Dieses Jahr findet neben dem (Halb-)Marathon auch erstmalig, womöglich einmalig die „60k Extreme Ultramarathon“-Variante statt. Einige Läufer waren von Beginn an für diesen Lauf gemeldet, andere haben bis zuletzt überlegt, an welchem Lauf sie nun tatsächlich teilnehmen. Die Höhe, Strecke und Kurzatmigkeit machen nachdenklich. Der Informationsmangel und das unklare Regelwerk auch. Wie eingangs erwähnt, sollte man damit entspannt umgehen können. Schließlich sind wir in einer völlig anderen Kultur unterwegs. Kurz vor dem Erreichen des Basecamp müssen wir wählen und erhalten die entsprechende Startnummer und das Race-Shirt. Letztlich entscheide ich mich zusammen mit ca. 20 anderen Läufern für den Ultramarathon, da ich bereits die beiden letzten Jahre am Marathon teilgenommen habe. Es ist an der Zeit mal wieder etwas Neues auszuprobieren.
Zwei Tage vor dem Rennen werden die Zelte im Basecamp des Mount Everest mitten auf dem berühmten Khumbu-Gletscher aufgeschlagen. Ein Privileg, dass neben akkreditierten Bergsteigern nur den Marathonis zuteil wird. Die Sherpas machen einen absoluten Knochenjob, müssen aus dem Blankeis halbwegs ebene Flächen rausschlagen und gleichzeitig Tonnen von Geröll bewegen, um dem lebensfeindlichen Gletscher Lagerplätze für die Zelte zu entlocken. Die Landschaft ist der reinste Wahnsinn, die Szenerie wirkt surreal. Das dumpfe Knacken des Eises ist allgegenwärtig, Lawinengedröhne auch. Zahlreiche Expeditionsteams hoffen hier auf gutes Wetter und den ersehnten Gipfelerfolg. Rund 50 nepalesische Läufer treffen ein. Fester Programmpunkt neben den medizinischen Checks ist nun auch ein Teststart, der den Läufern Orientierung bei der Routenfindung durch die bizarre Eis- & Geröll-Landschaft geben soll. Die Startlinie wird spontan festgelegt. Auf einen Meter mehr oder weniger kommt es nicht an. Eigentlich klar, wenn man bedenkt, dass sich alles auf einem gefrorenen aber sich permanent talwärts arbeitenden Fluss abspielt. Wir genießen die Akklimatisierungszeit mit entspannten Spaziergängen, kraxeln an den beeindruckenden Eistürmen herum, begegnen Bergsteigern. Der seit Tagen angekündigte Schneesturm ist bisher noch nicht eingetroffen.
Nach rund zwei Wochen ist es soweit: (Ultra-)Marathontag! Es ist, als durchlaufe man wie im Zeitraffer all die wunderschönen Orte, durch die man zuvor genussvoll gewandert ist. Eine intensive läuferische Zusammenfassung des Everest-Treks sozusagen, denn: die Strecke folgt in weiten Teilen der zuvor bewältigten Aufstiegsroute. Startschuss ist um 7 Uhr morgens auf 5364m Höhe. Ziel ist Namche Bazar auf 3400m. Wer nun meint, es handele sich um einen entspannten Downhill, der sei gewarnt, denn es warten auch rund 1500 Höhenmeter Aufstieg auf die Athleten und die Bergabpassagen sind nicht wirklich erholsam. Die Ultramarathon-Teilnehmer starten eine Stunde früher. Ihr Weg führt sie ca. 30km auf derselben Strecke wie die Marathonis, dann absolvieren sie einen großen Schlenker durch ein Hochgebirgstal, bevor es wenige km vor dem Ziel wieder auf die Marathonstrecke geht.
Die ersten Kilometer auf dem Khumbu-Gletscher haben es ganz besonders in sich. Der Kopf dröhnt. Die Luft ist dünn und das spürt man mit jedem Schritt. Der Körper schreit nach Sauerstoff, Herz und Lunge geben ihr Bestes und trotzdem scheint nie genug anzukommen. Das Gelände ist anspruchsvoll und verlangt absolute Konzentration. Immer wieder blankes Eis unter den Füßen, rechts und links Abgründe. Ein falscher Schritt und man landet in einem Gletschersee. Es folgen permanente Auf’s und Ab’s im Geröll, die für bleierne Muskeln sorgen. Danach immer wieder anspruchsvolle Felsblöcke und knifflige Trails, die man sich hier und da mit beladenen Yaks teilen muss. Zwischendurch wird es auch entspannter, aber man spürt das anfängliche Laufen in über 5000m gewaltig. Nach rund 30km erwartet die TN noch eine anstrengende Talquerung. Steile 600m bergab, über den Fluss Dudh Kosi, dann wieder bergauf. Die letzten km führen die Läufer auf einem relativ sanften Berghang mit grandioser Aussicht Richtung Namche.
Die diesjährige Erstausgabe der 60km-Variante entpuppte sich als rund 68km langes Laufabenteuer. Immer und immer wieder geht es bergauf und bergab, stundenlang sind wir auf über 4000m Höhe unterwegs. Ursprünglich wurde die Regel ausgegeben, dass die Läufer nach 12h in einer Lodge übernachten sollen. Während des Laufs wird diese von den am Wegesrand stehenden Organisationsmitarbeitern aufgehoben: die Athleten können selbst entscheiden, ob sie nach rund 12h, d.h. nachmittags bzw. am frühen Abend in einer Lodge übernachten, gut speisen und am nächsten Tag entspannt weiterlaufen wollen oder ob sie lieber nonstop und in die Dunkelheit hinein direkt bis Namche laufen wollen. Einige Teilnehmer bleiben über Nacht im Bergdorf Dole. Ich will nach einer kurzen Verpflegungspause zusammen mit einer amerikanischen Läuferin direkt weiter laufen und nonstop finishen. Das Wetter und die Sicht sind zwar schlecht, es regnet und wir stecken mitten in den Wolken. Aber die Vorstellung vom Bett am Zielort und der Feier, zu der wir womöglich noch rechtzeitig eintreffen, sorgen für Motivation. Ausgerüstet mit nur einer Stirnlampe, bei strömendem Regen und Dunkelheit entlang sehr steiler Berghänge mit saftigen Auf- und Abstiegen (und Abgründen), das war schon sehr anstrengend und hat viel Zeit gekostet. Gegen 21:30 haben wir es dann geschafft, erreichen die Ziellinie in Namche. Wir leigen uns kurz in den Armen. Während sich meine Kollegin direkt Richtung Bett verabschiedet, passiert wir mal wieder, was ich so oft nach solchen Läufen erlebe. Die Müdigkeit scheint auf wundersame Weise verschwunden zu sein und meine Antennen sind ausgefahren, um zu lokalisieren, wo denn die Läuferparty stattfindet. Ich bin glücklich und freue mich darüber, durchgelaufen zu sein. Dass die spätere Ergebnisliste und die Rankings teilweise nicht aussagefähig sind, weil einige Teilnehmer den „60 K Ultramarathon“ als Nonstop-Lauf absolviert haben, andere als Etappenlauf in 2 Tagen, wobei insbesondere bei den Etappenläufern teils falsche Zeiten notiert wurden, ist mir herzlich egal.
Die vorderen Plätze sind ausnahmslos den Nepali vorbehalten. Der Streckenrekord für den Marathon liegt bei unglaublichen 3:28h. Die internationalen Läufer sind von diesen Zeiten allerdings meilenweit entfernt. Ähnliches gilt für den Ultralauf. Der Sieger kam in 7:28 ins Ziel, die berühmte Ausnahmeathletin und Weltrekordhalterin Lizzy Hawker mehr als 2,5h später. Es gibt allerdings keine Zeitlimits. Das ermöglicht auch weniger ambitionierten Läufern die Chance auf eine Finisher-Medaille. Wem der (Ultra-) Marathon eine Spur zu knackig ist, kann sich im Halbmarathon versuchen (Start in Dingboche auf 4300m) oder es bei der Trekkingtour belassen.
Nach dem Renntag ist erst einmal Ausschlafen angesagt. Danach werden aber schon wieder die Schuhe geschnürt, um in 2 weiteren Trekking-Tagen Lukla, den Ausgangspunkt unserer Tour, zu erreichen. Glücklich zwar, aber „locker“ sieht anders aus. Immerhin war es für viele der härteste Lauf ihres Lebens. In Lukla verabschieden wir uns im Rahmen einer kleinen Feier von unserem fantastischen Sherpa-Team. Dann geht es zurück nach Kathmandu. Das kann wegen der Wetterverhältnisse manchmal knifflig sein. Dieses Jahr wurden wir mit einem fetten Armee-Helikopter in Richtung Tiefland ausgeflogen und von dort per erlebnisreicher achtstündiger Busfahrt nach Kathmandu gebracht. Aber letztlich landen alle wieder im Eventhotel, und spätestens da haben die meisten Teilnehmer gut Lachen. Frisch geduscht kommen sie mit einem großartigen Lächeln im Gesicht und Funkeln in den Augen im Hotelpark zur Abschlussfeier zusammen. Bei leckeren Drinks und Fingerfood werden Anekdoten ausgetauscht, man schwelgt in Erinnerungen. Höhenkrankheit, Magen-Darm-Probleme, Helikopter-Evakuierungen und die Entbehrungen der letzten Wochen scheinen vergessen, zumindest relativiert. Oder anders ausgedrückt, sie machen den THEM zu dem, was es ist: ein extrem faszinierendes Laufabenteuer.
Für die meisten Teilnehmer war es eine Erfahrung, die sie um nichts auf der Welt missen möchten. Ob ich auch nächstes Jahr wiederkommen wolle, werde ich öfters gefragt. Kann gut sein…
Wer den THEM erfolgreich absolvieren und genießen will, der sollte seine Teilnahme gut vorbereitet antreten. Die klimatischen Bedingungen sind extrem. Die Temperaturen reichen von sommerlich heiß bis bitterkalt. Schlechtwettereinbrüche und starker Schneefall sind jederzeit möglich. In der Vergangenheit ist es bereits vorgekommen, dass in der Nacht vor dem Marathon so viel Neuschnee fiel, dass das Rennen fast abgesagt werden musste, weil keinerlei Spur mehr sichtbar und die Gefahr für die Teilnehmer zu groß war. Glücklicherweise pausierte in der Nähe eine Yak-Herde. Kurzerhand wurden die Yaks zur Spurarbeit durch das nicht ungefährliche Eis-, Spalten- und Gerölllabyrinth des Khumbu-Gletschers verdonnert. Das Rennen war gerettet. Wohl dem, der seine Lauf- und Trekkingausrüstung weise wählt.
Die Teilnahme am THEM stellt eine extreme Belastung für den Organismus dar. Erfolgsentscheidend ist neben körperlicher Fitness, mentaler Stärke und einer gewissen Robustheit gegenüber den ungewohnten hygienischen Verhältnissen die Akklimatisierung vor Ort. Höhenanpassung braucht Zeit und diese Zeit räumen oftmals jüngere oder besonders leistungsstarke Athleten ihren Körpern nicht ein. Ein Vorgehen, das sich immer wieder rächt und zu Höhenkrankheit oder Leistungseinbrüchen führt. Aus diesem Grund müssen sich alle Athleten drei Wochen vor dem Rennen in Nepal einfinden. Die meisten Teilnehmer nutzen die organisierte Tour zum Basecamp. Hier nimmt man sich genügend Zeit für den Aufstieg, Akklimatisierungstage werden eingebaut, das ganze unter medizinischer Aufsicht. Dieser gemeinsame Trek ist nicht verpflichtend, hat aber Vorteile: man ist Teil des Camplebens und lernt Sportler aus der ganzen Welt kennen. Es bilden sich Laufpartnerschaften und man kommt, wenn man will, in einen intensiven Kontakt und Austausch mit den Nepalis. Neben all den Helfern und Trägern sind zahlreiche ehemalige nepalesische Spitzensportler in die Organisation des Events involviert. Das sorgt für faszinierenden Gesprächsstoff und macht es wirklich spannend.
Der THEM ist ein Abenteuerlauf in einem der ärmsten Länder der Welt und einem völlig unterschiedlichen Kulturraum, organisiert von einer hochprofessionellen lokalen Agentur, die mit zahlreichen Partnern in Westeuropa kooperiert, aber eben Nepalesisch tickt! Jahr für Jahr sorgt das bei einigen Teilnehmern für einen Kulturschock. Ein besonderes Maß an interkultureller Kompetenz ist unabdingbar, d.h. Respekt gegenüber völlig verschiedenen Denk-, Kommunikations- und Verhaltensweisen sowie ein ausgeprägtes Maß an Flexibilität und Gelassenheit im Umgang mit unvorhergesehenen Dingen und Unsicherheit. Wer sich da nicht wiederfindet, sollte lieber bei anderen Veranstaltungen teilnehmen. Wer drei Wochen eng an eng mit anderen Teilnehmern zusammen lebt, der sollte sich dabei auch wohlfühlen. Teamdenken ist angesagt.
Die hygienischen Verhältnisse und ungewohntes Essen bremsen so manchen Topathleten ungewollt aus. Überraschend oft reden sich Athleten sogar geradezu krank. Wer sich jedoch verrückt macht bzw. seine Gedanken immer wieder fokussiert auf: „Achtung, dieses oder jenes Essen ist gefährlich, ich darf nicht krank werden“ etc., der darf sich natürlich nicht wundern, wenn genau dieses passiert. Das Gute daran: man kann auch gegensteuern und die Kraft der Gedanken zur gezielten Stärkung des Immunsystems nutzen. Das kann man mental trainieren. Wer unter Höhenangst leidet, wird womöglich bei den exponierten Hängebrücken oder Steilhängen an seine Grenzen kommen. Aber meist ist auch Höhenangst im Vorfeld oder sogar live vor Ort schnell in den Griff bzw. aufgelöst zu bekommen. Wer sich beim THEM ehrgeizige sportliche Ziele im Sinne bestimmter Rankings und Zeiten setzt, der sollte im Hinterkopf behalten, dass einem während des Rennens immer wieder Yak-Herden oder Träger-Kolonnen den Weg versperren können und ein flüssiges Weiterkommen unmöglich machen. Wohl dem, der gelassen bleibt, lächelt und den Blick für das Wesentliche behält: die atemberaubende Schönheit der Natur und Freundlichkeit der Menschen.
Aktuell arbeiten wir an der Dokumentation mit dem Titel „Marathon am Mount Everest“. Der Film wird erstmalig im Rahmen des TRAILDORADO-Wochenendes am 4.10.2012 präsentiert (www.traildorado.com). Es werden auch ehemalige Everestmarathon-Teilnehmer anwesend sein. Das ist sicherlich eine gute Gelegenheit, um aus erster Hand mehr über dieses Event zu erfahren.
Weitere Infos und Bilder über den Everestmarathon gibt es unter www.running-adventure.com.