Dies ist kein Laufbericht von Könner zu Könner, sondern ein Leidensbericht eines naiven Anfängers. Seit 12 Jahre laufe ich Marathon, genauer gesagt Stadtmarathon, und bin erst im letzten Jahr darauf gekommen, mich einmal auf eine längere Strecke in der Natur zu begeben. Die Städte sind, bis auf die gute Stimmung durch die vielen Besucher am Straßenrand, eigentlich meist viel zu langweilig, zu flach, zu teuer und auch zu wenig erholsam.
Letztes Jahr also die Offenbarung beim Röntgenlauf, normale Marathondistanz. Man startet statt mit tausenden von Leuten mit rund einhundert, wechselt tiefenentspannt zwischen Laufen und Gehen, hält auch gerne einmal ein Schwätzchen, und das nicht nur am Anfang der Strecke, und genießt auch einmal einige Kilometer, auf denen man ganz allein mit der Natur ist. Ein paar Wochen später dann gleich noch mehr davon, der Siebengebirgsmarathon. Auch wieder um die 700 Höhenmeter, meist angenehme Anstiege und abfallende Strecken, Mitte Dezember natürlich eiskalt, aber für die Seele umso befreiender.
Also suche ich nach der nächsten interessanten Gelegenheit. Für mich als Düsseldorfer ist das meiste, wo es etwas bergiger ist, zu weit weg. Also der Blick in die Nachbarschaft: Holland zu flach, aber Belgien, da tun sich neue Welten auf. Über irgendeine der vielen Übersichtsseiten stoße ich mehr zufällig auf „La Tharée“, ein Trail in den Ardennen, Mitte März. Hört sich spannend an und auch etwas geheimnisvoll. Ein Video vom Vorjahr mit vielen lächelnden Gesichtern und bestem Wetter in wilder Natur. Ich bin sofort fasziniert. Außerdem handelt es sich um eine „Encore / Stop“ Strecke, sprich, es gibt mehrere Punkte, von denen aus man zurücklaufen kann, oder sich eben entscheidet weiter zu machen, ohne genau zu wissen, welche Strecke der nächste Wegpunkt bietet. Auch das ist für einen Anfänger spannend. Die kürzeste Strecke ist 14 km, die längste 50 km, also genau das, was ich für meine Idealdistanz halte, mal etwas mehr als einen Marathon.
Die Anmeldung ist dann ebenso geheimnisvoll wie die Informationsseite. Man muss bestätigen, dass man bestimmte Regelungen und Warnungen gelesen hat, was ich, wie immer im Internet, natürlich nicht getan habe aber trotzdem bestätige. Sind die Daten eingegeben kann man selber festlegen, wie viel man bezahlen will, lediglich 1 Euro ist als Mindestsumme genannt. Da ich immer noch nicht weiß, was geboten wird, biete ich einmal 5 Euro und bin nicht sicher, ob ich nun registriert bin oder an einer Versteigerung teilnehme oder mit der Anmeldung nur in einen Lostopf komme. Wahrscheinlich steht das irgendwo, aber ich lese Französisch zu oberflächlich, als dass ich es mitbekommen hätte. Dann stellt sich heraus, ich bin offiziell angemeldet und wenige Tage später ist die Registrierung auch schon geschlossen.
Am 11. März soll es um 9 Uhr losgehen, als Selbstversorger. Also beschaffe ich mir eine Weste mit Softflaschen, jede Menge Gels, die ich immer gut vertragen habe, dazu Proteinriegel, da man über Marathondistanz angeblich auch Festes essen soll, und ein paar wasserdichte Trailschuhe. Zum Training gehe ich jetzt regelmäßig in den Stadtwald in Düsseldorf Rath, wo es immerhin ein paar Steigungen gibt und man auch das steile Bergablaufen, oder was ich dafür halte, an einigen Stellen üben kann. Irgendein Video hat mir gesagt, dass man beim Hochlaufen ohnehin nicht zu schnell sein soll, da es da nicht viel zu gewinnen gibt, aber gerade bergab jede Menge Geschwindigkeit zu machen ist, wenn man die Beine nur schnell genug voreinander bekommt und sich nicht gleich von jeder Unebenheit oder Wurzel aus der Bahn bringen lässt, sondern es dynamisch nach unten laufen lässt. Meine letzten Trainingsläufe sind 30 km, für mich ganz anständig, da ich für das Trainieren ohnehin nicht viel Zeit habe.
Eine Woche vor dem Lauf dann immer noch keine Detailinformation. Vorsichtshalber habe ich ein Hotel für zwei Nächste gebucht, um nach dem Lauf am Samstag die Gegend noch etwas genießen zu können und ganz entspannt am Sonntag zurückzupendeln. Viele Hotels gibt es auf diesen Dörfern nicht, die meistern scheinen den Lauf mit zu sponsern, so dass alles stimmig ist.
Drei Tage vor dem Lauf kommt dann doch noch eine offizielle und ausführliche Mail. In Rettigny, in der Dorfmitte, da stünde ein Zelt, heißt es da. Es soll unter null Grad kalt sein und regnen. Man muss sich komplett selber versorgen, es gibt nur zwei Stationen mit Wasser bei km 17 und 34.
Am Samstag um 9 also am Start, direkt neben der Kirche im Dorf Rettigny mit geschätzten 50 Häusern. In der Mitte von Nirgendwo, wunderbar. La Tharée ist eine kleine Bierbrauerei in den Ardennen, die diesen Trail als Hauptsponsor organisiert, so dass es mit der Startnummer auch gleich die erste Flasche Bier gibt. Für später. Im Hotel gab es am Vorabend auch schon zwei, als Mutmacher sozusagen. Und als Preise gibt es für die Sieger noch mehr Bier, wie ich auf verschiedenen Fotos vom letzten Jahr sehen konnte. Die Nummern scheinen bis in die 800er zu gehen, also wohl doch mehr Leute als gedacht, auch wenn es, als wir vor dem Start so zusammenstehen, eher familiär wirkt. Ich schätze einmal 600 Leute. Die meisten mit Stöcken, was mich schon stutzig macht, denn so etwas kenne ich sonst nur vom Skifahren.
Am Start sind fast nur Belgier, wie man von den Nummernschildern der Autos im Dorf ablesen kann. Ein paar wenige Franzosen, Holländer und Luxemburger, Deutsche habe ich nicht gesehen. Ist aber ja auch klar, versteckte geheimnisvolle Internetseite auf Französisch, Sponsoring durch eine kleine Brauerei mit nur regionaler Bekanntheit.
Und dann geht es los, nach nochmaliger Erklärung der „Encore / Stop“ Systematik. Auf die Frage, ob auch Leute da sind, die aus dem Ausland sind oder nicht Französisch können, melden sich zwei Dutzend Läufer, also die klare Minderheit, aber man will wohl sicher gehen, dass niemand verloren geht. Und das ist kein Witz, denn die nächsten Stunden geht es gefühlt durch die wildeste Natur, man sieht kaum ein Haus oder eine Straße, nur einige Strommasten in der Entfernung von den Aussichtspunkten.
Es geht die Dorfstraße runter, um die Ecke, und schon auf die erste Wiese, den ersten Trampelpfad den Berg hoch. Für mich ein kleiner Schock, hatte ich doch mindestens mit Wanderwegen gerechnet, aber dank wasserdichter Schuhe und noch gefrorenem Boden ist mir das erst mal egal. Nach einigem bergauf dann auch der erste Abhang, so wie ich ihn im Video gesehen habe. Sehr steil, lockerer Waldboden. Teilweise haben die Läufer Hunde dabei, aber alle sind bester Laune. Aber es ist rutschig und ich bin überrascht, wie viele Leute den Hang hinuntergleiten und auch stürzen, wenn sie nicht gerade schon ihre Stöcke im Einsatz haben oder sich von Baum zu Baum hangeln oder diese wenigstens zu Abbremsen nutzen, so wie ich es tue. Alles nicht schlimm, eher eine Riesengaudi, aber die erdbraunen und feuchten Hinterteile wird man auch in einigen Stunden noch spüren oder wenigstens sehen. Ich habe Glück und bleibe – den gesamten Lauf – an dieser Stelle trocken, lerne aber, dass Baumwollklamotten ungeeignet für diese Sportart ist.
So geht es munter weiter und ich bin überrascht, wie wenig man eigentlich läuft. Einen steilen Hang runter, dann etwas quer. Richtig laufen kann man aber auch an flachen Stellen nicht immer, da der Boden taut und sich auf allen Wegen kleine Rinnsale bilden, die dazu führen, dass man öfter bis zu den Knöcheln mit Matsch versinkt. Also geht man halt über die Stellen, die nicht ganz so tief erscheinen oder läuft langsam rechts oder links des Weges, bis es dann schon wieder den nächsten Hang hochgeht.
Als ich mir nach dem Lauf die Strecke auf meiner Uhr anschaue, sehe ich, dass die ganze Strecke eigentlich nur ein längliches Oval ist, aber immer ständig im Zickzack rechts und links und hoch und runter, so dass aus wenigen Kilometern Umfang doch 50 km werden und aus flachen Strecken an den Bachläufen in den Tälern dann etliche Höhenmeter. Meine Uhr sagt 3.600 Höhenmeter, was nach meiner Erfahrung mit dem Modell aber nur die Hälfte sein dürften. Schlimm genug, denn das Problem sind nicht so sehr die Höhenmeter, sondern die Steilheit. An Laufen ist meist nicht zu denken und man ist froh, überhaupt unbeschadet den Hang runter zu kommen und mit ausreichend Energie wie beim Treppensteigen an anderer Stelle wieder hoch.
Beim ersten Abzweig gehen schon eine ganze Menge der Teilnehmer zurück, nach mehr beim zweiten, an dem sich auch zwei große Kunststofftonnen mit Wasser befinden. Eine ist allerdings schon leer, ich kann aber noch einmal voll auffüllen. Ob es für alle reicht? Danach werden es deutlich weniger Leute, und noch weniger, die keine Stöcke dabei haben. Ich merke, dass ich nur etwa 5 km pro Stunde schaffe. Da es anderen aber auch so geht, ist die Welt für mich erst einmal in Ordnung.
Nach rund 20 km sehe ich dann vor mir einen Läufer mit deutschem Flaggenpin und spreche ihn an. Er ist in der Tat aus Deutschland und wir scheinen eine ganz ähnliche Laufphilosophie zu haben. Allerdings ist er vermutlich 20 Jahre jünger als ich Mittfünfziger und scheint etwas munterer zu sein. Wir finden es beide schon recht anstrengend, und plötzlich wird uns klar, dass die Veranstaltung ja auch gar nicht als Trail Run beworben wurde, sondern schlicht als Trail, dass wilde und anstrengende Gekraxel also Teil des Konzeptes ist und nicht die Ausnahme. Und es sind wirklich steile Stücke dabei, wo man sich eng an Felsen hochzieht und teilweise an einer Leine halten kann. Toll, super Aussichtspunkte, aber auch sehr, sehr anstrengend.
Dazu auch ein paar Bachdurchquerungen, allerdings maximal zwei Schritte und Wadentief. Ich hatte mir vorher eingebildet, dass ich da schön meine Schuhe ausziehen würde, und mich danach sauber abtrockne, aber das macht niemand und das Wasser verdunstet auch wieder recht schnell, so dass man nicht das Gefühl hat, mit nassen Socken zu laufen. Tut man aber, nicht nur wegen der Bäche, sondern wegen einiger leicht überschwemmter Weisen und vor allem wegen des erwähnten Schlamms, der sich hartnäckig hält und die Feuchtigkeit noch stärker zu halten scheint.
Ich will mindestens die Marathondistanz machen, biege also auch am Wegpunkt für 38 km noch nicht ab. Vielleicht ein Fehler könnte man sagen, nach meiner Fitness wäre vermutlich 38 genau richtig gewesen. Auch bei dem Wegpunkt für 45 km, von dem es noch etwa 12 km bis zu Ziel ist, biege ich nicht ab, alleine schon, weil mir das Wasser ausgegangen ist und ich davon ausgehe, dass auf der langen Strecke die nächste Tonne zu finden ist. Inzwischen sind fast sechs Stunden vergangen, noch ein paar Deutsche haben sich gefunden, und wir stöhnen alle über die etwas unerwarteten Mühen und philosophieren schon, wie das öfter bei langen Läufen ist, was wir danach essen und trinken werde und wie es ist, körperlich völlig fertig zu sein.
Inzwischen tun mir auch die Füße wirklich weh, vor allem vom Anstoßen mit den Zehen bei den Bergabpassagen, was sich trotz gepflegter Fußnägel und enger Schnürung nicht ganz verhindern lässt. Für meinen nächsten Lauf muss ich hier eine bessere Lösung finden. Wasser ist keines zu sehen, so dass wir nach einer Weile unsere Flaschen einfach aus dem Oberlauf eines der kleinen Bächlein füllen. Auch wenn wir eigentlich an einer organisierten Laufveranstaltung teilnehmen, fühlen wir uns fast wie Überlebenskämpfer. Alle 20 Minuten trifft man mal wieder auf jemanden überholend oder selbstr überholt werdend, so dass man zumindest weiß, dass man noch auf dem richtigen Weg ist. Alle paar hundert Meter sind kleine rote Fähnchen an Drähten in den Boden gerammt, was eigentlich ganz gut sichtbar ist. Zweimal verpassen wir aber die Abbiegung und müssen wieder ein Stück zurück. Auf dieser Distanz aber auch egal.
Den Abzweig zu 45 km nehme ich auch wieder nicht, allein schon, weil diese 5 km auch nicht den großen Unterschied zu machen scheinen, so dass ich jetzt aufs Ganze gehe. Zu diesem Zeitpunkt, wohl bei Kilometer 35 und nach über sechs Stunden sehe ich meinen neuen Lauffreund zum letzten Mal. Es sind wohl nicht mehr sehr viele auf der Strecke. Ich rede mir ein, dass der letzte Abschnitt sicher einfacher sein müsste als der Anfang. Dem ist aber leider nicht so.
Bei Kilometer 40 dann endlich die ersehnte Wassertonne. Allerdings leer. Ich überhole noch einen Belgier, der auch vom fehlenden Wasser enttäuscht ist und von dem ich nicht sagen kann, ob er noch topfit ist oder fast am Ende. Er bietet mir an, ein Foto von mir mit dem Tal im Hintergrund zumachen, worauf ich bescheiden verzichte. Ein Fehler, denn er war der letzte Läufer, dem ich begegnet bin.
Mir wird plötzlich klar, dass Google Maps für mich wichtig werden könnte und bin froh, dass ich den Akku vollgeladen habe. Weil ich nicht damit gerechnet habe, so lange unterwegs zu sein, habe ich keine Stirnlampe eingepackt, so dass mein Handy eventuell auch als Lichtquelle herhalten muss.
Die letzten Stunden allein im Wald kommen mir eine Ewigkeit vor, die Kräfte sind am Ende und ich kann auch eigentlich gut laufbare Abschnitte nur noch gehen. Ich erreiche einen Fluss, die Felsen reichen bis ans Ufer. Davor ist eine Slackline befestigt, die anscheinend um den Fels herumführt. Ich muss erst einmal tief durchatmen und überlege, ob ich im richtigen Film bin. Meine Beine sind ziemlich kraftlos, ein schnell fließender und sicher mindestens 1 m tiefer Fluss direkt vor einer Felswand. Mit etwas zittrigen Beinen und mit gen Himmel gerichteten Stoßgebeten gelingt es mir die Passage.
Auf den letzten Kilometern wird es dunkel , stockdunkel um genau zu sein. 2 km vor dem Ziel entscheide ich mich, nicht mehr dem Trail zu folgen, sondern der Straße, die dieser überquert. Das ist laut Google Maps zwar etwas weiter, aber ich will auf keinen Fall das Risiko eingehen, mangels Stirnlampe doch noch vom Weg abzukommen. Es sind ohnehin schon über 9 Stunden rum und ich bin schon längst jenseits meiner Leistungsgrenze.
Von der Ferne hört man den Partylärm und sieht die ersten Lichter von Rettigny. Ich schalte in den Überlebensmodus und sage mir, dass ich zu diesen Lichtern, zu diesen Menschen hin muss. Und ich komme tatsächlich an. Nicht einmal als letzter, aber es werden doch Witzchen gemacht, ob ich statt zu laufen nicht eher einen Spaziergang gemacht habe.
Mir tut einfach nur alles weh, ich nehme meine Holzmedaille und will mich der Party widmen, die bald zu Ende sein wird. Tolles Essen gibt es, aber leider ist mein Geld im Auto und das ist so weit weg geparkt, dass ich mir den Weg nicht zumute. Stattdessen ernähre ich mich von Proteinriegeln und natürlich von Bier. Nach der Dusche will ich nur noch schlafen …
Ich war im Leben noch nie so fertig. Erfahrene Läufer werden sich vielleicht amüsieren, aber für mich war es grenzwertig. Dennoch war es einmalig schön und eine wichtige Erfahrung. Ich kann allen Trailrunning-Neulingen nur empfehlen, sich Rat von erfahrenen Läufern zu holen und darauf zu hören. Aus Leichtsinn und Nachlässigkeiten können gefährliche Situationen entstehen.
Heute, drei Tage später, kann ich schon wieder fast normal gehen. Die Oberschenkel, die das steile Hochsteigen nicht gewohnt waren, tun noch etwas weh, aber das wird wieder. Drei Zehen waren komplett blau, aber ich hoffe, dass die Punktion der entsprechenden Nägel diese retten wird.
Der La Tharée Trail ist unbedingt zu empfehlen, für alle Stufen der Lauferfahrung. Allerdings sollte man an der richtigen Stelle ggf. doch nicht mehr „Encore“ sagen, sondern in Ruhe zum Ziel laufen und den Nachmittag genießen. Das Bier ist übrigens wirklich gut.