanien Schuhe nur kurzzeitig nutzt.

Irgendwann komme ich in das Dorf Mesopotam.  In einem gläsernen Gebäude tanzen drei Männer, offensichtlich unter dem Einfluss von Raki um den Tisch, es ist etwa 14 Uhr. Der Wirt massiert mir die Waden. Immer wieder muss ich ihn stoppen, wenn er zwischen Kniescheibenband und Gastrocnemius greift. Höllische Schmerzen, aber er lässt sich nicht stoppen, er ist genial. Hinter dem  Fluss Bristrica, wo die schnellen Läufer schon baden, geht es hinauf zum Kloster, das  Ziel. Fünf Stunden sitze ich auf dem Hügel und genieße die Welt. Um 20 Uhr krieche ich ins Zelt. Viele Läufer, die nicht neben Schuhen übernachtet haben, husten trotzdem während der Nacht. Sie geben dem vielen Staub die Schuld. Ich glaube, es sind die ätherischen Ölen der Pflanzenwelt. Salbei, Gelber Enzian, Rosmarin, Thymian, Oregano, Myrte und Johanniskraut gelten zwar als gesund, sind aber eingeatmet zu viel.

 

5. Etappe: 43 km 1600 hm

 

Obwohl wir schon in der Nähe der Adria sind, müssen wir 1600 Meter hinauf, zunächst entlang der Bistrica. Auf der Straße zieht sich das Läuferfeld in der Morgendämmerung schnell auseinander und so stehe ich bald einer Meute Hunde alleine gegenüber, der ich mangels Steinen mit meinem Fotoapparat drohe. Plötzlich kommt ein fetter VW Amarok angebrettert, der Fahrer steigt aus, schnappt sich einen Hund, wirft ihn in den Kofferraum und fährt weiter. Die anderen Hunde flitzen weg. Habe ich das geträumt? 

An einem See liegen Skelette von Fischen. Das Ufer ist zerfurcht, schwer zu laufen aber wunderschön. Ein Dornenstrauch reißt mir den Arm auf. Das Blut ist dünn, ich bin gut hydriert. Tolles Foto mit blutigem Arm in der Morgensonne.

Erster Anhaltspunkt ist das Dorf Levine, wo tatsächlich schon eine Bar offen hat. Die Wirtin kommt sogleich mit einer Rakiflasche angerannt und will meinen Arm verarzten. Ich muss grinsen, alles normale Leute hier! Ich bestelle einen Tomatensalat mit Zwiebel und Gurken. 

 

 
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Auf einem uralten Bewässerungsdamm geht es weiter durch ein wundervolles Tal. Ich habe gerade großen Spaß am Laufen, da reißt es mich in einem Bachlauf von den Füßen. Meine Überschläge müssen genial sein, noch im Fallen lobe ich mich für meine Elastizität. Mein Fotoapparat ist weg. Katsuya aus Japan hilft mir bei der Suche. Ich weiß nicht, warum der Japaner fließend spanisch spricht. Am CP 2 gibt es ausnahmsweise mal Orangenscheiben.

Pandaleijmon ist nach weiteren fünf Kilometern erreicht. Sylvi hat mich gerade überholt, da reicht uns ein kleiner Junge Weintrauben der Grand Cru Lage und läuft freudestrahlend vor uns her. Ich sehe einen Kiosk und trete ein, Sylvi läuft weiter. Wieder kommt die Wirtin mit Raki für meine Wunden an. Die Kinder scharen sich um mich und leiden bei jedem Tupfer sichtbar mit.

Mein weiterer Weg führt mich unmittelbar an der Albanisch-Griechischen Grenze entlang. Am kleinen Stausee Perdhikarit  erkennt man Fundamente schwerer Geschütze. Unterhalb steht eine  Reihe mächtiger Bunker, die als Scheunen genutzt werden.

Der Blick geht jetzt auf eine Ebene, die von drei Seiten von Griechenland eingefasst ist. Mitten drin  steht ein einziger Baum, darunter erkenne ich zwei Läufer. Die werde ich mir jetzt holen. Über der Ebene, auf dem Berg sieht man die Militärstation Shales. Nach etwa zwei glühenden Stunden bin ich oben und werde von einer kühlen Meeresbrise empfangen. Nur noch zehn Kilometer heute und 15 morgen.

Die letzten Kilometer geht es entlang der Straße zum heutigen Zielort Murci. Am Straßenrand wachsen riesige, blau blühende Cannabispflanzen. Beim Versuch, einen Zweig abzubrechen, saue ich mich mit Harz ein. Just in diesem Moment kommt ein Polizeiauto und hält neben mir. Natürlich haben sie so ein eingeharztes Tier wie mich noch nie gesehen und ich merke, wie es im Hirn der Beamten rattert, bevor einem von ihnen einfällt, was er zu mir sagen soll: „Passporte!“ - „Yes I have!“ Kann sein, dass er kein Englisch versteht, kann sein, dass er nicht mit dieser Antwort gerechnet hat, kann sein, dass er Angst vor Anne hat, die mich jetzt grinsend überholt. Mit einem „I have no time for that shit!“ dampfe ich ab und überhole Anne wieder. Ich pflücke zwei Granatäpfel und reiche ihr einen. Das klappt, sie setzt sich an den Rand und puhlt die Kerne raus. Mit großem Vorsprung laufe ich ins Ziel. Auf dem  Sportplatz von Murci ist unser Zeltcamp schon aufgebaut. Die Wirtin vom nahen Restaurant bietet Hamburger und Getränke an. Ein Wasserschlauch dient als Dusche.

Meine Gesamtplatzierung, Platz 29 von 40 Läufern ist jetzt fest gemauert. Weder kann ich morgen noch die fehlende eine Stunde zu Anne aufholen, noch kann der sichtlich schwächelnde Arun mir noch eine Stunde abnehmen. Um 19 Uhr ist Dorffest, wie Tiere stürzen wir uns aufs Essen. Seltsam,  ich ernähre mich von Tomaten, Zwiebeln, Gurken, geraspeltem Kohl und nicht von Schnitzeln.

Eine traditionell gekleidete Tanzgruppe eröffnet den gemütlichen Teil des Abends. Zunächst singen die Männer. Der folgende Gruppentanz mag ein bisschen an den Sirtaki erinnern, der extra für den Film Alexis Sorbas erfunden wurde. Die Tänze in Südalbanien zählen aber zu den stolzen Tänzen, welche mir sehr gut gefallen. Die Läufer, die nun mittanzen nehmen dem Ereignis den Stolz, aber immerhin stehen sie nicht so teilnahmslos, wie ich auf der Dachterrasse. Ich bin Humphrey. Statt Whiskey habe ich Raki in der Hand. Links im Hauseingang sitzen die schwarzgekleideten Witwen, Stefan mittendrin. Auch cool. Noch cooler sind die Jungbauern, die mit kleinen Träckern durch´s  Dorf brettern. Alles normale Leute hier.

 

6. Etappe: 15 km, 100 hm

 

Wie bei Etappenläufen meistens üblich, ist die letzte Etappe eher symbolisch. Für uns geht es darum, recht früh im Amphitheater von Butrint anzukommen. Butrint, Weltkulturerbe, zählt zu den beliebtesten Touristenzielen Albaniens und zu den berühmtesten Sehenswürdigkeiten des Landes.

Butrint liegt zwischen einer Inlandlagune und dem 100 Meter breiten Vivar-Kanal, den wir nach 13 Kilometern mit einer Fähre überqueren werden. Mein Lauf dorthin wird von einer schweren, schuhbedingten Bronchitis überschattet.

 

 
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Die Gründungsmythen von Butrint passen alle zu Homers Beschreibungen vom Trojanischen Krieg. Demnach verdanken sowohl die Griechen als auch später die Römer ihre direkte Nachkommenschaft dem Helenos, dem Gründer von Butrint, dem Sohn des Priamos und der Aphrodite. Er soll aus dem brennenden Troja geflüchtet sein. Der Römische Schreiber Vergil setzt Butrint sogar mit Troja gleich.

Die ältesten Siedlungsspuren in Butrint sind 12.000 Jahre alt. Der Trojanische Krieg muss zwischen 1334 v.Chr. und 1135 v. Chr. stattgefunden haben. Homer schrieb die Geschichte zwischen 800-700 v. Chr. auf. Das antike Griechenland bestand etwa 1600 v.Chr. bis 145 v. Chr., bis es in das Römische Reich integriert wurde. Diese Zeitdimension hat mich mal interessiert. Die Ruinen, durch die wir laufen, nachdem wir mit der Fähre übergesetzt sind, interessieren mich kaum.

 

 

Nach einer schweren Runde über die Halbinsel erfolgt der emotionale Zieleinlauf ins römische Amphitheater. Ich habe eine tolle Woche hinter mir. Sämtliche Vorurteile gegenüber Albanien haben sich aufgelöst. Ich bin traurig, dass diese Reise zu Ende geht.

Am nächsten Tag fahre ich mit der Fähre nach Korfu rüber, von dort ist der Rückflug preiswerter. Der Tourismus-Schock ist aber gewaltig. Ich werde Albanien vermissen.

 

 

 

 


 
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