Binnen vier Sekunden von 0 auf 100, nach 130 Metern Tempo 130 km/h …. klingt nach den Beschleunigungswerten eines hochmotorisierten Sportwagens. Es sind aber auch die Beschleunigungswerte eines Skirennabfahrers, der sich von der auf 2.836 m üNN am Piz Nair gelegenen Plattform über die mit 45 Grad bzw. 100 Prozent Gefälle geneigte Rampe in die Tiefe stürzt. Steiler startet man nirgendwo in der Welt des alpinen Skisports, selbst nicht auf der legendären Kitzbüheler Streif. Wie wäre es, im Sommer einen Lauf mit Ziel an eben jenem Startpunkt zu veranstalten? Klingt ganz schön abgedreht. Aber diesen Lauf gibt es tatsächlich. Sein ziemlich martialischer Name: Free Fall Vertical.
Dieser Lauf steht allerdings nicht für sich alleine. Eingebettet ist er in das neue dreitägige Laufspektakel des St. Moritz Running Festivals. Und das bietet Mitte August höchst unterschiedliche Laufoptionen. Sozusagen Königsdisziplin ist der „Crossing Engiadina“: An drei Tagen sind ebenso viele Etappen zwischen 22 und 27 km mit durchschnittlich 1.300 Höhenmetern durch die Bergwelt des Engadins zu bewältigen. Wer es kurz und heftig mag, der kann seine Fähigkeiten bei besagtem „Free Fall Vertical“ (6,6 km / 1.069 HM) austesten. Als Familienlauf eignet sich vor allem der Muragl-Lauf (12,2 km / 220 HM). Das Herzstück des Festivals und die mit Abstand beliebteste Option ist jedoch der traditionsreiche Engadiner Sommerlauf. Der 25,5 km lange Punkt-zu-Punkt-Kurs von Sils nach St. Moritz bietet wohl auch die schönste Möglichkeit, das Oberengadin im Laufschritt kennenzulernen.
Ein besonderes Erlebnis verspricht freilich, zwei Läufe zu kombinieren: Etwa als „Auftaktknaller“ den Free Fall Vertical am Samstag mit dem Engadiner Sommerlauf als naturnahem Genusslauf am Sonntag. Nun ja, Ihr ahnt es vielleicht schon: Das ist meine Wahl. Und ich bin da nicht der einzige.
Bevor es ans Laufen geht, führt der Weg einen jeden erst einmal ins „Festival Village“. Auf dem Wiesengelände zwischen dem Eisstadion Ludains in St. Moritz Bad und dem St. Moritzersee schlägt das Herz der Veranstaltung. Hier starten und enden zum Teil die Läufe, hier wird drei Tage lang von Freitag bis Sonntag gegessen, getrunken, geratscht, gefeiert, eingerahmt von einem Programmangebot von Livemusik bis Yoga. Mehrere mobile Gastrostände und Bars sorgen für das leibliche Wohl. Dazwischen sind zahllose Bänke und Tische, auch Liegestühle locker verteilt aufgebaut, dazu eine Bühne.
In der benachbarten Reithalle bekomme ich zunächst einmal das wichtigste Startutensil: Die Startnummern für meine beiden Läufe. Freilich nur mit „GGG“-Nachweis. Dafür wird mir wie bei einem All Inclusice-Urlauber ein Armbändel als Zugangsvoraussetzung zum Festival-Gelände für die drei Tage umgebunden. Auf dem Gelände entfällt damit auch die Maskenpflicht. Einen mit allerlei Praktischem gefüllten wasserdichten Startsack gibt es zur Startnummer obendrauf.
Lässig, chillig – so kann man die Atmosphäre auf dem Festivalgelände beschreiben. Tagsüber trudeln hier die Finisher der ersten Etappe des Crossing Engadina ein. Mehr Aufsehen erregen die mit pinkem Shirt gewandeten Teilnehmer des „Think Pink – race for cure“ Laufs, die hier zum 4,5 km-Run einmal um den St. Moritzersee herum starten. So richtig gemütlich wird es auf dem Festivalgelände ab dem frühen Abend, als Gitarrenmusik live von der Bühne ertönt, und schon am Freitag zahlreiche Läufer ihr Dinner vor der herrlichen Kulisse des Sees und der Berge rundum einnehmen.
Nomen est omen – selten passt diese lateinische Redensart so gut wie hier. Wer sich an diesen Erlebnislauf heran wagt, sollte sich darauf einstellen, dass sehr viel Erlebnis sehr wenig Lauf gegenübersteht. Aber zugegebenermaßen: Wer hier startet, sucht eben genau dies und den speziellen Kick. Und laufen kann zumindest ich auch am Sonntag noch zu Genüge.
Im Gegensatz zu früheren Ausgaben startet der Free Fall Vertical nicht mehr mitten in St. Moritz, sondern direkt auf dem Festivalgelände. Das hat gleich mehrere Vorteile. Einer davon ist, dass es von meinem Hotel nur ein kurzer Spaziergang hierher ist und einem entspannten und ausgiebigen Frühstück als Carboloading nichts entgegensteht. Für 10:30 Uhr erst ist der Start terminiert. Etwa 100 Wagemutige, Neugierige, man könnte auch sagen: Verrückte, sind es, die sich voll Optimismus und Übermut zu diesem „Laufhappening“ angemeldet haben und sich nun im Startkanal sammeln. Die Sonne lacht vom Himmel heizt uns schon vor dem Start ein. Der Moderator und entspannte Musik tun ihr Übriges, die Laune und Vorfreude hoch zu halten.
Pünktlich geht es los. Und mit dem Startschuss offenbart sich ein weiterer Vorteil der Startplatzverlegung. Denn zumindest auf dem ersten Kilometer fühlt sich dieser Lauf eben noch wie ein solcher an. Vom Festivalgelände aus steuern wir im flotten Trab direkt der Seepromenade des St. Moritzersees entgegen. Malerisch zu Füßen der sich am Nordufer türmenden „Skyline“ altehrwürdiger St. Moritzer Luxushotels gelegen ist der Lej da San Murezzan, wie er rätoromanisch heißt, der nordöstlichste und kleinste der vier Seen der Oberengadiner Seenplatte, nichtsdestotrotz deren prominentester Vertreter. Vor allem im kalten Winter erwacht hier bzw. auf seiner zugefrorenen Oberfläche das Leben, sei es bei Pferderennen, Polo oder Langlauf. Über das dunkle kalte Wasser hinweg genießen wir den Panoramablick auf St. Moritz und die dahinter aufsteigenden Berge, allen voran den 3.056 m hohen Piz Nair. Und das ist „unser“ Berg, der Berg, den es zu bezwingen gilt.
Im entspannten Jog am luftigen Seeufer entlang verdränge ich das noch ein wenig und bin schon gespannt auf das, was mich in der City von St. Moritz, hier ganz unprätentiös Dorf genannt, erwartet. Und das ist zunächst einmal ganz profan ein großes, aber unauffällig in den Hang gebautes Parkhaus. Lange Rolltreppen führen über die vielen Ebenen des modernen Parkhauses Serletta, mit 600 Plätzen das größte Parkplatzreservoir vor Ort, schnurgerade nach oben. Allerdings nicht für uns. Wir dürfen uns über die parallel verlaufende Treppe über neun Ebenen nach oben mühen. Zumindest katapultiert uns das sogleich ein ordentliches Stück in die Höhe und mitten ins Ortszentrum hinein. Direkt an einem der renommiertesten und mit seinen Türmen auch auffälligsten Hotelpaläste, dem Badrutt‘s Palace, kommen wir wieder ans Tageslicht. Nur ein paar Meter folgen wir der Via Serlas, der Luxusshopmeile des Ortes, schon schwenken wir in ein schmales Seitengässlein ab und setzen unseren Bergantrip durch den in den steilen Hang gebauten Ort fort.
Mit der runden Plazza da Scoula erreichen wir den zentralen Platz von St. Moritz. Etwas versteckt gleich dahinter sehe ich die Talstation der in drei Etappen via Chantarella und Corviglia zum Piz Nair führenden Bergbahn. Mit einer gemütlichen Standseilbahn geht es hier los. Weniger gemütlich ist die Situation für uns. Denn über den Platz hinweg werden wir auf die so harmlos klingende Via da l’Alp gelotst. Die Via entpuppt sich als eine nicht endend wollende Aneinanderreihung von Treppen. Keuchend, schwitzend und innerlich fluchend stapfe ich an den in den Steilhang gebauten und in reichlich Grün eingebetteten Häusern vorbei. Wie die hier lebenden Menschen wohl ihren Einkauf erledigen? Ich fühle mich schon fertig, kaum, dass der Lauf begonnen hat. Immerhin habe ich bis 14:00 Zeit, das Ziel zu erreichen – das sollte wohl genügen.
Allmählich werden die Treppen weniger, ist der Anstieg nicht mehr gar so heftig. Unser Weg mündet in ein kleines Fahrsträßlein. In Serpentinen windet sich die Via Tinus allmählich in die Höhe. Ein kühlender Wind macht das Fortkommen in der mit Kraft herab brennenden Sonne erträglicher. Belohnt werden wir mit ersten herrlichen Ausblicken über die Dächer von St. Moritz das tiefblaue Seeoval.
Über einen quer zum Hang verlaufenden bequemen Naturweg steuern wir das bereits auf 2.050 m üNN gelegene kleine Hochplateau von Salastrains an. Eine Erwähnung wert ist die Tatsache, dass ich hier tatsächlich wieder eine Passage laufen kann. Nachschicken muss ich allerdings: Es ist auch die letzte. Mit dem am Rande des Skigebiets Corviglia und noch per Straße erreichbaren Hotel Salastrains passieren wir den letzten Außenposten der Zivilisation auf unserem Weg nach oben.
Innerlich war ich eigentlich darauf eingestellt, dass es vor allem das letzte Wegstück ist, das die Qualifikation „sausteil“ verdient. Umso ernüchternder ist der Anblick dessen, was sich kurz hinter Salastrains vor meinen Augen auftut.
Denn durch einen schier endlosen Wiesenhang führt, parallel zu den Masten des im Sommer stillgelegten Sessellifts Salastrains – Munt da San Murezzan, schnurgeradeaus ein ebenso schier endloser Trampelpfad in die Höhe. Die Kette der winzigen bunten Punkte der Läufer verliert sich hoch über mir an der Grenze zum Himmelsblau. Und da soll ich nun rauf? Willkommen im Skigebiet Corviglia – Marguns - Piz Nair. Die alpinen „Haushänge“ von St. Moritz bieten den Wintersportlern auf 71,6 Pistenkilometern und mit 24 Liftanlagen die angeblich breitesten Pisten der Schweiz. Und so schaut es auch aus. Nur jetzt in grün.
Da hilft nur ein gewisser Fatalismus. Froh bin ich, meine Laufstöcke dabei zu haben. Sie verleihen mir zusätzlichen Schub, mich Schritt für Schritt möglichst stoisch und gleichmäßig durch das Wiesengrün in die Höhe zu hieven. Die Verschnaufstopps nutze ich, den herrlichen und mit zunehmender Höhe immer weiter reichenden Blick über die Bergwelt der 3000er rund um den St. Moritzersee zu genießen …zumindest soweit es mit dem Genießen geht.
Eine knappe halbe Stunde dauert die Plackerei, dann endlich flacht die Steigung ab. Wie eine Oase in der „grünen Wüste“ der Almen mutet der Verpflegungsstand nach 4,5 km an einer ebenen Stelle an. Es tut gut, das angebotene Wasser und den Isodrink durch die Kehle rinnen zu lassen.
Und weiter geht es auf einem schmalen steinigen Pfad durch die unendlichen Almwiesen, nicht mehr gar so steil, aber weiterhin beständig aufwärts. Um die Bergflanke herum erweitert sich mein Blickfeld, vor allem auf den sich tief unten im Tal so malerisch zwischen dem dunklen Grün der Bergwälder windenden Silvaplanersee. Gedanken an morgen kommen auf: Denn der Kurs des Engadiner Sommerlaufs führt auch an diesem See vorbei. Ansonsten ist in meinen Höhen die Abwechslung rar, auch wenn immer wieder bunte Blumenteppiche für farbliche Tupfer sorgen. In der Ferne leuchtet gelb die Bergstation Corviglia. Ein paar Kühe beobachten kuhmäßig interessiert das sonderbare Treiben der buntgewandeten Zweibeiner auf dem Weg in die Höhe. Ja, und dann sind da natürlich die zahllosen Metallpfosten in der Landschaft, nicht ganz so malerische sommerliche Reminiszenzen an den winterlichen Skizirkus.
Wie weit es noch zum Ziel sein mag? Ganz plötzlich bekomme ich zumindest ein Gefühl davon. Denn in der Ferne sehe ich einen unnahbaren Felskamm, übersäht von steinschlagschützenden Auffanggittern und daraus einen mächtigen Metallturm ragen, die Seile tragend, die sich zwischen der Bergbahnstation Corviglia und dem Gipfel des Piz Nair spannen und hier an einer halsbrecherisch am Fels klebenden Plattform einen Zwischenstopp ermöglichen. Und ich weiß: Da muss ich hin und da muss ich rauf.
Bis zum Finale muss ich mich aber noch ein wenig gedulden. Beim weiteren Anstieg über einen gerölligen Hang füllt zunächst allein dieser das Blickfeld. Zumindest kann ich mir gedanklich ausmalen, dass ich mich wohl gerade auf der originalen Skiweltmeisterschaft-Rennpiste der Herren-Abfahrt befinde. Immerhin fünf Mal war St. Moritz seit 1934 bereits Austragungsort alpiner Skiweltmeisterschaften und damit öfter als jeder andere Ort auf der Welt. Mit dem aufgrund einer Idee des einstigen Weltmeisters Bernhard Russi konzipierten und gebauten „Free Fall“ als Einstieg hat die Abfahrtsstrecke von St. Moritz seit der WM 2003 ihr ganz besonderes Markenzeichen.
Eine gemütlich in der Wiese kauernde Kuhherde steht für einen kurzen flacheren Abschnitt, an dem ich mich zwar nicht erholen, aber etwas Luft schnappen kann. Zunehmend wie eine Wand baut sich der eingerüstete Felsenturm vor mir auf. Von einem im Geröll zu Füßen dieser Wand drapierten Land Rover des Sponsors On dringen über Megaphon laute Anfeuerungsrufe an mein Ohr. Zwei Mädels geben ihr Bestes, jeden einzelnen Ankömmling zum finalen Anstieg zu motivieren.
Anfangs ist mir noch nicht so recht klar, wie ich da nun eigentlich hinaufkommen soll. Ein für mich nicht immer eindeutig erkennbarer Pfad windet sich zunehmend steiler durch das graue Geröll. Jedenfalls führt der Weg nicht direkt über den Free Fall – das wäre schlicht zu gefährlich – sondern durch das Gelände nebenan. Immer mühseliger wird der Anstieg durch das Gestein. An einem schräg im Boden verankerten Fangzaun aus massiven Holzpfählen entlang und sodann über eine Holztreppe gelange ich schließlich auf die Plattform der Zwischenstation der zwischen Corviglia und Piz Nair verkehrenden Gondel. Am Ziel bin ich damit aber noch nicht.
Denn vor mir liegt der Weg, den auch jeder Skiabfahrer, der sich über diese Startrampe in die Tiefe stürzen will, nehmen muss: Der Weg über eine kalte Stahlgittertreppe, die sich parallel zur Piste in einer beeindruckenden Konstruktion in die Höhe schraubt. 187 scheppernde Stufen bedeutet das, 187 Schritte, die in der dünnen Höhenluft schnaufend zu bewältigen sind. Aber wir müssen nicht einmal Skier tragen!
Ein kleines, im Steilhang angelegtes und von einer Natursteinmauer umrahmtes Plateau markiert den Zielpunkt. Ein erleichterndes und erhabenes Gefühl ist es für mich, nach 1:48 Stunden hier anzukommen und in vollen Zügen genieße ich dieses Bewusstsein und natürlich das grandiose Bergpanorama. Ein wenig schaudert mich beim Blick hinunter, dort, wo der originale Free Fall jäh, im Sommer aber eher unscheinbar, in die Tiefe führt. Nie im Leben würde ich mich hier auf Skiern herunter wagen.
Ein ganz anderes, deutlich entspannenderes Gefühl ist der Abstieg über die Stufen zur Zwischenstation der Bergbahn. Hier ist eine Verpflegungsstation, auch mit Bouillon und Cola, für die Läufer eingerichtet, und hier warten die Läufer auch auf die Sonderfahrt mit der Gondel hinab zur Station Corviglia.
Blickt man von der Zwischenstation in die andere Richtung, so lockt jedoch ein Stück weiter oben sehr viel mehr der Gipfel des Piz Nair. Und diesem Locken sollte man unbedingt nachgeben. Um dorthin zu gelangen, muss ich jedoch zunächst die Sondergondel nach Corviglia nehmen, um dann mit einer im 20 Minuten-Takt verkehrenden „regulären“ Gondel ganz hinauf zu kommen.
Optisch sehr eindrucksvoll ist schon die direkt neben der Bergstation auf einem Felsen thronende Skulptur eines riesigen Steinbocks, seines Zeichens Wappentier Graubündens, der von dort mit geneigtem Haupt über das unter ihm liegende Oberengadin blickt. Wer einfach nur faul sein will, dem sei die herrliche Sonnenterrasse der Gipfelstation mit Blick auf die noch höheren Zacken des Piz Albana und Piz Julier empfohlen. Für das wahre Gipfelerlebnis muss man aber noch ein paar Meter höher durch den Fels kraxeln, um dann auf 3.056 m üNN den ultimativen Rundumblick auskosten zu können. Und der ist in alle Himmelsrichtungen spektakulär.
Mit dem Lauf ist das Lauferlebnis aber noch längst nicht zu Ende. Das Festival Village lockt am Nachmittag wie am Abend mit guter Stimmung und Leckereien, etwa Fleischspießen vom Grill und Steinpilzrisotto – das jedenfalls steht auf meinem Speiseplan. Eingestreut wird die Siegerehrung der Samstagsläufe und im Anschluss hat eine lokale Live Band ihren Auftritt. Ein wenig kommt mir das Ganze vor wie die Feiern im berühmten kleinen Gallierdorf im Anschluss an ein bestandenes Abenteuer. Und schöner kann so ein Lauftag tatsächlich kaum zu Ende gehen.
Für mich ist das Lauferlebnis des St. Moritz Running Festivals damit noch nicht beendet. Gespannt bin ich schon auf den morgigen so ganz anderen Engadiner Sommerlauf. Und freuen würde mich, wenn Ihr Lust habt, mich auf diesem in meinem Folgebericht zu begleiten.