Kurz vor Alvorge (km 47) reißt die Wolkendecke auf. Die Sonne gibt sofort enorme Wärme ab. In der Ebene steigen Störche auf, kreisen wie Geier. Diese Leichenfledderer also kommen gerade aus Afrika, sind auf dem Weg nach Norden. In Afrika fressen Störche nur Insekten, keine Frösche. Es gibt zu viele giftige Amphibien dort. Ich möchte zurück nach Afrika. Da höre ich ein ekelhaftes Knacken. Mein Knie landet auf einem der scharfen Kalksteine, die sich zwischen dem Lehm tummeln. Ich liege im Dreck, storniere alle meine zukünftigen Läufe.
Es fühlt sich nicht gut an. Tränen.Tablette rein und im Schlamm ausruhen. Bin ich froh, dass es keine Zuschauer gibt. Nach etwa 30 Minuten stehe ich vorsichtig auf. Ich glaube, ich stoppe das Rennen.
Ich humpele nach Alvorge. Palmen und eine blütenweisse Kirche im prallen Sonnenschein begrüßen mich. Ein Helfer bringt mir Bier und frisch aufgeschnittenen Schinken vom Knochen. Nicht von meinem. Ein Kamerad hängt am Tropf, er braucht wohl die Batterien für seine Stirnlampe nicht mehr. Also frage ich. Nein, er hat einen Akku, den kann er nicht abgeben.
Im nächsten Dorf gehe ich in eine Kneipe. Der Wirt spricht gut französisch, hat Batterien. Wir sind hier auf einem Hauptstück des Jakobsweges (Caminha di Santiago). Viele Deutsche kommen hier vorbei, alle brauchen Batterien. Das Bier gibt es umsonst. Alle Wege sind nun mit verschiedenen Flatterbändern dekoriert. Es sind nicht nur Markierungen für Pilger, es sind auch Markierungen für Überflieger: Man fliegt nun mit Ultraleichtflugzeugen und Paraglidern nach Santiago di Compostella, dann ist man dem Himmel näher.
Santiago da Guarda war ein Römerkastell und wurde dann Pilgerherberge. Wir sind bei km 53: Canja, pão, fiambre, queijo, mel, fruta variada, tomate, frutos secos, presunto, marmelada, batata frita, bolos secos, tostas, água, isotónico, café, chá, sal, chocolate, Cerveja, gomas, barras, coca cola.
Canja ist Hühnchen und wird in einer Suppe serviert, wie ich noch nie eine köstlichere gegessen habe. Linsengroße Nüdelchen und eine kräftige Brühe mit Fitzelchen von Hühnerfleisch. Ganz große Klasse. Fiambre ist eine hitverdächtige Trockenwurst, Cerveja wird ganz groß geschrieben. Ich zapfe mir mit meinen unförmig geschwollenen Händen das dunkle, magenfreundliche Bockbier.
Wegen der stundenlangen Armbewegungen bleibt das Blut in den Händen, die Kälte fördert das noch, die Hände sehen aus, als seien sie Käse. Ich laufe gut gelaunt weiter. Sonnenschein! Warm! Ich ziehe die erste Jacke aus, die zweite auch. Ein Schild Trilho (Trail), dann noch eins. Man hat mich vor dem Sicoberg gewarnt. Von weitem sieht er zahm aus, richtig gemütlich.
Dann beginnt ein Wintergewitter und grauenhafte Stunden. Es gibt keine Fotos, ich kämpfe vom ersten Augenblick an ums Überleben! Ich muss unbedingt die nassen Jacken wieder anziehen, kann mich aber kaum bewegen, hänge unter einer hohen Felswand aus scharfkantigen Kalksteinen. Was ich da noch nicht weiß: Ico, der Besenläufer hängt wenige Meter unter mir. Er hat schon über 100 Läufer nach hause geschickt, das hat Zeit gekostet, während der er seinen Körper nicht auf Temperatur halten konnte. Er hängt nun dort unten in kurzen Hosen fest und wimmert auf einem Felsvorsprung. Wir alle haben eine Notfallpfeife dabei, auch Thermodecken. Was hilft das? Du kannst in solchen Augenblicken nicht denken. Ich höre sein Wimmern, denke es ist der Wind, oder meine Lungen. Es ist verrückt, ich habe auch eine Mütze dabei und Handschuhe, aber ich komme nicht dran. Sie sind im Rucksack, und ich kriege es nicht gebacken, den Rucksack abzusetzen.
Die Kalkabrüche sind senkrecht, haben eine Höhe von 50 Zentimetern. Meine Hände reissen an den scharfen Kanten auf, ich muss es nach oben schaffen. Die Eiskristalle prallen waagerecht auf mein Gesicht, der Wind durchdringt die nasse Kleidung. Es dauert zwei Stunden, dann bin ich oben. Sofort reissen die Wolken auf, und die Sonne wärmt.
Der Weg nach unten beginnt wieder mit einem häßlichen Sturz. Mir reißt ein Muskel in der Schulter, ich kann meinen Arm nicht mehr heben. Ein kleiner Hund gesellt sich zu mir. Nach zwei Stunden sind wir in Pousadas Vedras km 67, der süsse Hund dreht ab. Ich habe ihm nicht mal danke sagen können.
Vitorino (guter Läufer und heute Helfer) ist ein herzensguter Mensch. Er bringt mir Bier und Esparguete à Bolonhesa (Spagetti Bognese), rückt mir die Hocker vor dem Kamin zurecht, sodaß ich gut und bequem essen und trinken kann. Er bringt mir sogar eine Küchenrolle, damit ich irgendwie sauber werde. Wenn ich Hustenanfälle bekomme, bringt er eine neue Küchenrolle. Die Köchin freut sich, dass es mir schmeckt und ich glaube, sie verrät mir das Rezept. 12 Stunden habe ich bis hier gebraucht. Ich habe für die restlichen 44 Kilometer noch 14 Stunden Zeit, liege wunderbar in der Zeit, habe Batterien und jede Menge Bier.
Niemand muss sagen, dass ich einmal vernünftig bin!
Ich sehe keine Möglichkeit mehr, meinen Körper auf Temperatur zu bringen. Vitorino schaut mir in die Augen, schaut dann nach links und hält sein randvolles Schnapsglas wie zufällig in meine Richtung. Mein rechter Arm hängt runter, der linke gehorcht und greift den erlösenden Kelch, den Vitorino absichtlich nur locker hält.
„Eu desistire!“ rufe ich in den Raum. Ich wiederhole es mehrfach, um jede Diskussion zu unterbinden. Dann kippe ich den Kelch runter. In diesem Augenblick kommt Ico, der Besenläufer herein, sagt kein Wort, schlägt mit der Handkante gegen seinen Hals, geht an den Tresen und kippt gleich zwei erlösende Kelche runter.
Ich bin nicht vernünftig geworden. Das würde voraussetzen, dass ich Für und Wider abgewägt hätte. Aus meinem Ohr fließt Blut.
Als ich im Ziel abgesetzt werde, hat Jérome Rodrigues (12:20) bereits gefinisht und Carlos Correia (13:19) wird gleich folgen.