Gestern die Pflicht, heute die Kür, das gilt für mich als auch für Petrus. Gestern kalt, nass, hügelig und heute in der Früh schon feinster Sonnenschein. Nur ein wenig unterkühlt kommt uns der Sommer entgegen, denn es hat Rauhreif auf den Wiesen. Aber der kann sich in der Sonne nicht lange halten.
Je weiter ich nach der Schlammschlacht am Karhorn das Inntal hinauffahre, desto trockener und heller wird das Wetter. Und die Berge werden immer höher, je weiter ich mich auf den kurvenreichen Hauptstraßen 27 und 3 Pontresina nähere. Dort kann ich dann einige Gletscher des Berninamassivs sehen. Am Taleingang auf halber Strecke nach Samedan liegt die Talstation der Standseilbahn auf Muottas Muragl (2456 Meter).
Ich bin ein Viertelstündchen zu spät, um meine Startunterlagen in Samedan in der Promulins Arena noch abzuholen, aber die freundlichen Helfer an der Ausgabe haben Mitleid und drücken mir die Sachen noch in die Hand. Das ist gut, denn die Startnummer wird am Lauftag benötigt, um die öffentlichen Verkehrsmittel „umme“ zu nutzen. Wir können mit allen Verkehrsmitteln wie der Rhätischen Bahn, Engadin Bus, PostAuto und Ortsbus St. Moritz benützen, um zum Start nach Sils zu gelangen oder nach unserem Zieleinlauf wieder abzureisen. Die Startnummer oder der Einzahlungsschein des Startgeldes öffnet dir alle Türen. Ein Plan, wo wann welches Verkehrsmittel fährt, kann auf der Website heruntergeladen werden.
Ich entschließe mich, das Auto gleich in Pontresina stehen zu lassen und dafür mit dem Bus anzureisen. Als ich aus dem Haus gehe, bleibt mir fast die Luft weg, denn es ist arschkalt, die Autos sind angefroren. Unter null Grad! Das Klima im Oberengadin ist alpin. Meteorologen weisen durchschnittlich 260 Frosttage im Jahr nach. Selbst im August kann es einen noch erwischen.
Am Bahnhof wartet bereits ein eigener Ziehharmonika-Bus, der zwei Mal durch Pontresina kreuzt, bevor er weitere Passagiere aufnimmt und Kurs Richtung Maloja nimmt. Kurz vor Sils ist das Gefährt übervoll und wahrscheinlich auch überladen. In der Turnhalle am Schulhaus bereiten sich die Teilnehmer auf ihr Rennen vor. Die letzten Nachmeldungen werden getätigt.
Was ist beim Sommerlauf im Angebot?. Die Ausdauernden gehen auf die 25 Kilometer lange Strecke mit viel Wasser, herrlichem Bergblick und wenig Höhenmeter. Wer nicht ganz so trainiert ist, steigt in Pontresina ein und läuft bis zum gemeinsamen Ziel in Samedan elf Kilometer. Für den Nachwuchs wird ein eigener Lauf am Ziel organisiert. Zwar scheint für uns das Startgeld von 45 EUR für den Sommerlauf etwas hoch, aber wir sind in der Schweiz. Das heißt, man bekommt für sein Geld erstklassige Gegenleistungen. Hier z. B. ein Adidas-Funktionsshirt und Erdinger Weißbier. Das Beste aus meiner Heimat also. Massagen sind auch im Angebot und wer schnell ist, der nimmt Preisgelder in dreistelliger Höhe mit. Die scheinen aber schon vergeben zu sein, denn auch hier sehe ich einige schwarze Laufperlen.
Vor dem Start wird an der Turnhalle warmer Tee ausgegeben und zum WarmUp geladen. Die Mehrzahl der Läufer macht bereitwillig mit, bis auf die faulen Fotografen. Und die zwei Keniaten hören nach zwei Aerobic-Übungen auch auf. Einige Minuten vor dem Start begebe ich mich in das Startareal und höre noch eine Musikantin auf ihrem Alphorn spielen. Zuvor gebe ich meinen Rucksack an einem Lkw ab, der unsere Effekten, so spricht der Schweizer vom Bekleidungssack, nach Samedan transportieren wird. Effekten in unserem Sprachgebrauch, also Wertgegenstände, sollst du nicht im Rucksack verstauen. Nicht dass der Dieb reiche Beute macht.
Und dann folgt der Countdown, an dessen Ende sich die Riesenschar sich in Bewegung setzt. Oberhalb von uns ist das Hotel Waldhaus zu sehen, das heute noch in seiner äußeren Erscheinung und auch im Inneren auf das Entstehungsjahr 1908 hinweist. Seit dieser Zeit ist es im Familienbesitz geblieben. Weltbekannte Gäste wie Thomas Mann, Max Reinhardt und Friedrich Dürrenmatt haben da logiert.
Nach ein paar Metern sind im Ortskern von Sils, der von der reformierten Kirche Sils-Maria geprägt wird. Am Ende der Straße weist ein Schild auf eine Pferdehaltestelle hin. Mit Kutschen können dort die Urlauber in das ruhige, weil verkehrsfreie Fextal fahren.
Genauso schnell haben wir den Ortskern verlassen. Das Asphaltband bleibt hinter uns und ein befestigter Feldweg nimmt die vielen Läufer auf. Fast ein wenig eng ist es hier, doch wir haben noch eine weite Wegstrecke vor uns, wo jeder sein Tempo finden kann. Die Bauern haben den längeren Sonnenschein gerochen, denn das Heu auf den Wiesen duftet bereits und braucht nur mehr wenig Zeit für die Trocknung, bevor es heimgefahren wird.
Am Ende der Geraden ist bereits der Silvaplanersee zu sehen. Der Lej da Silvaplauna ist der mittlere der drei Seen der Engadiner Seenplatte. Der Inn, der hier noch Sela genannt wird, durchfließt den auf knapp 1800 m Höhe gelegenen See. Zuerst laufen wir noch in der Sonne, wo bereits erste Schweißperlen sich bilden, doch am Südostufer kann sich noch im Schatten der Reif der Nacht halten. Zwei Stehpaddler und ein paar Spaziergänger feuern uns an.
Wir verlassen das direkte Seeufer und laufen durch die frischen Wiesen. Ein betagtes Pärchen hat Campingstühle mitgebracht, sich am Rand der Laufstrecke niedergelassen und feuert uns ebenfalls an. Von Surlej aus, das zu Silvaplana gehört, kann man mittels einer Seilbahn den knapp 3500 Meter hohen Piz Corvatsch bezwingen. Von oben hat man einen grandiosen Ausblick auf die Bernina-Gruppe mit ihren riesigen Gletschern. Viele Italiener haben sich hier mittlerweile eine zweite Wohnung genommen. Überhaupt, recht viele Azzuris sind im Läuferfeld vertreten. Und mit denen habe ich jede Mühe, denn die laufen nicht einzeln, sondern ratschend in einer Gruppe. Ich fotografiere, die laufen im Breitkeil vorbei, und ich kann schauen, wie ich an denen wieder vorbeikomme.
Dann erscheint vor uns das Schloss Crap da Sass, das vom deutschen General Graf von der Lippe 1906 erbaut wurde. Es ist heute in Privatbesitz und kann daher leider nicht besichtigt werden. Wir rennen über den Inn, eine gute Stimmung herrscht hier durch die vielen Zuschauer. Am Ortsrand können wir wieder eine V-Stelle benutzen. Wasser, Iso und Obst werden angeboten. Lecker sind die Schokowaffeln. Ja, eine Notration brauchst du nicht mitnehmen, denn die Tankstellen sind alle fünf Kilometer und gegen Ende des Rennens sind die Abstände noch geringer.
„Allegra“, hören wir immer wieder, der rätoromanische Gruß, der einfach „hallo“ oder „servus“ bedeutet. Rätoromanisch ist hier noch sehr verbreitet, aber es wird weniger, obwohl in den Schulen häufig zweisprachig gelehrt wird, deutsch und rätoromanisch.
Nach einer halben Runde um den Champfèrersee geht es auf einer Holzbrücke wieder über den Inn und kurzzeitig steil bergauf. Einige legen eine Marschpause ein. Ja, einige Höhenmeter warten auch hier, in Summe sind es rund 200, was nicht viel ist. Wir laufen gleich danach durch einen Campingplatz und dann kommt schon St. Moritz in Sichtweite.