Engadiner Sommerlauf – klingt sehr entspannt! Nach unbeschwertem Jog in klarer, sommerlich lauer Bergluft, durch herrliche Landschaft, ganz unprätentiös, unaufgeregt, leicht und locker. Mit meinen Assoziationen liege ich in der Realität auch nicht ganz falsch. Nur: Ein kleines bescheidenes Läufchen ist es nicht, was sich dahinter verbirgt. Und die Location ist auch nicht ein unbekannter stiller Winkel der Schweiz, sondern eben „das Engadin“.
Das Hochtal des Engadins mag eine der abgelegensten Regionen der Schweiz sein, es ist aber zugleich eine der bekanntesten, beliebtesten und dank der Strahlkraft von St. Moritz auch mondänsten Destinationen des Landes. Über 80 km erstreckt es sich im Süden des Kantons Graubünden, dem Verlauf des hier noch jungen Inn folgend, von Nordost nach Südwest, im zunächst noch wilden, engen Unterengadin steil ansteigend, im vergleichsweise flachen, seenreichen, bereits auf 1.800 m Höhe gelegenen Oberengadin auslaufend. Und eben hier, im Oberengadin, sammelt sich Mitte August die naturliebende Läuferschaft zum gemeinsamen Aufgalopp.
Integriert ist der Engadiner Sommerlauf in ein ganz neues „Laufformat“: Das St. Moritz Running Festival. Dieses dreitägige Laufspektakel hält einen ganzen Strauß läuferischer Optionen bereit: Wer Freude an Mehrtagesläufen hat, kann sich beim „Crossing Engiadina“ austoben, kurz und dafür umso knackiger geht es beim „Free Fall Vertical“ zu, familienkompatibel wiederum ist der Muragl-Lauf über 12 km. Das traditionsreiche Herzstück ist und bleibt jedoch der Engadiner Sommerlauf, der sich heuer zum 42. Mal jährt. Fast zwei Drittel der etwa 1.250 insgesamt gemeldeten Teilnehmer entscheiden sich für diesen. Der 25,5 km messende Parcours von Sils via Pontresina nach St. Moritz, gewürzt mit + 365 /- 401 Höhenmetern, bietet die vielleicht reizvollste Möglichkeit, die das Oberengadin prägende Seenlandschaft im Laufschritt kennenzulernen. Erlebnishungrigen empfehle ich, den Sommerlauf am Sonntag mit dem Free Fall Vertical als aufregenden „Appetizer“ am Samstag zu kombinieren. Was Euch da erwartet, könnt Ihr bildreich meinem gesonderten Bericht zu diesem Lauf entnehmen.
Die Klammer für alle Läufe bildet jedoch das „Festival“. In wundervoller Lage direkt am See, neben dem Eisstadion Ludains in St. Moritz Bad, ist das Festival Village angelegt. Zahllose Tische, Bänke, auch Kissen und Liegestühle zwischen Zelten, Buden und Pavillons mit reichlich kulinarischer und getränkemäßiger Auswahl laden vor und nach dem Laufen zum „Abhängen“ ein, Musik, live und aus der Box, liegt in der Luft. Hier wird gefeiert und gechillt, gestartet und gefinisht, von früh bis spät. Selten habe ich einen so stimmungsvollen „Apres Run“ erlebt.
Zwar gefinisht, aber nicht gestartet wird der Engadiner Sommerlauf im Festival Village. Diese Ehre gebührt dem Dorf Sils südlich von St. Moritz. Wer nicht privat die Möglichkeit hat, zum Start zu kommen und auch nicht so recht Lust zum Netzplanstudium des öffentlichen Nahverkehrs hat, der kann einen der beiden angebotenen Sonderbusse zu nehmen. Freilich zu dem Preis, selbst mit dem zweiten Bus schon lange vor dem Startschuss am Start zu sein.
Macht aber nichts: Denn das ist alles andere als langweilig. Pünktlich um 8:25 Uhr hält der Bus vor der Post in St. Moritz Bad und schon wenig später gleite ich vorbei an den im Morgenlicht glitzernden Fluten des Silvaplanersees. Eine Viertelstunde dauert die Fahrt bis zur Endstation Sils Maria Posta. Ein paar Minuten Fußweg sind es von hier durch den hübschen alten Ortskern bis zum Startplatz unweit des Silser Schulhauses am Ortsrand.
Und dieser Startpatz ist für sich allein schon ein Postkartenidyll. Mitten im weiten Wiesengrün, auf der verkehrsgesperrten Verbindungsstraße zwischen den Ortsteilen Sils Maria und Sils Baselgia steht ein einsamer roter Startbogen. Gen Süden blicke ich über das weite Blau des von hohen Bergen gerahmten Silsersees, sich am Horizont im Dunst dort verlierend, wo das Oberengadin mit dem Malojapass endet. Er ist größte und südlichste der Oberengadiner Seen. Wäre ich Maler, würde ich hier wohl unwillkürlich mein Werkzeug zücken. Kaum angekommen, wird es auch schon lebendig unter dem Startbogen. Es sind aber nicht die Läufer des Sommerlaufs, die sich hier sammeln, sondern die Starter der dritten Etappe des Crossing Engiadina. Allen voran entdecke ich ein bekanntes Läufergesicht: Anna Hahner als eine Hälfte der „Hahner-Twins“. Um 9:00 Uhr geht es mit viel Tamtam für die Trailrunner los, Sekunden später ist der Spuk vorbei, kehrt Beschaulichkeit wieder ein.
Ich ziehe weiter in Richtung Schulhaus, denn noch habe ich 1 ¼ Stunden Zeit, bevor es für mich losgeht. Zusehens füllt sich dort der Pausenhof. Schon bald zeigt die Sonne ihre Kraft und ich bekomme eine Vorahnung, dass das trotz der Höhe heute schweißtreibend werden kann. Zumindest wird bereits am Start ein Getränkestand bereitgehalten. Und reichlich stille Örtchen, um den Flüssgkeitsüberschuss wieder loszuwerden, gibt es obendrauf. Mit Musik und Infos werden wir unterhalten. Mehr als nur Unterhaltung ist es, als eine höchst motivierte Fitnesstrainerin die kleine Bühne auf dem Hof entert und zu donnernden Rhythmen das „Warming Up“ zelebriert. Wie erfolgreich sie dabei ist, belegen die Scharen, die sich zum Mitmachen animieren lassen. Erst als der Startmoderator gut zehn Minuten vor dem Start einen Hinweis gibt, zieht die Karawane der Wartenden gemächlich los in Richtung Startkanal und nimmt locker Aufstellung. Ein letztes Motivations-Hands Up, dann ertönt um 10:15 Uhr der Startschuss.
In flottem Trab geht es erneut hinein in das mittlerweile erwachte Sils Maria, begleitet von den Anfeuerungsrufen zahlreicher Zuschauer quer über den pittoresken Hauptplatz und weiter auf der Hauptstraße gen Norden aus dem Ort hinaus. Hier verlassen wir endgültig den Asphalt und folgen einem schnurgerade durch die offene, ebene Wiesenlandschaft gen Silvaplanersee führenden Naturweg.
Der bis zu 77 m tiefe Silvaplanersee (Lej da Silvaplauna) ist der mittlere der drei bzw. vier – je nachdem, wie man es sieht – großen Seen der Engadiner Seenplatte. Wie auch die anderen Seen wird er vom hier noch jungen Inn durchflossen.
Zunächst direkt an der Uferlinie folgen wir dem kurvigen Verlauf des Süd- und dann Ostufers des Sees. Wundervoll ist der Blick über das stille Wasser, die sich wie Wellen in tiefem Grün darin ergießenden bewaldeten Hügel und die, wohin man auch schaut, alles in lichtem Grau und Weiß überragenden Berge im Hintergrund. Aus den saftigen Wiesen am Südufer treten wir hinein in den schattigen Wald am Ostufer. Es ist ein sehr entspanntes Laufen, mal direkt am Wasser, mal versunken im Nadelgehölz, nun auch mit ersten profilierten Passagen. Am gegenüberliegenden Ufer sehen wir den namengebenden Ort Silvaplana. Wirklich nahe kommen wir ihm aber nicht.
Uns dem Nordende des gut drei Kilometer langen Sees nähernd treten wir hinaus aus dem Wald und folgen dem sich durch die sonnenüberfluteten Wiesen schlängelnden Weg. Ein eindrückliches Bild bietet die sich bis zum Horizont dahinziehende Läuferkarawane. Einen markanten optischen Kontrapunkt setzt das wehrhaft gestaltete Schloss Crap da Sass am Nordufer, das allerdings kein Relikt des Mittelalters, sondern Ausfluss neuzeitlicher Burgenromantik ist. Nett anzuschauen ist es allemal. Den ersten Verpflegungsposten nach 6,5 km nutze ich sogleich, meine Flüssigkeitsreserven aufzufrischen.
Im Folgenden geht der Silvaplanersee an einer Engstelle in den Champfèrersee (Lej da Champfèr) über, wobei sich die Geister nun streiten, ob zweiter nur ein Ableger des ersteren ist oder ein eigenständiger See. Wie dem auch sei: Über die Engstelle führt die Surlej Brücke. Und die müssen wir uns kurzzeitig mit dem motorisierten Verkehr teilen.
Jenseits der Brücke werden wir sogleich auf den breiten Uferweg abgeleitet. Dem Westufer des Champfèrersees folgend geht es für uns weiter durch offenes Wiesengelände. Wäre die Durchgangsstraße nicht gar so nahe, hätte dieser See tatsächlich noch einen um einen Tick höheren Romantikfaktor als der Silvaplanersee. Denn noch lieblicher sind die Ausblicke auf die sich im glatten Wasser spiegelnden Wälder und Berge, vor allem vom stillen Nordufer aus. Wahre Postkartenmotive sind es, die hier vor meinen Augen vorbeiziehen.
Nach gut neun Kilometern erreichen wir die Stelle, an der der Inn blumengesäumt, still und leise aus dem See abfließt. Ein kurzes Wegstück flussabwärts ist der Fluss, der hier noch Sela heißt, unser Begleiter. Schnell gewinnt der Fluss an Dynamik, dringt Rauschen an unser Ohr, mutiert er zum sprudelnden Gebirgsbach. Aber da heißt es schon wieder Abschied zu nehmen. Über eine rustikale Holzbrücke setzen wir über und tauchen ein in dichten Wald.
Eine kräftige Steigung wird zur ersten echten inneren Prüfung, ob man die noch laufend oder schon walkend bewältigen kann bzw. soll. Auf einem gemütlichen Naturweg findet man jedoch schnell wieder seinen Rhythmus. Bei km 10 passieren wir einen idyllisch im Wald gelegenen und gut besuchten Badeweiher. Kurz darauf queren wir einen großzügig in den Wiesen angelegten Campingplatz. Kein Zaun begrenzt diesen und auch sonst lässt allenfalls die Stromversorgung erkennen, dass dies ein offizieller Standplatz ist. Über eben jene Wiesen hinweg erblicke ich bereits in der Ferne die Ausläufer von St. Moritz Bad, unser nächstes Zwischenziel. Wobei: In den Ort hinein kommen wir nicht, wir schrammen nur sozusagen hart vorbei.
Im stetigen Auf und Ab durch den Wald gibt dieser nur ab und zu den Blick frei. So erhaschen wir nur flashartige Eindrücke vom beeindruckenden, unter der Regie von Kempinski stehenden Grand Hotel des Bains, einen der altehrwürdigen Fünfsternetempel von St. Moritz, und der aus dem Wald ragenden neugotischen Französischen Kirche. Ganz real ist dafür der Eindruck des nächsten Versorgungspostens nach 12 km.
Der Stazerwald bestimmt als Laufrevier unseren weiteren Laufkurs. Dieser eiszeitlich hügelig geformte Wald ist als Naturdenkmal deklariert. Primär Lärchen, Bergföhren und Arven gedeihen hier, mal dicht an dicht, mal locker verteilt. Zahlreich sind die Lichtungen, was dem Wald eine gewisse Luftigkeit und Leichtigkeit verleiht und auch immer wieder schöne Ausblicke in die Ferne ermöglicht.
Das Gelände bringt es freilich mit sich, dass es auf dem breiten Naturweg ständig auf und ab geht, nie dramatisch, aber beständig. Etwa 15 km liegen hinter mir, als ich zwischen den Bäumen den Stazersee (Lej da Staz) erblicke. Überaus idyllisch ist die Lage des von Moorwiesen und Schilfbeständen umrahmten Gewässers, einem der beliebtesten Ausflugs- und dank des vergleichsweise warmen Wassers auch Badespots der Region. Traumhaft ist die Lage des kleinen Hotel Restaurants Lej da Staz am Ostufer, vor allem die Sonnenterrasse mit Panoramablick über den See und die Bergwelt im Hintergrund. Ein schönes Gefühl ist zu wissen: Auf unserem weiteren Weg kommen wir erneut hier vorbei, nur dann an anderer Stelle.
Und schon tauchen wir wieder ab in den Wald. Eine längere Berganpassage wirkt deutlich tempodrosselnd, ehe es noch viel länger im Galopp in die Tiefe geht. Der Downhill Run führt uns geradewegs hinab nach Pontresina. Schon aus der Ferne dürfen wir einen ersten Höhenblick auf den langgestreckt in einem Engadiner Seitental gelegenen Ort werfen. Bekannt ist das 2.200 Einwohner-Dorf für seine Hotels aus der Belle Epoque und die traditionellen Engadinerhäuser mit ihren mit Sgraffito-Malereien verzierten Fassaden. Aber auch für seine Lage nah am Berninamassiv mit zwei der prominentesten Gipfel des Engadins: Piz Palü und Piz Bernina.
Aber wie schon in St. Moritz gilt auch hier: So richtig nahe kommen wir dem Ort nicht. In den Wiesen nahe der Bahngleise im Tal trinke ich mich nach etwa 18 km ein weiteres Mal durch das Getränkeangebot einer Verpflegungsstelle. Ein Becher Wasser über den Kopf gegossen sorgt für zusätzliche Erfrischung. Durch den Wald oberhalb des durch das Tal rauschenden Flusses Flaz setzen wir auf kurvigen Pfaden unseren Weg fort. Ein beeindruckender Ausblick bietet sich auf das im gegenüberliegenden Hang türmende Hotel Schloss Pontresina.
Aus dem Wald heraustretend setzen wir unseren Weg im offenen Gelände gen Norden durch das sich weitende Tal fort. Nicht unglücklich bin ich, dass ein paar Wolken für zusätzlichen Schatten und damit Kühlung sorgen. Flach geht es durch die Landschaft dahin und so hätte es gerne bleiben können. Aber mir ist auch klar: Um zurück nach St. Moritz zu kommen, sind die zwischen den Tälern liegenden Hügel zu überwinden.
Kurz nach km 20 ist es so weit. Aus dem Tal hinaus windet sich unser Weg durch den Wald weiter und weiter in die Höhe. Das Feld um mich herum ergibt sich in sein Schicksal und stapft stoisch. bergan. Erneut führt uns der Weg durch den so schönen Stazerwald. Lauf- und Gehpassagen wechseln einander ab. Mit mehr und mehr Wanderern und vor allem Mountain Bikern müssen wir uns den Weg teilen, je näher der Stazersee rückt. Ein schönes Gefühl ist schließlich, sich in leichtem Trab dem Blau des Sees anzunähern und noch schöner, nach gut 22 km ein letztes Mal unterwegs mit Seeblick verpflegt zu werden.
Vom Ende des Sees aus führt der breite Naturweg weiter durch den Wald, geradewegs auf den St. Moritzersee zu. Schon bald sehe ich in der Ferne den Gipfel des Piz Nair, mit 3.056 m Höhe sozusagen der Hausberg von St. Moritz, und erstes Seenblau durchschimmern. Dank des leichten Gefälles rückt der See und mit ihm die Kulisse von St. Moritz Dorf schnell näher. Von der historischen Meierei, einst bischöfliches Anwesen, jetzt ganz weltlich als Landgasthof genutzt, sollte der Kurs eigentlich direkt zum See hinunter und dort am Ufer entlang bis zum Ziel im Festivalgelände führen. Eine schöne Vorstellung, ein entspanntes Auslaufen. Schon am Start wurde uns allerdings offenbart, dass umständehalber umgeleitet werden muss. Das Ergebnis der Umleitung ist leider nicht ganz so entspannt. Denn hinein und hinauf geht es wieder in den blickdichten Wald, den wir erst dann verlassen dürfen, als wir die „Banlieue“ von St. Moritz, ein gesichtsloses Neu- und Hochbauviertel am Rande von St. Moritz Bad erreichen. Im gefühlten Zickzack geht es hier durch, ehe sich der Weg final hinab in die weiten Uferwiesen am See absenkt.
Ein schönes und entspanntes Bild bietet sich hier: Zahlreiche Menschen liegen im Gras und am See, die sommerliche Stimmung nutzend. Beifall begleitet uns auf den letzten Metern. Herrlich ist der Blick über das Seenrund, hinüber nach St. Moritz Dorf. Vorbei an der einsamen und irgendwie sehr italienisch wirkenden Borromäuskirche und die Holzbrücke am Zufluss des Inns in den See querend, geht es hinein in den eingezäunten Zielkanal und vom Moderator begrüßt unter dem Zielbogen hindurch.
Erst im Stillstand und zur Ruhe kommend merke ich, wie sommerlich heiß es eigentlich ist, auch wenn der immer stärker aufkommende Malojawind für gewisse Kühlung sorgt. Mit würzigem Käse und Weißbrot, dazu kaltem alkoholfreien Weißbier im Ziel kehren die Lebensgeister schnell zurück. Wie zahlreiche andere Läufer zieht es mich ins Gras am Seeufer. Entspannung pur ist das. So schön kann Laufen sein – aber eben auch das Nichtlaufen danach.
Eine runde Sache. So lautet kurz und knapp mein persönliches Fazit nach zwei Läufen und drei Tagen Festival Village. Die Veranstaltung schafft es, über das Lauferlebnis hinaus ein besonderes Lebensgefühl an einem besonderen Ort zu vermitteln. Es erreicht nicht nur den Fuß, sondern auch das Herz. Und so kann ich nur hoffen, dass dieses Konzept – Running & Chilling - auch in Zukunft Bestand hat.