Die heutige Königsetappe beginnt mit der Fahrt nach Marialva, potentielles Versteck des Heiligen Grals. Für unseren Maurischen Mitläufer kurz erklärt: Der Heilige Gral ist der Kelch, in dem Christi Blut aufgefangen wurde, als er am Kreuz hing. Gemäß der Artussage soll der Kelch Glückseligkeit, ewige Jugend, Speisen und Getränke in unendlicher Fülle bringen. Das passt wieder zu unserem Seniorenlauf.
Im ehemaligen Zufluchtsort auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela gibt es viele mittelalterliche Gassen, die von gotischen Wänden flankiert sind. Unsere morgendliche Besichtigungstour führt uns zu einem kleinen Platz, wo sich neben einem gut erhaltenen Pranger aus Granit (15. Jahrhundert), der alte Kerker und das Gericht befinden. Neben dem Eingang zur Zitadelle (Wehrdorf) ist das Zeichen der Tempelritter eingraviert, daneben die Maßeinheiten, die für dieses Dorf galten. Alte Quellen schreiben, dass der Gral in der Zeit gefunden wird, wenn das Siechtum des Königs eintritt, die Unfruchtbarkeit des Reiches, die Sterilität der Gemeinschaft. Der Zeitpunkt ist also gekommen, die Gralsgemeinschaft wartet auf mich.
Letztendlich ist der Trank aus dem Heiligen Kelch auf germanische und mesopotanische Riten zurückzuführen und wird in der christliche Eucharistie fortgeführt.
Portugals erster König, Don Afonso Henriques, hat die Burg im 12. Jahrhundert mit Hilfe der Tempelritter erobert. König Afonso II hat die Burg seiner Geliebten Dona Maria Alva gegeben, daher der Name Marialva, die wiederum nach den hier häufig wachsenden Malven benannt wurde.
Im 19. Jahrhundert verließen die letzten Einwohner die Zitadelle, deren Bauten alle aus dem 12. Jahrhundert stammen. Geblieben ist eine wunderbare, heroische Geisterstadt, die in den Wirren der Rückeroberung von den Mauren wunderbar erhalten geblieben ist. Nur die zwei Kirchen der Tempelritter wurden nach der gewaltsamen Zerschlagung des Ordens abgetragen und neu im brasilianischen Stil des Rokokos aufgebaut. Die Altäre aus schwarzer Eiche sind dick mit brasilianischem Gold bedeckt, an der Decke edle Gemälde der portugiesischen Könige.
Wir fahren weiter nach Süden, den Fluss Côa hinauf nach Cidadelhe, einer Zitadelle aus keltischer Zeit. Brutus, der Herr des Feuers, höchstpersönlich hat 134 v. Chr. diese keltische Burg niedergebrannt. Zwei keltischen Mauerlinien sind erhalten geblieben, umfassen den Hügel, auf dessen Höhen römische und mittelalterliche Fundamente erhalten sind. Lustlose Ausgrabungen auf der Suche nach dem Gral haben auf dem isolierten Hügel eine wüste Landschaft hinterlassen, die der Erhabenheit dieses Ortes keinen Abbruch tut. Der Hauptplatz mit seinen drei Kreuzen wimmelt von Security, es wird ein Liebesfilm gedreht, das schließe ich aus den vielen gutaussehenden Damen vom Set, die uns bewundernd anschauen. Chris hat keine Chancen, er ist in Hundekacke getreten.
Wir laufen einen fordernden Hang hinunter zum Fluss Côa. Er ist einer der wenigen Flüsse, die von Süden nach Norden fließen. Auf 114 Kilometer Länge fließt er parallel zur heutigen Grenze zu Spanien. Im Mittelalter war er der stark befestigte Grenzfluss zwischen dem spanische Königshaus Leon-Kastilien und dem Königshaus von Portugal. Das einzige private Naturreservat Portugals ist die Faia Brava, „die wilde Buche“. Ein Schild am Eingang sagt, man sollte mindestens 25 Armlängen Abstand von Wildpferden und Wildrindern halten. Dass die Tiere wirklich wild leben sieht man an den vielen Knochen, die von Geiern und Adlern abgenagt wurden. Ich liebe diese halb offene Landschaften, die von uralten Mauern und Felsen durchsetzt ist. Zwischen knorrigen Korkeichen hüpfen Wiedehopfe, auf dünne Äste hat der Neuntöter seine Vorräte gespießt, ein unglaubliches Gezwitscher von mir unbekannten Singvögeln begleitet uns durch die milde Landschaft.
Im nächsten Dorf erkläre ich Tan aus Singapur, dass aus den birnenförmigen Quitten das Gelee hergestellt wird, das wir an den Verpflegungsstellen bekommen. Sein Handy gibt die englischen Übersetzung für Quitte: Quince. Die Quelle wurde einst von den Römern eingefasst, sie war Mittelpunkt des Midraskultes, den die Legionäre aus Mesopotanien mitbrachten. Dann wurde auf den Bau ein Kreuz gestellt, als Zeichen, dass Jesus über den Stierkult, den Abraham so hasste, gesiegt hat.
Vorbei geht es an weiträumigen Ausgrabungsstätten, bis ich auf dem kurzen Straßenstück auf Rui und Theresa treffe, die das Überholschild, das mit „Amor“ unterschrieben ist betrachten. Ich kenne die beiden aus Sevilla, als ich mit ihnen nach meinem „Lauf der Legenden“ in der Herberge übernachtet habe. Ich habe kaltes Bier im Rucksack, wir setzen uns nieder und quatschen. Sie machen jedes Jahr den Caminho (Weg) nach Compostella, dieses Jahr ist der portugiesische Teil dran. Mein Trilha (Trail) führt weg vom Caminho, ich bin bewegt darüber, dass dieses Pärchen jedes Jahr händchenhaltend durch die iberische Halbinsel wandert. Mohamad hört von mir das erste Mal von dem christlichen Pilgerweg, oft zeigt er mir jetzt, wo er überall das Zeichen der Jakobsmuschel entdeckt hat. Vor unserer Zeit war der Jakobsweg ein Pilgerziel ans damals bekannte Ende der Welt, wo die Sonne ins Reich der Finsternis eintauchte. Dann tauchte der Kopf des im Heiligen Land geköpften Apostels Jakobus in Santiago auf, und die christlichen Pilgerreisen begannen. Ob glaubend oder nicht, jedem Läufer jucken die Füße beim Wort Jakobsweg.
Im nächsten Ort entdecke ich ein Denkmal von Don Manuel, dem König von „Indisch Brasilien und Guinea“. Witzig, man dachte damals, als er einfach mal in diesem Ort besuchte, dass man Indien entdeckt hatte. Brasilien wurde nach der Holzart Pau Brasil benannt, aus dem man Farbe gewann.
Nach einem wunderschön harten Lauf durch die Weinberge erreiche ich Castelo Melhor, das von den Turduli (500 v.Chr.) erbaut wurde, was ich erwähne, weil der Name des keltischen Stammes lustig klingt. Was jetzt zu sehen ist, ist die Festungsanlage, die der König von Leon und Kastilien als Grenzstation zu der jungen Nation Portugal errichtet hat. Portugiesen weigern sich grundsätzlich Spanisch zu sprechen, doch sie verstehen mich, so wie ein Holländer mich versteht, wenn ich Deutsch spreche. Aber, wer von uns möchte noch Holland zum Reich zählen? Der Holländische Teil unserer Lauftruppe spricht mich glücklicherweise nicht auf die desaströsen Spiele unserer Fußballnationalmannschaft an, das machen eher die Portugiesen.
Am nächsten Verpflegungspunkt entdecke ich einen Gedenkstein: Angola, Mozambik, Guinea. Ich bin da kein Gutmensch, für mich sind die Portugiesen das große Seefahrervolk, das die Welt erobert hat.
Gegenüber von Castelo Melhor, auf einem höheren Bergsporn, liegt die Kapelle Miradouro de San Gabriel, wieder ein Zeichen, dass unter dem Schutz des Erzengels der christliche Glaube den der Kelten überwunden hat. Fast hochalpin und äußerst witzig ist jetzt die Kletterei hinauf. Carlos steht oben und filmt mich, als ich den Fotoapparat zwischen die Zähne klemme und mich hocharbeite. Einfach Klasse seine Trailideen!
Am nächsten Ort sitzt eine ältere Dame aus Frankreich neben dem VP: „Es ist hier so langweilig“. Ich antworte, dass es doch heute mit uns wie Weihnachten ist. „Ja, aber nachher ist es wieder langweilig!“ Auch die dicken Männer auf der Steinbank strahlen kaum Lebensfreude aus, dabei glänzt von hier oben der Douro in aller Pracht. Er ist so fischreich, dass man die Kringel sieht, wenn die Fische Insekten von der glatten Wasseroberfläche greifen.
In Nova Vila de Foz Côa ist unser Ziel, Mohamad läuft hinunter ins Tal, sieht dann aber ein Schild Richtung Kirche und zementiert noch seinen zweiten Platz in der Gesamtwertung. Ich sehe natürlich einen Kiosk. Dass ich 50 Meter vor dem Ziel bin, raffe ich nicht, verzichte lieber auf eine gute Platzierung und mache Ferien.