Der GR20 quer über das Gebirge der Insel Korsika ist abgesehen vom Jakobsweg der wohl bekannteste Wanderweg Europas, allerdings aus völlig anderen Gründen. Oft wird er als schwerster Fernwanderweg Europas bezeichnet. Wegen seiner landschaftlichen Schönheit eroberte sich schon vor Jahrzehnten Kult-Status. Auch ich will schon sehr lange dort hin. Umso besser, dass ich nun nicht als Wanderer und mit schwerem Rucksack, sondern mit vielen gleichgesinnten Trailrunnern und leichtem Gepäck dort meine läuferischen Grenzen erkunden kann.
Die meisten Reiseführer teilen die Strecke in 15 oder 16 Tagesetappen. Wir wollen es in 5,5 Tagen schaffen. Die Kilometerangaben gaukeln eine leichte Woche vor, aber ich weiß schon bei der Anmeldung, dass dies für mich eine der größten läuferischen Herausforderungen überhaupt sein wird. 180 km und 12000 Höhenmeter klingen nicht nach allzu viel mehr als z.B. beim Ultratrail du Mont Blanc. Auf Korsika ist aber die Strecke technisch außerordentlich schwer, so dass wohl jeder Läufer trotz Aufteilung in mehrere Tagesetappen je nach Trittsicherheit und Schwindelfreiheit nur die halbe Durchschnittsgeschwindigkeit im Vergleich zu einem der üblichen Ultratrails einplanen sollte. Den Nonstop-Streckenrekord hält Francois D´Haene mit knapp über 31 Stunden.
Doch uns geht es nicht um Rekorde. Bei unserem Laufabenteuer wird keine Zeit gemessen. Für uns zählt einzig und allein die große Herausforderung, diese anspruchsvolle Strecke überhaupt in 5,5 Tagen zu schaffen. Und das ist auch für erfahrene Läufer schwer. Dafür werden wir mit grandioser Gebirgslandschaft, unberührter Natur, einer traumhaft schönen Vegetation und einer herrlichen Woche mit vielen anderen Trailrunnern belohnt.
Wer wissen will, warum man hier auch die Maßeinheit "Eidechsen pro Stunde" einführen könnte, warum Kaffeetrinken für Trailrunner gefährlich sein kann und was ein Schuhfriedhof ist, der sollte weiterlesen.
Am Samstagabend fliege ich nach Korsika. Schon 100 Minuten nach der Landung esse ich am alten Hafen in Bastia eine Pizza. Am nächsten Morgen bleibt mir noch genug Zeit, durch Bastia zu spazieren, bis ich nach Calenzana fahre, wo sich um 18 Uhr beim Gîte 22 Läufer treffen. Fünf weitere, die mitkommen wollten, mussten leider kurzfristig absagen. Beim Briefing zeigt uns Michael Raab, der unser Abenteuer vorbereitet hat, anhand einer großen Version des ausführlichen Roadbooks, das wir von ihm bekamen, worauf wir am ersten Tag achten müssen. Außerdem bekommen wir von ihm Shirts und Hoodies mit „GR20 Trans Korsika“ Aufschrift. Danach gehen wir zum Abendessen in ein Restaurant mit Aussicht auf das Meer und die Berge. Ein schöner Vorspann!
Noch nie in meinem Leben war das Wort "nur" so falsch. "Nur" 25,4 km müssen wir am ersten Tag schaffen. Das klingt nach einem leichten Tag zum gemütlichen Warmlaufen. Warm wird es wirklich. Sehr warm sogar. Aber 2954 Höhenmeter Auf- und 1793 Höhenmeter Abstieg mit einiger sehr anstrengender Kletterei darf man nicht unterschätzen. Viele GR 20 Wanderer verteilen diese Strecke auf die drei offiziellen Tagesetappen. Im Rother-Wanderführer werden als Gehzeit 19,5 Stunden angegeben.
Morgens um 5.30 Uhr laden wir unser Gepäck in den Tourbus. Heute müssen wir nur einen kleinen Rucksack mit genügend Wasser, etwas Proviant und möglichst auch die gewohnte Sicherheitsausrüstung für Notfälle tragen. Der Wetterbericht kündigt für die gesamte Woche wolkenfreien Himmel an und hat damit Recht.
Nach dem Gruppenfoto geht es um 6 Uhr gleich mit ordentlicher Steigung los, aber technisch ist der erste Aufstieg leicht und lässt nicht ahnen, was wir heute noch bewältigen dürfen. Die Strecke gefällt mir vom ersten Kilometer an. Würziger Kräuterduft umgibt mich. Die verschiedenen Düfte sind für mich rückblickend eines der Dinge, an die ich mich wohl am stärksten erinnern werde. Ich kenne keine andere Laufstrecke, die so viel Gutes für die Nase bietet. Vor allem später in den Kiefernwäldern würde ich die Luft gerne in Dosen verpacken und mitnehmen.
Ebenso typisch für den GR20 ist es, dass wir unterwegs häufig in der Ferne das Meer sehen. Zuerst blicke ich hinab zur Bucht von Calvi.
Schon am frühen Morgen ist es sehr warm. Bald überhole ich viele Wanderer, die zu einer noch früheren Uhrzeit gestartet sind. Viele von ihnen tragen 20 - 25 kg schwere Rucksäcke mit Zelt, Kocher und allem, was sie in den nächsten zwei Wochen brauchen. Ich bin sehr froh, heute nur etwa 3 kg zu tragen.
Nach der Bocca a u Saltu (1250 m) brauche ich erstmals auch meine Hände zur Fortbewegung. Nun erreiche ich die ersten Stellen, an denen man auch mal zwischendurch klettern muss oder sich an einer Metallkette vorwärts zieht. Hier wird wirklich Trittsicherheit und Schwindelfreiheit gefordert. Der GR20 ist keinesfalls für Anfänger geeignet. Für erfahrene Wanderer bzw. Trailrunner bietet er dagegen eine spannende Steigerung zu dem, was sie bisher kennen.
Beim Refuge d´Ortu di u Piobbu, einem kleinen, unscheinbaren Häuschen, liegt die erste offizielle Tagesetappe hinter mir und ich kann an der etwas abseits liegenden Quelle meine Wasserflaschen auffüllen. 2,2 Liter habe ich bis hier schon getrunken, der neue Wasservorrat reicht bei der Hitze kaum bis zum nächsten Refuge.
Die meiste Zeit laufe ich heute mit Sabine, Tom und Volker. Nun wird die Landschaft um uns herum wilder und der Trail wandelt sich immer öfter durch Kletterpassagen zu einem für mich ungewohnten Abenteuer. Wohin ich auch blicke - überall nur unberührte Natur. Keine Straßen, keine Häuser, keine Almen, selbst andere Wanderwege sehe ich nirgends. Und nach wie vor grüßt das blaue Meer aus der Ferne!
Hier leben unglaublich viele Eidechsen. Alle paar Schritte huschen die prachtvoll gemusterten Tiere von den Steinen unter unseren Füßen. Hundert Eidechsen pro Kilometer ist wohl keine Übertreibung.
Bei der Bocca Piccaia (1950 m) wächst meine Begeisterung für diese Gegend sogar noch. Wenn wir zwischendurch mal kurz im Stau hinter einigen Wanderern stehen, die sich an manchen ausgesetzten Passagen nur langsam voran trauen, kann ich in aller Ruhe verschnaufen und die Umgebung genießen.
Dann steigen wir zum Ende der offiziell zweiten Etappe ab. Beim Refuge de Caruzzo bestellen wir Cola und Omelette. Anschließend geht es hinab zu einer großen, schwankenden Hängebrücke. Unten im Bach baden viele Leute.
Der nächste Aufstieg scheint bei dieser mörderischen Hitze kein Ende zu nehmen. Immer wieder fordern steile Granitplatten Trittsicherheit und vor allem auch guten Grip an den Schuhsohlen. Mich begeistert die Strecke.
Endlich erreichen wir die Bocca di a Murvella (2025 m - Osterhasenscharte). Wir denken nicht dran, dass laut Roadbook bald noch eine weitere Scharte folgt und steigen auf einem Trail in Richtung Tal ab. Erst als wir einige Minuten lang keine rot-weiße Markierung sehen, ist klar, dass wir umkehren müssen.
Der GR20 ist hervorragend markiert. Hier sind die Abstände zwischen den Markierungen viel dichter als in den Alpen. Wer hier fünf Minuten lang an keinem Zeichen vorbei kam, der ist garantiert auf einem falschen Pfad. Wir steigen wieder hinauf und folgen dann der Markierung, bis Sabine meint, hier wären wir vorhin schon bergab gestiegen. Mist! Wir marschieren gerade wieder zurück zur Osterhasenscharte!
Bei der Bocca di Stagnu (2010 m) sehen wir das 600 Höhenmeter tiefer liegende Tagesziel unter uns. Der Abstieg ist höllisch steil. An manchen Stellen muss ich überlegen, wie ich da hinab kommen soll. Offiziell gelten unsere Reservierungen für die Übernachtung im Refuge nur bis 19 Uhr. Wir müssen uns nun beeilen. Dann passiert es! Ein Fuß bleibt unter einem Stein hängen! Zum Glück nichts gebrochen! Doch ich kann diesen Fuß nun nicht mehr richtig belasten, bei so einem brutal steilen Abstieg ein böses Handicap.
Irgendwie schaffe ich es dann doch, um 19:15 Haut-Asco zu erreichen, wo ich meinen Platz im Mehrbettzimmer im Gîte bekomme. Wie wir übernachten wollen, konnte vorab jeder von uns selbst entscheiden. Michael gab uns frühzeitig detaillierte Infos zu allen unser GR20 Abenteuer betreffenden Themen. Zur Wahl stehen immer die sehr spartanischen Lager in den Gîte oder Refuge, Zelte, die vor Ort fest aufgebaut und an Wanderer vermietet werden oder heute und übermorgen auch gute Hotelzimmer. 13 Stunden war ich heute unterwegs. Viele von uns kamen natürlich schon ein paar Stunden früher an. Alle laufen immer zu zweit oder in kleinen Gruppen. Gemeinsam mit den anderen esse ich auf der Terrasse des Hotels zu Abend.
Dienstag
Die heutige Etappe ist sehr viel länger als das, was wir gestern geschafft haben. Die einstige GR20-Strecke durch den gefährlichen Cirque de la Solitude wurde inzwischen durch eine neue Route ersetzt.
Schon beim Aufstehen merke ich, dass ich den Fuß noch immer kaum belasten kann. Soll ich vernünftig sein und aufhören? Nein, ich will unbedingt weiter! Doch von Anfang an ist klar, dass ich heute alleine unterwegs sein werde, denn in dem Zustand liegt mein Tempo irgendwo zwischen den langsamsten unserer Gruppe und durchschnittlichen Wanderern.
Der erste, eigentlich recht einfache Kilometer, klappt mit dem Fuß überhaupt nicht. Fluchend kämpfe ich mich Schritt für Schritt voran. Doch die herrliche Morgenstimmung mit rotem Himmel und dann den ersten von der Sonne angestrahlten Gipfeln halten mich davon ab, doch noch umzukehren.
Wieder sind viele Wanderer unterwegs. Schon geht es mit Klettern und an Ketten Hangeln weiter. Und wieder sehr, sehr steil! Als bei Pointe des Eboulis (2607 m) der erste Aufstieg geschafft ist, kann ich mir nicht vorstellen, heute noch viele weitere Pässe zu bewältigen.
Nach Übergang zu einer anderen Scharte sehe ich das Refuge de Tighiettu (1683 m) weit unter mir. Anfangs bietet der Abstieg einige schnelle Trails, dann kostet ein Abschnitt wieder sehr viel Zeit. Außer Wanderern sind am GR20 auch viele Trailrunner unterwegs. Wenn mich welche in hohem Tempo überholen, werde ich echt neidisch. Mit gesundem Fuß würde ich hier auch nicht so schleichen. Doch inzwischen ist klar, dass ich heute nicht hätte starten sollen.
Andererseits bin ich froh, immer noch unterwegs zu sein, denn heute komme ich an sehr vielen gigantisch großen Kiefern vorbei. Solche außergewöhnlichen Baum-Wunder habe ich noch nirgends gesehen.
Nach einigem Auf und Ab kostet mich der Aufstieg zur Bocca di Foggiale (1962 m) wieder viel Zeit. Nun geht es hinüber zum Refuge de Ciottulu di i Mori. Weiter unten im Tal begeistern mich danach erneut erstaunliche Riesenbäume.
Erst gegen18.30 Uhr erreiche ich den Tourbus, der vor dem Hotel Castel de Vergio (1414 m) steht. Da drei unserer Tagesziele nicht mit Fahrzeugen erreichbar sind, müssen wir an den Tagen jeweils unterwegs unser Gepäck für die Übernachtung und den nächsten Morgen aus unseren großen Taschen holen. Doch ich habe heute absolut keine Chance, die restlichen 15 km bis zum Refuge de Manganu zu schaffen. Ich fahre hinab zur Küste. Allzu gerne wäre ich mit den anderen weiter gelaufen, aber ich will den Fuß nicht langfristig ruinieren. Nicht nur der Fuß ist lädiert. An meinen erst vor fünf Wochen gekauften Schuhe fehlen schon die drei großen Stollen in der Mitte der Sohle.
Für die anderen stehen heute 28 km mit 2102 hm Auf- und 2461 hm Abstieg an, was sich zwar von den puren Zahlen her nach wenig anhört, aber für einige wegen der erneut sehr anspruchsvollen Strecke Ankunft in der Nacht bedeutet.
Da wir mit dem Auto schon früh das Tagesziel am Col de Vizzavona erreichen, verbringe ich mit Volker, der heute ebenfalls eine Zwangspause einlegen muss, den Nachmittag an einem Bach mit vielen kleinen Wasserfällen und Badegumpen. Selbst die paar Meter Abstieg hinab schaffe ich mit dem verletzten Fuß kaum. Mehr krabbeln als steigen! Aber dafür kann ich dort die Füße immer wieder im kalten Wasser kühlen.
Das Abendessen im Hotel Monte d´Oro, einem alten Gebäude mit sehr schönem, nostalgischen Ambiente, ist sehr gut, den Service kann man dagegen eher als weiteres interessantes Abenteuer betrachten. Donnerstag
Für die anderen beginnt der Tag mit vielen Kilometern auf zur Abwechslung mal recht gut laufbaren Trails. Volker und ich steigen erst 27 km später bei der Bocca di Verde (1289 m) ein. 70 der insgesamt 180 km „fehlen“ mir nun leider.
Hier wechseln die Läufer ihr Gepäck wieder beim Tourbus und genießen das gute Mittagessen. Frei herum laufende Schweine bieten ein beliebtes Fotomotiv. Solche Schweine findet man hier überall. Ich laufe auf einem angenehmen Trail voraus, um oben bei der Bocca d´Oru (1840 m) Fotos der Schnellen zu machen. Von oben sehe ich auch das blaue Meer an der Ostküste. Ein leichter Trail führt weiter zum Refuge de Prati (1820 m), wo sich viele Läufer und Wanderer um den Brunnen drängen.
Bald folgt wieder ein Aufstieg mit viel mühsamem Auf und Ab, mit kniffligen Klettereien und Balancieren über Felsblöcke und auf Granitplatten. Einige Stellen fordern wieder sehr gute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit. Das kostet viel mehr Zeit, als es von unten aussah, ist aber interessant. Ein Kilometer pro Stunde - daran gewöhne ich mich allerdings nur langsam. Bei Nebel wollte ich hier nicht unterwegs sein, da immer wieder Trampelpfade abzweigen und ins Nichts führen. Doch den GPS-Track, den Michael für uns erstellte, brauche ich aufgrund der guten Markierungen nie.
Endlich erreiche ich bei Punta de la Capelle (2041 m) den höchsten Punkt des Tages. Auch beim Abstieg gibt es wieder ab und zu Kletterstellen. Erst die letzten Kilometer hinab zur Bocca de Lapro (1525 m) kann ich einigermaßen schnell laufen.
Der Aufstieg zur Bocca di Furmicula (1954 m) wird durch einige Zwischenabstiege unterbrochen, auch danach folgt noch eine Weile Auf und Ab, immer garniert durch Blicke zum Meer. Endlich geht es dann doch dauerhaft bergab. Plötzlich sehe ich nicht weit unter mir Zelte, kurz darauf auch das Refuge d´Usciolu (1750 m). Hier ist am Abend eine wunderschöne Stimmung. Für warmes Abendessen, das es nur bis 18.30 Uhr gibt, komme ich zehn Minuten zu spät, aber Brot und leckerer Käse sind auch gut. Am Abend habe ich noch viel Spaß mit den anderen.
Wegen einem vierstimmigen Schnarchkonzert tragen zwei von uns ihre Matratzen auf die Terrasse und schlafen draußen. Drei aus unserer Gruppe haben es am Abend nicht mehr zum Refuge geschafft und übernachten unterwegs im Schlafsack. Als sie einige Stunden später hier im Refuge frühstücken, schüttet sich eine Kameradin heißen Kaffee über den Fuß und muss wegen böser Brandblasen direkt ins Tal absteigen, um einen Arzt aufzusuchen.
Um 5.20 Uhr breche ich auf. Der Himmel färbt sich rot. Es ist gerade hell genug, um schon ohne Stirnlampe zu laufen. Als ich gelesen hatte, dass wir heute einige Zeit dem Denkmalgrat folgen, erwartete ich eine nette Gratwanderung. Doch wir sind hier auf Korsika! Zehn bis dreißig Meter rauf, dann wieder so weit runter, immer so weiter, dazwischen Kletterei und nur einige kurze Abschnitte zum Laufen. Es bleibt abenteuerlich.
Dann folgt ein guter Downhill-Trail. Michael hat uns empfohlen, ab der Bocca di l´Angone nicht auf dem GR20 weiter zu laufen, sondern links der gelben Markierung der schönen alpinen Variante zu folgen. Ich mache es wie im Roadbook beschrieben, doch irgendwie führt mich die gelbe Markierung dann doch wieder auf den GR20 zurück.
Der GR20 wurde 1972 im Jahr der Gründung Naturparks eröffnet. Die alten Pfade der Hirten wurden zu einem durchgehenden Wanderweg verbunden, die Hütten der Schäfer zu Unterkünften für Wanderer erkoren.
Es geht nun durch eine leicht wellige Landschaft, wieder ganz anders, als das, was ich bisher auf der Insel gesehen habe. Bei großer Hitze muss ich bald an einem Bach meine Wasserflaschen auffüllen. Viele Kilometer kann ich nun laufen und muss nur zwischendurch ab und zu steigen.
Unterhalb des Monte Inducine (2134 m) kommen mir Volker und Christian entgegen. Sie wurden von der gelben Markierung richtig über den höchsten Gipfel im Süden der Insel geführt. Keine Ahnung, wo ich diesen Trail verlor. Der folgende besonders böse Abstieg ist Gift für meinen lädierten Fuß. Ich komme nur verdammt langsam hinab. Beim vor einigen Jahren abgebrannten Refuge d´Asiano, das momentan durch provisorische Zelte und Baracken ersetzt wird, fülle ich nur schnell meine Flaschen auf. Michael empfahl uns für den Nachmittag, die alpine Variante zu den Bavella-Türmen zu wählen, doch diese Kletterei würde mich wegen der Verletzung zu sehr bremsen, so dass ich garantiert erst nach der für heute Abend geplanten Abschlussfeier das Refuge erreiche.
Daher laufe ich auf der normalen GR20-Route weiter. Diese bietet einige Kilometer normales Trailrunning, dazwischen gibt es einige knackige Auf- und Abstiege.
Recht kaputt erreiche ich den Bavella Pass. Hier wartet wieder der Tourbus mit unserer täglichen Ration Erdinger Alkoholfrei und dem Gepäck. Da wir Läufer darauf angewiesen sind, dass der Bus rechtzeitig am richtigen Platz steht, kann Michael nicht zusätzlich Transportfahrten unternehmen, um Läufer, die so wie heute an einer anderen Stelle abgestiegen sind, mit dem Auto abzuholen. Auf dieser Insel kommt man mit Fahrzeugen nicht geradeaus von A nach B. Immer muss man zuerst über weite Straßen zur Küste hinab kurven und dann wieder über ein oder zwei Pässe hinauf. Aber das wissen wir von Anfang an. Größtmögliche Eigenverantwortung statt Rundum-Vollversorgung zählt zu den Dingen, die den GR20 Trans Korsika von der Masse anderer Läufe unterscheiden.
Nach einem leichten Abstieg folgen heute noch ein giftiger Aufstieg zur Foce Finoca und dahinter ein steiler Abstieg, bis ich endlich um 18.40 Uhr das Refuge de Paliri (1055 m) erreiche, wo die andern schon Wein und Bier trinken. Auch hier gefällt mir die Atmosphäre wieder sehr gut. Nach dem guten Abendessen bekommen alle GR20 Finisher von Michael eine schöne Gürtelschnalle. Die Reihenfolge, in der die Schnallen an uns vergeben werden, richtet sich nicht nach unserer Geschwindigkeit, denn die spielte bekanntlich keine Rolle. Eigentlich bekommt jeder die Schnalle, der die komplette Strecke geschafft hat, aber Michael zeichnet Sabine mit der ersten Schnalle aus, was jeder von uns gut findet. Sabine hätte die gesamte Strecke auf jeden Fall gut geschafft, kümmerte sich aber unterwegs immer um die Schwächeren und Langsameren, weswegen ihr dann einige Kilometer fehlten. Menschen wie sie sind für eine Gruppe unendlich wertvoll. Danach gibt jeder, der eine Schnalle hat, die nächste an jemanden anderes und begründet seine Wahl. Eine tolle Idee und viel schöner als eine Siegerehrung.
Samstag
Wer richtig frühstücken will, sollte sich seine Müsli-Packungen selbst mitbringen. Was man an den Hütten als Frühstück bekommt, ist dürftig. Am Abend kaufte ich ein kleines Stück Brot mit Portionsbutter und Marmelade. In der Nacht lies eine Maus nur noch Brotrinde und die Marmelade übrig. Zum Glück gibt mir Birgit von ihrem Müsli.
Heute sind es nur noch 13,6 km mit 384 hm Auf- und 1073 hm Abstieg, dieses Mal überwiegend tatsächlich meist auf Trails, die zum Laufen einladen. Mir gefällt diese Etappe am besten.
Zwischendurch baden wir alle an einem kleinen Teich. Welch herrliche Erfrischung. Wir nähern uns dem Meer. Bald liegt Conca unter uns, das wir schnell erreichen. Am unteren Ende des Ortes treffen wir uns beim Gîte. Als erstes kühle ich mit vielen Eiswürfeln den dick geschwollenen Fuß, dessen Zustand sich in den nächsten Tagen weiter verschlechtern wird. An meiner rechten Schuhsohle fehlen inzwischen die Hälfte aller Stollen. Doch damit scheine ich in guter Gesellschaft zu sein, denn vor der Dusche dient ein Müllcontainer als Schuhfriedhof.
Zum Abschluss überreicht uns Michael noch ein Finisher-Präsent. Dann heißt es, Abschied nehmen. Ich habe zwar durch meine Zwangspause einen Teil der Strecke nicht erleben können, aber die 110 km, die ich selbst unterwegs war, diese einzigartigen Lauf-, Marschier- und Klettertage bereicherten mein inzwischen mit so vielen tollen Lauferlebnissen beschenktes Leben um einige besonders schwere Streckenabschnitte, aber auch um großartigen Naturgenuss und um eine Woche gemeinsam mit vielen besonderen Menschen. Jeder Lauf ist anders - und das finde ich sehr, sehr gut.