Fotos: Kay Spamer und Andrea Helmuth
Die gute Nachricht gleich vorweg: Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. Euphorische Kurzatmigkeit und Herzklopfen im Ziel. Die Champagnerluft ist wie eine Droge, verführerisch und gefährlich zugleich und zu viel davon macht müde. Es ist wie mit der ersten Liebe, an die wird man sich auch Jahre später noch mit leuchtenden Augen erinnern. Das hört sich gut an? Wunderbar.
Liegt es an der Höhe? So tief und entspannt habe ich selten zuvor geschlafen. Keine Frage, heute wird es ein superheißer Sommertag. Es ist sein 33. Geburtstag und er ist im besten Alter. Schön soll er sein, manche sagen auch, eine Naturschönheit mit „Six-Pack“ - ein echter Hingucker. Wünsche, Träume werden wach, Erinnerungen steigen auf. Total verknallt war ich das erste Mal mit 14 Jahren. Sehnige Muskeln und gute Proportionen sind schön anzusehen, aber die ersten Liebesgefühle sind die, die unvergesslich bleiben.
Die Berge und die Seen. Sie sind das Schweizer Erfolgsgeheimnis. Unzählige Seen hat die Schweiz. Schön wie ein Sixpack befinden sich sechs Seen entlang der Laufstrecke, denen manche nur schwer wiederstehen können und die durchaus als erogene Zone dieses Laufes bezeichnet werden können. Schon Klaus, der Chef von m4you, hat dafür sein Opfer gebracht (siehe Laufbericht 2011).
Wir sind im Oberengadin (rätorom. Engiadin’Ota) welches sich von einem ebenen, 1600 m ü. M. bis 1800 m ü. M. hoch gelegenen Talboden der von Seen geprägt ist befindet. Bedingt durch die Höhenlage herrscht hier ein hochmontanes bis subalpines Klima und gilt damit als der winterkälteste Landstrich der Alpen. Ausläufer des Sturms "Andrea" hatten den Alpen bergeweise Schnee gebracht - teilweise bis zu drei Metern. Wegen Lawinengefahr mussten zahlreiche Bahnverbindungen und Straßen gesperrt werden, darunter auch im Wintersportort St. Moritz“.
Das liegt zum Glück schon ein halbes Jahr zurück und für dieses Wochenende sind mal wieder, wie in den vergangenen 32 Jahren beim „Engadiner Sommerlauf“ hochsommerliche Temperaturen vorhergesagt – so zuverlässig, wie ein Schweizer Uhrwerk.
Schon wegen der Höhe wird die Getränkeflasche für uns zum ständigen Begleiter und die Suche nach einer Toilette zum notwendigen Übel. Pro 1000 Meter Höhenunterschied werden 1 Liter Flüssigkeit benötigt, um dem erhöhten Flüssigkeitsbedarf zu decken. Statt hochprozentigem Champagner bevorzugten wir bei der gestrigen Pasta-Party das mineralreichste Wasser der Schweiz, das Engadiner Mineralwasser. So arm das Engadin an Bodenschätzen ist, Wasser sprudelt aus den tiefsten Quellen im Überfluss.
Sonntagmorgen 7:00 Uhr. Zwei Dutzend von der Nacht ausgehungerte und noch müde Sportler stürmen den Frühstücksraum in der Erwartung auf eine duftende Tasse Kaffee und frische knackige Brötchen. Keiner spricht, abwechselnd schaut jeder auf die Uhr. Nach einer halben Stunde Gewissheit: Die Wirtin hat verschlafen. Dann muss es heute ohne Frühstück gehen. Wir laufen ein paar hundert Meter bis zum Bahnhof.
Samedan um 7:45 Uhr - einbalsamiertes Idyll. Auf den Straßen nur Laufwillige mit dem gleichen Ziel: der Bus nach Sils. Etwa eine Stunde sind wir mit diesem unterwegs, auf der Fahrt kann man schon erahnen, welche „See“-Highlights uns auf dem Lauf erwarten werden. Der Bus hält in der Ortsmitte von Sils. Von hier sind es nur wenige Meter bis zum Startbereich.
„Die persönlichen Effekten sind bis 9.45 Uhr, verpackt und mit der erhaltenen Adressetikette versehen, beim Effektenwagen, neben der Startnummern-Ausgabe, abzugeben. Die Effekten werden von Sils nach Samedan transportiert und können im Zielgelände Samedan wieder übernommen werden“ lese ich in der Ausschreibung. Ich erschrecke, wollen die vielleicht? Oder handelt es sich dabei sogar um…?“ Sind Effekten nicht Wertpapiere, die der Kapitalbeschaffung und Geldanlage dienen? Hier jedenfalls versteht man darunter bewegliche Güter und Reisegepäck. Unsere Effekte übergebe ich einem freundlichen Helfer.
Nach einem unterhaltsamen Warm-up geht’s zur Startaufstellung. Nach und nach kommen alle zusammen. Frauen und Männer aus der Schweiz, Deutschland, Italien und vielen anderen Ländern. Manche von Ihnen sind Jubilare, die heute zum 33. Mal an der Startlinie stehen.
Der Startschuss fällt. Es ist 10:00 Uhr. Gleichzeitig mit uns starten die 10 Kilometerläufer und Walker, jedoch von Pontresina aus. Wir laufen durch den alten Ortskern von Sils. Charakteristisch für die Häuser im Engadin sind die dicken Mauern mit den trichterförmig nach innen zulaufenden Fensterleibungen, die, obwohl nur kleine Fensteröffnungen, viel Licht ins Innere führen. Eine raffinierte Bauweise, denn dadurch kann im Winter wenig Wärme entweichen.