Heute wird ein schöner Tag, Kurzstrecke, Urlaubstag, denke ich.Der erste Pass (2300) ist schnell genommen, dann geht es zügig zum PC nach Tasga (1941). Vor mir eine uralte, verfallene Kasbah, 12. Jahrh., sieht aus wie die untergehende Titanic auf rotem Sandstein. Sie wird eingefasst von einem pechschwarzen Lavariff, das etwa 20 Meter hochragt und eine natürliche Barriere zu dem drunter liegenden Ksar (Wehrdorf) bildet. Alles sehr, sehr stark verfallen. Ein deutsches Buch von 1890 schreibt, dies sei einmal ein wichtiger Wallfahrtsort gewesen.
Der Aufstieg nach Ait Ali Ouhamo ist verdammt heiss. An einem steinigen Abhang passiert es: Ein Fuß bleibt hinter dem anderen, ich rattere kreiselförmig auf den Grund der Schlucht. Feiner grauer Kies vor meinen Augen. Beide Arme blutig, das linke Bein komplett abgerissen. Nein, aufgerissen. Ich habe alles unter Kontrolle! Es dauert nur.
Die Schlucht von Ouazlim nehme ich mit links, den Adrar Pass (2680) auch noch, doch beim Mahboob (2540) wackeln mir die Füße. Der Wind ist zu stark und der Grat fällt beiderseits 600 Meter senkrecht ab. Ich sehe unter mir das Biviouc, die Zeltburg, in der wir heute übernachten werden. Dann krabbele ich auf allen Vieren den Grat entlang. Wenn ich aufstehe, um nach dem Weg zu suchen, rüttet der starke Wind an mir. Ist halt nicht Pfälzer Wald.
Tizi n Tichka (“gefährliche Bergweide”2650 m) so heisst der Platz hier und macht seinem Namen alle Ehre.
Unten angekommen steht Lahcen unerwartet vor mir. Augenblicklich liegen wir uns in den Armen, Gerald gibt eine Runde Underberg aus. Er sieht verdammt lustig aus, er hat sich bei einem Sturz die Schneidezähne rausgebrochen. Seine Lippen sind mit einer dicken Blutkruste bedeckt. Er redet wie ein kleines Kind, kann kaum lachen. Also erzähle ich ihm meine schmutzigsten Witze.
Beim Küchenzelt drückt man mir einen Eimer lauwarmes Wasser in die Hand, dazu eine Kelle, ich kann „duschen“. Im Zelt liege ich eingekeilt zwischen fünf Frauen. Könnte schlimmer sein.
Ich bin gut gelaunt, die Anwesenheit meines Freundes Lahcen baut auf. In seinem gestreiften Djallaba mit bunten Laufschuhen hüpft er rum wie ein kleines Kind und lacht über alle Backen.
Heute ist der Tag der Tage: Die Überquerung der N9, der einzigen Strasse, die den Hohen Atlas quert. Für mich bedeutsam, weil ich schon 1983 die Idee hatte. 2011 schrieb ich in meinem Bericht über den Zagoramarathon: „Nach einer weiteren Stunde haben wir die Passhöhe des Hohen Atlas, Tizi-n-Tichka auf 2260 m erreicht. Es wird der Tag kommen, da schnappe ich meinen Laufrucksack und laufe hier los. Einfach so, weil es ein wunderschönes, abenteuerliches und knallhartes Gebiet ist.“
Nach einem Kilometer queren wir die N9, die von Polizisten gesichert wird. Sie wird jetzt dreispurig ausgebaut, nachdem es im November 2014 mehr als 40 Tote gab. Die Strasse gründet sich auf einer alten Viehroute, wurde nach dem ersten Krieg von deutschen Kriegsgefangenen gebaut, die aus dem Lager Casablanca kamen. 1920 kehrten die letzten Gefangenen nach Deutschland zurück.
Heute werden den Touristen entlang der Strasse die tollsten Mineralienkreationen angeboten: da leuchten eingefärbte Galenitwürfel in Achatgeoden in den grellsten Farben der Saison, dummgläubige Touris zahlen für den letzten Mist utopische Preise.
Es gibt aber auch Geschäfte, die haben in den Schubladen wahre Schätze. Wer ein komplettes Abend-Service aus schwarzem Marmor mit versteinerten Ammoniten haben will, der wird hier für 100 -200 Euro fündig. Geil! Wer Ametyste, Achate und gleichzeitig Versteinerungen von Pflanzen suchen will, den würde ich von hier aus 40 km nach Süden, nach Sidi Rahal (heiliger Pilger) schicken.
Den Sponsornamen Rahal (Pilger, Reisender) sieht man bei allen Marathons in Marokko. Es ist ein marokkanischer Konzern, der im Bereich Catering und Großevents tätig ist, auf Messen in Deutschland mit seinem prominentesten Angestellten Mohamad Ahansal, auf unseren Autobahnen mit Segafredo und unseren Flughäfen mit Express Voyages. Auf der Sponsorenliste des Trans Atlas Marathons erscheint Marathon4you in einer Linie mit der New York Times und the guardian.
Das Gasthaus Refuge Tichka (2076) hatte ich letzten Monat noch im Tiefschnee fotografiert, jetzt stehen Korbstühle auf der Terrasse. Hier gibt es gute Pizzen, kein Bier. Sofort geht es auf den schwindelerregenden „Balkon-Trail“. Stahlkonstruktionen von 1900 stützen den Weg hoch über der Afra Schlucht. Es sind alte Schienen, man schaffte Kriegsmaterial auf die Saharaseite, man fürchtete den Einfall der Deutschen über Agadir. Auf der gegenüberliegenden Seite liegen die abgerissenen Leitplanken vom November 2014 wie Zahnstocher an den Steilhängen. Fette, krustige Schlieren aus Streusalz ziehen über das schwarze Vulkangestein in die Tiefe. Unten im Fluß liegen die ausgebrannten Autowracks, hier oben die blauen und gelben Bauplanen, die der Wind über die Schlucht gefegt hat. Der Weg wird von Toten gesäumt, er ist so alt wie die Menschheit, älter als der Titan Atlas.
Es folgt eine traumhafte Hochebene, die von Wanderern aus Marrakesch kommend durchquert wird. Sie können sich die Busfahrt nicht leisten, haben Plastikgeschirr dabei. Die Ebene ist teilweise mit Erbsen, teilweise mit mickriger Gerste bepflanzt, den Rest teilen sich Mohnblüten und das purpurne Knabenkraut.
Azgour (1200) ist schmutzig und häßlich, wie überall gibt es Satellittenschüsseln auf den Dächern. Wir sind auf der tiefsten Stelle des Trails, das Tal ist vollgepackt mit Mandelbäumen, Oleander, Weizenfeldern und Feigenkakteen. Die Kakteen stammen von den Spaniern, die sie aus Südamerika brachten. In der alten Welt gab es keine Kakteen, die stachligen Dinger in Madagaskar (ohh, da habe ich einen schönen Trail im November für euch!) sind Sukkulenten. 1200 Höhenmeter liegen nun vor mir bis zum Tizi N´Ghlis (2333m)
„Donnez bonbon“ bettelt ein etwa 14 Jähriger. Ich bin so aufgebracht, das ich ihm eine angesiffte Wasserflasche vor die Füsse werfe. Nicht mal „Bitte“ sagt der Rotzbengel und für das weltgrößte Solarkraftwerk bedankt er sich auch nicht. „Donnez Sssigarette!“ ruft er mir hinterher, ich zeige ihm den Stinkefinger. Die Bettelei ist extrem geworden, ich habe in allen Berichten darüber geschrieben. Es sind Touris und Läufer, die Stifte, Bonbons und Geld verteilen, allen nachfolgenden Läufern damit das Leben schwer machen. Andererseits kann ich mich bei diesem Trail nicht beklagen, immer gibt es Hilfe von den Leute hier, wenn ich per Zeichensprache nach dem Weg frage.
Das Hochplateau von Yagour ist im März Rastplatz für Millionen europäischer Störche. Das Plateau liegt in einer Höhe von 2300 bis 2700 Metern, ist wegen seiner tausenden von Felsmalereien aus der Zeit von 500-1000 v.Chr berühmt. Leider haben religiöse Fanatiker hier schon ihre Zerstörungswut ausgelebt. Das Tal strahlt eine seltsame Stimmung aus, es ist seit tausenden von Jahren ein Friedhof, deswegen gibt es keine Viehhaltung hier oben. Die Gräber sind nur mit Steinpyramiden gekennzeichnet. Einige Männer knien auf der weiten Ebene und und beten. Ein schöner Platz, um begraben zu werden.
Rahel, Abdul und Lahcen laufen nun mit mir. Rahel hat Angst vorm Abstieg, es geht 1000 Meter steil hinab, so lasse ich die drei zurück. Am Rande des Flußes Zat haben Hirten eine Art großes Schachbrett auf die Felsen gemahlt. Ich lache und tippe in irgendwelche Felder, dann wird diskutiert, ob gut oder schlecht, das ist lustig. Ich warte doch nur auf meine Mitläufer. Die kommen nicht.
Der Blick fällt nun auf den schneebedeckten Toubkal (4167).Tief unten kleben im Dunst die Lehmbauten kleiner Dörfer. Ich gerate auf einen Weg mit alten Markierungen. Später wird Lahcen sagen, sie hätten meine verzweifelte Suche anhand meiner Spuren erkannt. Es hilft nichts, ich weiss nicht mal, in welchem Ort wir übernachten werden. Als die Sonne hinter dem Toubkal verschwindet, kommen mir die Tränen. Es ist die vorletzte Etappe und ich hänge hier oben an einem Pass, der nicht im Roadbook steht.
Mein Plan steht fest: irgendwie runter in irgendein Dorf, dann Anruf bei der Rennleitung, falls es ein Netz gibt, und hoffen, daß es eine fahrbare Strasse gibt, damit man mich abholen kann.
Es ist ein trauriger Moment, der Abschied vom Finish. Jetzt geht es darum, die Nacht zu überleben.
Gemäß Vegetation bin ich etwa auf einer Höhe von 2500 Metern. Zurück kann ich nicht, ich muss dringend runter, sonst erfriere ich. Ich habe Glück, der Hang ist gut begehbar, sehe bald ein Lehmdorf im Felsen kleben. Eine junge Frau sitzt auf einem Felsen und heult, sie hat offensichtlich mehr, als nur den Weg verloren.
Dann! Ich glaub es nicht! An den schiefen Strommasten kleben zwei rote Punkte! Pure Freude! Ich bin zufällig auf den Weg gestoßen, der durch das andere Tal führte. Und in dem Moment klingelt das Handy. Lahcen fragt, ob ich den Weg gefunden hätte, sie bräuchten noch drei Stunden.
Eine halbe Stunde später laufe ich über die Hängebrücke über den Ourika und dann hinauf nach Imi N´Taddert, wo unsere Herberge ist. An diesem Abend habe ich das erste Mal herzhaft gelacht, richtig viel gegessen und versucht, auf der Seite zu schlafen.
Jetzt im Morgengrauen sehe ich Imi N´Taddart, recht hübsch am Ourika gelegen. Es gibt winzige Hotels ( b 6 Euro), kleine Geschäfte. Dann gelange ich nach Setti Fadma, einem der schönsten Ausflugsorte Marokkos: Inmitten des Ourika, auf kleinen Inselchen und Felsen stehen Sessel, Stühle und Grillanlagen zum Chillen. Bunte, improvisierte Brückchen führen hinüber ans andere Ufer, wo sympathische Restaurants an der Steilwand kleben.
60 km, also 25 Euro und 1,5 Std per Taxi, sind es von Marrakesch hierher. Die sieben Asgour Wasserfälle liegen oberhalb und sind über Leitern erreichbar, sodaß man ruhig in die Naturbecken eintauchen kann. Ab dem zweiten Becken ist man alleine.
Hier unten sind die Restaurants, die äusserst preiswerte Gerichte anbieten. In der Dunkelheit flackern die Lichter auf den Tischen der Gäste und leuchten die kleinen Kaskaden des Ourikas. Leichte Musik übertönt das Plätschern des Wassers. Ein Ort, der zum Verweilen einlädt.
Am Ende des Tales verlassen wir die Strasse und die Romantik. Zunächst ist das Ziel der Tizi Tibbasan ( 3200 ). In Imichi (km 15) ist der erste PC, wenige Meter dahinter ist die Gite von Brahim. Brahim kenne ich vom UTAT, wir hatten vor Jahren gemeinsam seine Bilder vom König angeschaut.
An der Gite ist der erste VP des UTAT, der von Oukaimeden kommend, hier die Weiche von Marathon auf Ultra ( 105 km) hat. Unter fetten Walnussbäumen könnte man hier einige Tage verbringen (ab 5 Euro/Nacht). Dann passiert es, ich laufe zurück nach Imichi. Ich weiss, es ist falsch, aber irgendwas wehrt sich in mir, auf 3200 Meter hinauf zu laufen. Dreimal komme ich an der Kreuzung vorbei, die garniert ist, wie ein Weihnachtsbaum. UTAT, TAM und sonstige Läufe kämpfen mit bunten Markierungen um zahlende Gäste. Lahcen ist unter mir, sucht Rahel. Wir brüllen uns noch zu, dann läuft er zurück.
Ich habe sichtlich Probleme, Luft zu bekommen, muss alle fünf Schritte stehenbleiben. Ich zwinge mich zu 20 Schritten, dann zu 40. Die Gegend ist nicht einsam, es sind viele Hirten unterwegs, düstere Gesellen. Auch der Typ, der ganze Büsche abschneidet, erscheint mir nicht geheuer. Zwei Schrumplige erneuern die alten Azibzs, die Tiergehege aus Steinen. Total nervig ist das ständige Wimmern der jungen Zicklein, die weit über mir in den Felsen kleben.
Dann endlich die Vorentscheidung: Ich bin oben am Pass Tizi Tibbasan, am Höhepunkt der 6 tägigen Reise. Ich bin auf 3200 Metern.
Stunden später, nach dem hohen Tizi N´Tamatert, laufe ich ins Mizane-Tal. Dann endlich durch Ilmil, dem Ort, in dem ich den ersten UTAT-Versuch abbrechen musste. Eine Entscheidung, die ich mir nie verziehen habe. Von hier starten die Toubkal Expeditionen, die Restaurants kleben an fetten Findlingen und senden fahles Licht hinunter auf meine Laufstrecke. Es ist ein schöner Ort, ein wenig Tourismus, nicht zu viel.
Etwa um 21 Uhr komme ich in der Dorfmitte an. An einem langen Tisch, direkt am Zielbogen, sitzen die Läufer, jubeln mir zu. Bin verwirrt, die postmarathonale Depression setzt sofort ein. Schlimmer denn je.
Werde ich fähig sein, wieder ein normales Leben zu führen? Niemals!
Meine Zehennägel sind schwarz, in die Fußsohlen haben sich Dornen getrieben. Die Beine und Arme sind schorfbedeckt, das MRT in zwei Tagen bietet einen schönen, 7 cm langen Querbruch der Rippe.
Ich hatte einen Lauf, hoch über Afrika!
P.S. Die nächsten Monate sind zu heiß für Läufe in Marokko, obwohl Mohamad einen Lauf in der Sahara „40 Grad+“ plant.
Meine nächsten Läufe in Marokko sind:
UTAT: 29.Sept 105 km, + 6500 hm. Mitte der Woche dann Aufstieg zum Toubkal, ich suche noch Mitstreiter.
Folgende Läufe begleitet interair :
Tafraout Ultra ( 72km ) 19.-20. Nov
Zagora Ultra ( 47 km) 17.-18.Dez
Den Ultra Trail Marocco Eco Sahara, 109 km 19.-25.Feb 2017 sollte man sich vormerken!
Der Trans Atlas Marathon im Mai 2017 wird eine andere Streckenführung haben, das Teilnehmerlimit wird jetzt erhöht. Frühzeitige Anmeldung empfehlenswert.