In Neustadt durchqueren wir kurz nach 3 Uhr die Fußgängerzone. Noch immer sind hier ein paar Leute unterwegs und wundern sich über uns nächtliche Läufer. Ein Teilnehmer wohnt in Neustadt nur wenige Meter vom Weinsteig entfernt. Perfekt, denn nun dient seine Garage als Verpflegungsstelle, betreut von einer Ultraläuferin, die heute nicht mit läuft. Leider muss JoSi, der Herr des Hauses, hier verletzungsbedingt aussteigen. Außer ihm beenden hier noch fünf weitere Teilnehmer das Rennen.
Gut verpflegt laufen Frank und ich weiter. Hinter den Bergen geht eine schmale Mondsichel auf. Vorbei an der Ruine Wolfsburg steigen wir immer weiter bergauf. Der Aufstieg zum 554 m hohen Weinbiet kommt uns schier endlos vor. Für mich wird die Situation allmählich aus einem recht dummen Grund bedenklich. Auch der zweite Satz Batterien für die Stirnlampe ist fast leer, weitere habe ich keine dabei. Ich wusste zuhause beim Packen genau, wie wichtig heute vielleicht die zweite Stirnlampe für mich sein wird. Aus gutem Grund schreiben die meisten Veranstalter bei der Pflichtausrüstung nicht eine, sondern zwei Lampen vor. Doch in der Wappenschmiede vergaß ich, meine Petzl-Lampe aus der Drop Bag zu nehmen. So ein Mist darf nicht passieren!
Auf den unebenen Trails, die vom Weinbiet hinab führen, muss ich im fahlen Lichtschimmer aufpassen, dass ich nicht stürze. Von Minute zu Minute nimmt der Lichtschein ab. Ich muss davon ausgehen, dass noch vor der Dämmerung das Licht ganz ausfällt und ich mich nur noch im Restlicht von Franks Lampe bewegen kann. Erst der GPS-Empfänger, jetzt die Lampe - meine Laune sinkt. Bisher dachte ich immer, Trailrunning sei eine der wenigen Sportarten, bei denen Technik keine so große Rolle spielt, doch nach den beiden Defekten bin ich heute stark gehandicapt. Erst gegen 6 Uhr werde ich zumindest von einem Problem erlöst. Bei einem Pavillon treffen wir auf Michael, der hier eine Weile schlief. Er kann mir von seinen Batterien geben. Vielen Dank!
Ich liebe es immer wieder, bei Nachtläufen die langsam wechselnden Lichtverhältnisse zu erleben. Erst kann ich nur schwache Konturen der Umgebung erkennen, dann immer mehr, der Himmel am Horizont färbt sich leicht, und bald kann ich die Lampe ausschalten. Heute ist es besonders schön, denn wir blicken über die von einem Nebelmeer bedeckte Rheinebene und über den Bergen auf der anderen Seite ist eine ganz dünne, blutrote Linie. Leider ist es noch zu dunkel, um dies ohne Stativ zu fotografieren.
In Königsbach steht unsere nächste Wasserkiste, aber vor allem gibt es hier eine ungeplante Bonus-VP. Ein Anwohner stellt in seinem Hof die ganze Nacht über einen sehr üppig für uns gedeckten Tisch auf, mit verschiedenen Gel, Prinzenrolle, Salzstangen, viel Cola, gesalzenen Erdnüssen, Bananen, Bier, Brot, Knäckebrot……. Das kann nur ein erfahrener Ultraläufer sein, denn er weiß genau, was wir jetzt wollen und brauchen.
Inzwischen weicht der rote Streifen am Horizont einem leuchtenden Orange, und jetzt kann ich diesen tollen Anblick auch fotografieren. Weiter geht es zum Luftkurort Deidesheim mit seiner romantischen Altstadt. Hier steht die dritte Tupperdose für uns bereit.
Über Weinberge laufen wir hinauf zur Michaelskapelle, dann durch Wald weiter zu den Heidenlöchern. Diese sind die Reste von etwa 80 Steingebäuden und einer 450 m langen Ringmauer einer Fliehburg aus dem 9. und 10. Jahrhundert.
Nächster Höhepunkt ist die Ruine Wachtenburg aus dem 12. Jh, mit 8 m hoher Ringmauer und 30 m hohem Bergfried, später kommen wir beim Flaggenturm vorbei und genießen mal wieder schöne Blicke über die Weinberge. Einige Zeit werden Frank und ich von einem weiteren Frank begleitet.
Dieser Ultratrail ist eine sehr gute Werbung für die Region, denn ich höre unterwegs von mehreren Teilnehmer, dass sie hier auch einmal mit der Familie zum Wandern her kommen wollen.
Um 9:39 Uhr erreichen wir bei einem Sportplatz unsere Verpflegungsstelle Wachenheim. Ich weiß, dass ich jetzt wieder genügend essen sollte, aber ich bin zu unruhig, will gleich weiter, und esse daher zu wenig. Hier mussten die Helfer die ganze Nacht über ausharren und auf uns Läufer warten. Etwa zehn Stunden vergehen zwischen René Strosnys Ankunft und dem Eintreffen des letzten Läufers. Ich kenne diesen „Job“ vom KuSuH und weiß, wie öde das Herumsitzen und Warten in der Nacht sein kann. Vielen Dank für alles!
Frank und ich wissen inzwischen, dass wir kaum eine Chance haben, das Ziel innerhalb der bei VP 2 gewährten einstündigen Verlängerung des Zeitlimits zu erreichen. Aber jetzt erfahren wir, dass man uns genügend Zeit zusätzlich gibt.
Zu unserer großen Freude können wir auf den folgenden Kilometern auch wieder längere Streckenabschnitte recht flott laufen, da es die Route hier zu lässt. Sonnenschein, herrliche Laub- und Kiefernwälder, was braucht man mehr zum Läuferglück?
Schließlich durchqueren wir die Kurstadt Bad Dürkheim, wo wir etwa 15 der vorhin durch schnelles Laufen „gewonnenen“ Minuten durch falsches Abbiegen verlieren und umkehren müssen. Nun erreichen wir wieder eine Wasserstelle. Was wollen uns die Veranstalter damit sagen, dass sie diese unmittelbar unter dem Wegweiser zum Klinik- und Pflegezentrum positioniert haben?
Wieder einmal mühen wir uns bergauf. Wir erreichen einen fotogenen römischen Steinbruch, von dessen oberem Rand man eine schöne Aussicht genießen kann. Vorbei am Kaiser-Wilhelm-Denkmal können wir dann wieder kurze Abschnitte einigermaßen gut laufen.
Wir fragen eine Einheimische, ob auf dem restlichen Weinsteig noch große Aufstiege auf uns warten. „Nein, jetzt geht es nur noch am Rande der Haardt entlang“. Klingt gut, ist aber leider völlig falsch! Wir wieder wieder anstrengend aufwärts. Und steigen. Und steigen. Und steigen…. Der Aufstieg scheint kein Ende zu nehmen. Obwohl es sicher nicht allzu weit und allzu steil ist, kommt mir das zumindest psychisch wie der härteste Aufstieg meines Lebens vor.
Endlich erlöst! Vor uns ragt der 40 m hohe Bismarkturm auf. Doch wer sich freut, nun von einem Berggipfel schöne Aussicht genießen zu können, wird enttäuscht. Von unten sieht man nur Bäume, und die Treppen hinauf steigen wollen wir natürlich nicht.
Bei dem tollen Sommerwetter sind sehr viele Wanderer unterwegs. Viele fragen, was wir machen, andere haben zuvor schon in der regionalen Presse von unserem Lauf gelesen und wünschen uns viel Glück. Zwischen Bismarkturm und der nächsten VP ist der Weg fast immer eine reine Genusslaufstrecke, doch schade, unsere Kraft reicht nur noch, bei richtigem Gefälle zu laufen, ansonsten schlappen wir auch nicht viel schneller als die Wanderer durch das Gelände.
Allmählich wird es schon fast zu warm zum Laufen. So warm war es dieses Jahr im Juli und August nur selten. Obwohl wir im ersten Abschnitt noch ab und zu flott laufen konnten, brauchen wir für die 23 km zwischen VP 5 und VP 6 4:40 Stunden. Endlich erreichen wir die Burgruine Battenberg, in der in einem Kellergewölbe unsere letzte Verpflegungsstelle ist. In dieser Burg ist im September auch eine Verpflegungsstelle des Pfalztrail.
"Nur noch 11 km", freuen wir uns, wissen aber, dass uns diese in unserem Zustand und bei der Wärme noch schwer fallen werden. Umso mehr schockiert es uns, als wir erfahren, dass es laut GPS-Messung der Läufer vor uns wohl eher 13 - 14 statt 11 km sein werden.
Ein kurzes Stück dürfen wir nun bergab laufen, kommen also noch einmal halbwegs flott voran. Auf einem Weinberg sehen wir vor uns Neuleiningen mit seiner Burgruine, wo der offizielle Endpunkt des Weinsteigs ist. Wir müssen nun dagegen in Richtung Rheinebene auf unser Ziel zu laufen.
Vor dem Himmel der Zielankunft kommt das Fegefeuer. Vor sieben Wochen hatte ich beim UTMB am Schluss noch Kraft genug, um beim letzten Abstieg viele Läufer zu überholen, doch heute bin ich seit Stunden völlig leer. Frank lernt mich von einer für mich untypischen nörglerischen Seite kennen. Aber die letzten 11 Kilometer empfinden wir beide persönlich nach den schönen Weinsteig-Trails als Hölle. Fast ausschließlich schattenloser Asphalt, zwischendurch Kopfsteinpflaster oder Betonplatten, nichts für ungedämpfte Trail-Schuhe. Die Wärme und die Müdigkeit plagen mich. Ich will nur noch ankommen und mich in den Schatten legen. Quälend langsam bewältigen wir Kilometer für Kilometer. Nichts mehr denken, nur noch wie eine Maschine Schritt für Schritt. Noch viel zu weit zum Ziel! Dass ich 11 Kilometer lang kein einziges Mal meine Kamera aus der Tasche hole, ist mir noch nie passiert. Das sagt viel über meinen geistigen und körperlichen Zustand aus, aber glaubt mir, Ihr verpasst nicht viel.
Die letzten zwei Kilometer bis zum Ziel laufen Frank und ich dann doch wieder. Wir wollen es wenigstens unter 34 Stunden schaffen. Dann erreichen wir endlich das Stadion. Für die letzten 13 km, von denen die ersten beiden bergab führten, brauchten wir 2:10 Stunden.
Manche Läufe trumpfen mit einem außergewöhnlichen Zieleinlauf. In Berlin ist es das Brandenburger Tor, in Frankfurt die Festhalle. Die letzten 200 Meter beim Weinsteig bleiben aus besonders originellen Gründen unvergesslich. Zuerst umrunden wir den Sportplatz außerhalb der Begrenzung. Doch kurz vor dem Ziel steht hinter (!!!) dem Geländer ein Fußballtor, an dem man nicht vorbei laufen kann. Daher dürfen wir nun unter dem niedrigen Geländer hindurch krabbeln, zehn Meter über den Sportplatz und erneut in absoluter Tieflage die Seite wechseln. Ihr könnt Euch vorstellen, dass die Muskeln nach so einer Hammerstrecke enorm gegen diese Akrobatik protestieren. Zu schade, dass ich keine Zeitmaschine habe. Die Aufnahmen aller 20 Finisher an dieser Gymnastik-Stelle wären auf youtube sicher der absolute Brüller. Auch bei mir sieht das nicht mehr sportlich aus. Irgendwie lasse ich mich zu Boden plumpsen, wälze mich auf die andere Seite und hangle mich fluchend am Geländer wieder hoch. Klasse! So etwas muss man in seinem Läuferleben einmal erlebt haben! Dies geniale Finale lässt mich die zermürbenden letzten Kilometer vergessen. Bitte sorgt dafür, dass dies auch im nächsten Jahr wieder so ist!
Noch etwa hundert Meter, dann überqueren Frank und ich gleichzeitig die Ziellinie. Und jetzt kommt noch eine, in dem Fall nicht überraschende Besonderheit dieser Veranstaltung. Oft wird man am Ziel vom Veranstalter mit Handschlag begrüßt, hier gibt es natürlich eine innige Umarmung von Christine und Günther. Und später noch einmal und auch wieder am Schluss beim Abschied. Wirklich ein Lauf mit Herz!
Von 30 Startern erreichen 20 das Ziel, allerdings lassen sich später zwei Finisher auf eigenen Wunsch von der Liste streichen, da sie zwischendurch unfreiwillig ein kurzes (!!!) Stück abgekürzt hatten. Für mich sind die beiden durch diesen freiwilligen Verzicht ebenfalls Finisher im Herzen.
Die Finishermedaille ist ein Original Weinsteig Wegmarkierungs-Zeichen. Ich esse und trinke ein wenig, bin aber so k.o., dass ich wohl nur noch Mist rede. Ich vergesse leider, dass ich Michael als Dank für die Batterien zu einem Bier einladen wollte. Das wird irgendwann sicher nachgeholt!
Trotz aller Erschöpfung bin ich sehr froh darüber, bei dieser hervorragend organisierten Laufpremiere dabei gewesen zu sein. Es gibt drei gute Gründe, hier zu starten: Die Strecke, Christine und Günther.
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