Wer sich immer fest an seine Prinzipien klammert, braucht sich nicht zu wundern, wenn er etwas verpasst. Mein liebstes Prinzip: Wenn laufen, dann (mindestens) Marathon! Bisher tauche ich deshalb in keiner Ergebnisliste „unter 42“ auf. Dass mir dafür der eine oder andere läuferischer Leckerbissen entgeht, will ich nicht sehen oder ich nehme es in Kauf.
Im Moment bereiten mir 42 km lange Läufe, zumindest auf dem letzten Drittel, mehr Verdruss als Freude. Kann sein, dass das der wahre Grund für mein Interesse am Engadiner Sommerlauf ist. Nach außen argumentiere ich aber, dass das Hochplateau zwischen Majola und Zernez als das Laufparadies schlechthin gilt. Als Euer liebstes Laufportal ist marathon4you.de da einige Informationen schuldig.
Bever und Sils – nie gehört? Wenn ich jetzt verrate, dass genau in der Mitte dieser beiden typischen Engadiner Orte St. Moritz liegt, ist aber alles klar, oder? Es gibt in den Alpen keinen berühmteren Ferienort und in der Welt nicht viele, die der 5000 Einwohner zählenden Jetset-Destination das Wasser reichen können. Wer in der Welt der Schönen, Reichen und ganz schön Reichen was auf sich hält, hat im Winter sein Domizil in einem der vielen Luxusherbergen oder ein eigenes Chalet in St. Moritz.
1928 und 1948 fanden in St. Moritz die Olympischen Winterspiele statt. Das Skigebiet Corviglia-Marguns-Piz Nair zählt zu den größten der Schweiz. Cricket, Polo oder Pferderennen (White Turf) wurden in St. Moritz zu Wintersport. Was macht man im Sommer? Der Jetset ist irgendwo auf irgendwelchen Jachten unterwegs. Berg-Wandern, Walking und Laufen gehören nicht zu deren bevorzugten Sportarten.
Das ist die Chance für unsereiner. Die Luxustempel stehen leer und buhlen um die Gäste. Billiger als im August kann man sich nicht in ein 4- oder 5-Sterne-Hotel einmieten. Ab zwei Übernachtungen bekommt man gratis eine Flatrate für alle Bergbahnen und öffentlichen Verkehrsmittel. Ok, ein Schnäppchen ist die Schweiz dank ihrem Franken auch dann noch nicht. Aber setzt man am Ende eines Wochenendes Leistung und Preis in Relation, kommt man auf ein ganz ordentliches Ergebnis.
Die Bedingungen sind für Spitzen- und Hobbyläufer gleichermaßen ideal. Man kann stundenlang auf 1800 m Höhe auf stopfebener Piste Tempo bolzen oder vor sich hin traben, Berglauf üben und sich in herrlich klaren und kühlen Bergseen erfrischen. Und das alles vor einer einmalig schönen Berg- und Kulturkulisse.
Täglich läuft Dir irgendein Olympiasieger, Weltmeister oder hoffnungsvoller Nachwuchsläufer über den Weg. Heute ist es Österreichs Marathon-Star Günter Weidlinger, morgen Europameister Jan Fitschen, die Cierpinskis oder Herbert Steffny und Richi Umberg mit ihren Laufseminaristen. Rummel kennt man hier nicht. Alles ist beschaulich, gemütlich. Ein Vergleich zu den Ferienzentren in Österreich oder Südtirol ist nicht erlaubt.
Der Engadiner Sommerlauf von Sils nach Bever findet in diesem Jahr bereits zum 32. Mal statt und ist beliebt wie nie zuvor. 1326 Läuferinnen und Läufer werden im Ziel gezählt, davon haben 768 die 27 km lange Strecke (ca. 200 HM) bewältigt, 339 werden auf der 10km-Distanz registriert. Jetzt denkt man darüber nach, das Angebot um einen Marathon zu erweitern. Im Winter gibt es ihn bereits, den legendären Engadiner Skimarathon mit über 10.000 Teilnehmern. Wenn das kein Ansporn ist.
Seine Startunterlagen holt man sich im Läufer- und Sponsoren-Village im Heilbad in St. Moritz-Bad. Start für den Sommerlauf ist in Sils, der 10 km-Lauf (Muragl-Lauf) wird in Pontresina gestartet. Ziel ist Bever. Es gibt Shuttle-Busse und Gepäcktransport, außerdem kann man kostenlos die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.
Trotz der ansehnlichen Teilnehmerzahl hat die Veranstaltung einen provinziellen Charakter, was der Attraktivität eher zuträglich ist. Alles ist handgemacht und überschaubar. Gibt’s dennoch Fragen, OK-Chefin Anne-Marie Flammersfeld ist allgegenwärtig.
Es ist kühl am Morgen. Trotzdem warnt der Sprecher vor der erwarteten Hitze: „Zieht Euch nicht zu warm an. Es gibt mindestens 26 Grad. Und das ist sehr viel auf dieser Höhe.“ Stolz verweist man darauf, dass beim Sommerlauf bisher immer schönes Wetter war. Aber heute wird es noch viel schöner …
Ingo juckt das wenig. Der Deutsche verzichtet weder auf seine gestrickten Ringelstrümpfe noch auf seine Mütze im gleichen Muster. Sieht ja auch schick aus.
Wie ein Schloss thront auf einem bewaldeten Berg das 5-Sterne-Hotel mit dem bescheidenen Namen „Waldhaus“ am Eingang zum Fextal. Man schaut zum Silser See und freut sich auf den Lauf. Ganz entspannt sind auch Jan Fitschen, 2006 Europameister über 10.000 m, Filmon Ghirmai , Hindernisläufer und mehrmals Deutscher Meister und Jan Förster, letztes Jahr Zweiter der Deutschen Meisterschaft im 10 km Straßenlauf, denn für sie geht es nicht um Platzierungen, sondern um eine spezielle Trainingseinheit. Günter Weidlinger startet beim 10 km Lauf, will aber volle Pulle laufen. Er freut sich auf Frankfurt, denn dort geht es für ihn um die Olympiaqualifikation.
Gleich ist es 10.00 Uhr. „Ruhe“, mahnt der Sprecher. Er fürchtet, der Startschuss wird überhört. Er warnt noch vor einer Baustelle am Ortseingang, dann geht es los. Das Läuferfeld schlängelt sich durch die engen Gassen des kleinen Ortes, dessen Vorzüge schon Nitzsche und Hermann Hesse zu schätzen wussten. Auch David Bowie lässt sich hier inspirieren.
Wanderer mit Stöcken und schweren Rucksäken pilgern zur Furtschellas-Bergbahn, die sie auf 2800 m bringt. Bis auf 3303 m geht es mit der Corvatsch-Bahn von Surlej aus – dorthin kommen wir später. Wir laufen in Richtung des Silvaplanasees und dort am rechtseitigen bewaldeten und daher etwas schattigen Ufer entlang. Wie ein junger Hirsch hetze ich nach jedem Fotostopp dem Feld hinterher und wundere mich, dass ich so auf fast ebener Strecke schnell außer Atmen bin. Es ist wohl die Höhe. An 1800 m muss man sich erst gewöhnen.