Jahrhundertelang wurde der Passo dello Stelvio, der die italienischen Regionen Lombardei und Südtirol verbindet, kaum gewürdigt. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war das Stilfserjoch, so der deutsche Name, lediglich eine Art Ausweichmöglichkeit für die Menschen, wenn sich kein besserer Weg bot. Erst zwischen 1820 und 1826 ließ das österreichische Kaiserreich den Pass zu einer richtigen Straße ausbauen. So sollte die damals zu Österreich gehörende Lombardei besser erreichbar sein. Um 1900 wurde die Straße auch für den Automobilverkehr ausgebaut.
Mit ihren vielen Spitzkehren und der großartigen Aussicht ist die Passstraße heutzutage besonders bei Motorradfahrern und Radlern sehr beliebt. Befahren werden kann der Pass aber nur im Sommer, von November bis Juni herrscht Wintersperre. Mit einer Höhe von 2.757 m ist das Stilfserjoch der höchste Gebirgspass in Italien und der zweithöchste der Alpen. Gesperrt ist er ausnahmsweise auch diesen Samstag von 8.30 – 18.00 Uhr extra für den Stilfserjoch Stelvio Marathon. Eine Ausnahme gilt für Radler, auf sie müssen wir aufpassen, sie dürfen auch während des Rennens auf der Passstraße fahren.
Von Deutschland über den Fern- und Reschenpass, oder autobahnmäßig komfortabler über den Brenner, Bozen und Meran kann man Prad am Stilfersjoch ganz gut erreichen. Ein bisschen Zeit muss man natürlich mitbringen, den kleinen Ort im Vinschgau, an der Grenze zur Schweiz, erreicht man nur über die Landstraße. Wir werden an diesem Wochenende wieder mit bestem Südtirol-Wetter verwöhnt.
Nach der erfolgreichen Premiere im Vorjahr steht die zweite Auflage an. Mehrere Distanzen werden angeboten, alle haben ein Ziel und das liegt auf dem Passübergang des Stelvio. Beim Marathon summieren sich die Aufstiege heuer durch eine kleine Streckenänderung auf fast 2.500 Höhenmeter. Aufteilen könnte man die Strecke in drei Teile. Der erste Abschnitt ist etwa 16 km lang und besteht aus einer Schleife im Tal und führt wieder zurück in den Startort Prad. Gelaufen wird hier größtenteils auf Asphalt, was Straßenläufern besonders liegen wird. Der Mittelteil begünstigt die Trailrunner. Abwechselnd auf schmalen Pfaden und Naturwegen geht es bis Kehre 25 rustikal zur Sache. Beim Schlussabschnitt können gute Bergläufer zeigen, was noch in ihren Wadln und Oberschenkeln steckt. Über 24 Kehren führt die Straße ins Ziel am Passübergang. Das Zeitlimit beträgt hierfür 8.30 Stunden. Somit ist für jeden Läufertyp etwa dabei. Ich bin neugierig, wie sich die drei Teile als Gesamtkunstwerk anfühlen.
Neben dem Marathon gibt es noch die 26 km lange Classic-Strecke, hier entfällt die Schleife im Flachen. Zudem kann sie auch als Jochmarsch ohne Zeitmessung gewandert werden. Die Short-Distanz beginnt ab Kehre 46 der legendären Passstraße und ist 14 km lang. Stöcke sind für alle drei Laufstrecken verboten. Lediglich Wanderer dürfen bewaffnet sein. Schwierig macht die Dreiteilung der Strecke für Klaus und mich auch die richtige Wahl der Besohlung zu treffen. Etwa die Hälfte dürfte auf Asphalt zurückzulegen sein, der Rest auf Naturstrecken bis zu alpinen Verhältnissen. Während sich Klaus für Trailschuhe entscheidet, wähle ich die Straßenschlappen. Mal sehen, wer es besser trifft.
Ab Freitagnachmittag können wir unsere Startunterlagen im Sportzentrum von Prad empfangen. Aber wie überall in Italien gilt natürlich: ohne Gesundheitszeugnis geht gar nix. Wer es nicht schon online eingereicht hat, für den besteht noch die Möglichkeit, es vor Ort vorzulegen. Sollte noch jemand was von der Ausrüstung vergessen haben, eine kleine Expo bietet die Möglichkeit der Vervollständigung des Equipments. Am Samstagabend findet auf dem Gelände auch die Siegerehrung und After-Race-Party statt.
Eine vierköpfige Treichlergruppe aus dem benachbarten Val Münstair in der Schweiz läutet im wahrsten Sinne des Wortes die letzten Minuten bis zum Start des Marathons um 8 Uhr ein. Um 7.15 Uhr sind bereits die Wanderer auf die Strecke gegangen. Wir haben noch etwas Zeit, unterdessen unterhält uns ein Moderatoren-Duo mit kurzen Starter-Interviews. Besonders erwähnt wird mit Manfred Haubenthal der älteste Teilnehmer. Geburtsjahr 1939. Respekt, Respekt. Der Spätzünder steht fast neben mir. Udo Jürgens hat es ja schon früher besungen: mit 66 Jahren fängt das Leben an. Für Manfred begann mit 66 erst seine Marathonkarriere. Untermalt wird alles lautstark und stimmungsvoll mit alten Rock-Klassikern. Das rockt gewaltig.
8.00 Uhr, planmäßig sollte es jetzt eigentlich losgehen. Wir müssen noch warten, informiert uns der Sprecher. 8.05 Uhr, wir warten immer noch. Etwa ein viertel Stunde zieht sich die Verzögerung hin. Dann ist er da: der Helikopter, der uns von oben filmen soll. Auf seine Luftaufnahmen will man nicht verzichten. Wir können es verschmerzen, das Wetter ist traumhaft, zudem werden wir aus dem gängigen Repertoire von AC/DC bestens unterhalten. Unter den Teilnehmern herrscht tolle Stimmung.
Mit etwa 15 Minuten Verspätung geht es endlich los. Über die Suldenbachbrücke verlassen wir Prad. Ein schmaler asphaltierter Radweg führt uns über Agums nach Lichtenberg. Bereits nach 2,5 Kilometer steht hier die erste Wasserstelle. Da es schon ordentlich warm ist, ist frühes nachzutanken sehr empfehlenswert. Nach Lichtenberg gibt es auch die ersten langgezogenen Wellen mit ein paar Höhenmetern. Die Talschleife weist etwa 100 Höhenmeter auf, die merkt man mehr, als ich mir gedacht hätte. Wir verlassen den geteerten Weg und wechseln auf Naturboden. Damit hatte ich erst recht nicht gerechnet. Wellig geht es so einige Kilometer dahin.
Nach knapp 7 km erreichen wir mit Glurns, die kleinste Stadt Südtirols. Das Städtchen mit 880 Einwohnern im mittelalterlichen Flair hat noch eine vollständig erhaltene Stadtmauer mit drei Wehrtürmen aus dem 16. Jahrhundert und Laubengängen von besonderem Charme. Bereits öfters diente die Stadt als Filmkulisse. Unser Film endet leider bereits am Ortseingang, wir dürfen ein Stück vor dem Tauferer Tor nur kurz Getränke aufnehmen und werden mit einem U-Turn wieder in die entgegengesetzte Richtung geschickt. Im Vorjahr war das noch anders.
An der Etsch geht es für einige hundert Meter auf einem schmalen, links und rechts eingewachsenen Single-Trail entlang. Prompt stürzt ein Läufer den Böschungsrand hinunter. Aber nix passiert, wir helfen ihm auf die Beine und gleich geht’s weiter. Mir bereitet der Trail sofort viel Spaß, aber leider ist das Vergnügen nach 300 Metern bereits wieder beendet. Aber auch der Etschradweg Via Claudia Augusta ist sehr schön zu laufen und meist auch wunderbar schattig. Er führt uns wieder auf Asphalt, zurück Richtung Prad. In der Antike war die Via Claudia Augusta eine der wichtigsten Römerstraßen, die Norditalien mit dem süddeutschen Raum verband und über den Reschenpass und meine Heimatstadt Augsburg an die Donau führte.
Nach einer weiteren VP an den Prader Fischweihern verlassen wir die Etsch und nehmen groben Blickkontakt mit unserem primären Ziel auf. Die schneebedeckten Eis- und Felsformationen rund um das Stilfserjoch mit der Ortlerspitze liegen kurzzeitig genau in unserem Visier, darauf weist uns ein großes Banner hin. Die Passhöhe selbst kann man von hier aber noch nicht auszumachen. Ein Steg führt uns über den Suldenbach und wir sind zurück in Prad. Etwa 100 Meter entfernt von unseren Startplatz queren wir die Straße. Kurz darauf ist unsere knapp 16 km lange Schleife durch die Talsohle des Vinschgau beendet. Laut Ausschreibung ist hier ein Zeitlimit von zwei Stunden einzuhalten. Ob das so genau kontrolliert wird, kann ich nicht sagen. Eine Zeitmessmatte gibt es jedenfalls nicht zu passieren und Kontrolleure sind auch nicht zu sehen. So oder so, das sollte jeder schaffen.
Direkt im Anschluss an die VP beginnt der Aufstieg. Schnell gewinnen wir an Höhe, bis zu unserer Halbzeit in Stilfs sind auf den folgenden 4 Kilometern etwa 500 Höhenmeter aufzusteigen. Nachdem wir zwei Höfe durchquert haben, folgt bereits die fünfte Versorgungsstation. Den Apfelstrudel sollte man zwingend probieren.
Auf dem Archaikweg ziehen wir durch den Nationalpark Stilfserjoch. Von Schotter, Wiesen bis zu wurzeligen Pfaden ist hier an Wegebeschaffenheit alles vertreten. Durch Mischwälder und Sträucher geht es immer tiefer ins Tal hinein. Zwischendrin öffnet sich der Wald und es gibt die herrliche Aussicht ins Tal vor uns zu bewundern. Bereits zu Urzeiten führten hier alte Pfade vom Vinschgau in das lombardische Veltlintal. An mehreren Stellen sollen mittelalterliche Karrenspuren sichtbar sein, die von zweirädrigen Karren mit Eisenrädern in die Felsen gefräst wurden. So sind die Pfade auch nie außergewöhnlich anspruchsvoll oder gefährlich, sondern machen einfach Spaß.
Die erste Spitze auf unserem Höhenprofil liegt auf etwa 1400 Meter. Bis Stilfs verlieren wir aber wieder ein paar Höhenmeter, einen Kilometer geht es sanft abwärts. Schmale Gassen führen uns in die Ortsmitte. Dort können wir uns wieder ausgiebig verpflegen. Obwohl es bereits sehr warm ist, wird heute keiner Durst erleiden. Unglaubliche 16 VPs sind entlang der Strecke aufgebaut und bieten neben den Getränken auch immer wieder ein reichhaltiges Angebot von kleinen Leckereien. Vom Apfelstrudel habe ich euch ja schon vorgeschwärmt. Es gibt aber auch Melonen, Äpfel, Zitronen, Waffeln, Schokolade, Riegel, Gels und meist steht auch eine Schale Salz bereit, was ich besonders schätze.
Am Kirchplatz ist eine Stimmungshochburg, die Mädels dort machen für mich eine La Ola. Wenig später überqueren wir am Ortsausgang die Zeitmessmatte der Halbmarathonmarke. Der Cut-Off beträgt hier 3:15 Std. Ich liege noch weit vor dem Zeitlimit obwohl sich meine Beine heute von Anfang an etwas schwer anfüllen.
Ein langer, aber nicht sonderlich steiler Aufstieg führt uns am malerischen Kirchlein St. Martin vorbei. Immer näher rückt der Ortler, wiederholt haben wir freien Blick auf ihn. Die Steilheit nimmt zu. Die nächste VP liegt am Wildgehege Fragges. Keine Tiere zu sehen, aber kein Wunder bei den Temperaturen. Es wird steiler, von einer Schotterstraße führt ein Weg steil aufwärts durch eine Wiese.
Km 27. Plötzlich stehen sie vor uns, die weißen Spitzen vom fast 4.000 m hohen Ortler und der Trafoier Eiswand. Ein unglaublich beeindruckender Ausblick. Sie bleiben ab jetzt immer in unserem Visier, wir rücken immer näher ran. Der Goldseeweg führt uns ein letztes Mal an einem steilen Abhang entlang durch den Wald. Danach ändert der Trail seine Charakteristik, er wird steiniger und karger. Bis auf über 2400 m geht es rauf.
Ein verblockter Pfad führt durch ein Geröllfeld und ein kleines Schneefeld. In einigen Passagen steht noch Wasser, ich komme trotz meiner Straßenschuhe problemlos drüber. Mittendrin wieder eine Getränkestation. Wirklich der Wahnsinn, welchen Aufwand die Organisatoren treiben.
Nach dem etwa 4 km langen traumhaft schönen Abschnitt bergauf auf dem schmalen Gebirgspfad, geht es auch noch einige Kilometer und rund 300 hm abwärts, bis wir auf Kehre Nr. 25 treffen. Mittendrin kann ich auf Klaus aufschließen. Meine Beine sind jetzt endlich frei und es läuft heute erstmals wirklich gut bei mir. Von zwei Mädels lassen wir uns vor dem Ortler ablichten. Die Passstraße und auch unser Ziel sind aber immer noch nicht einsehbar. Das Bergabstück ist erstaunlich problemlos und wunderbar zu laufen. Erst wenige hundert Meter bevor wir auf die Passstraße gelangen, ist sie erstmals abschnittsweise sichtbar.
An Kehre 25 laufen wir von der Seite in die Passstraße ein. Hier beginnt für uns der Schlussabschnitt. Die Kehren werden von oben heruntergezählt, sie beginnen unterhalb des Passübergangs mit Kehre 1 und enden ganz unten am Pass mit der 48sten. In Höhe des Berghotels Franzenshöhe bei Kehre 22 gilt es noch das letzte Zeitlimit bei km 35 von 6:30 Std. einzuhalten. Ich finde die Limits sind alle recht ordentlich gewählt und auch für langsamere Läufer machbar.
Mit Stefania, der Sub 7-Pacerin und Klaus gehe ich die ersten Kehren an, aber ich fühle mich noch gut und kann so an etwas flacheren Abschnitten immer auch etwas laufen. Durchgängig kann ich das natürlich nicht durchziehen, sonst würden mir die Oberschenkel platzen, aber es klappt ganz gut und ich kann mich schnell absetzten. Die 7 Stunden-Marke würde ich gerne unterbieten, somit muss ich Stefania nur hinter mir halten. Zwischen 8 und 10 % Steigung weisen die Zwischenabschnitte meist auf, natürlich gibt es auch einige Ausreißer nach oben.
In den Fokus der Öffentlichkeit rückt der Pass heutzutage vor allem dann, wenn der Tross des Giro d’Italia ihn mal wieder unter die Räder nimmt. Auch heute sind einige Radler unterwegs, aber bei weitem nicht so viele, wie ich eigentlich befürchtet hätte. Sie haben ja die Ausnahmegenehmigung und dürfen auch während des Stelvio Marathons radeln. Vor mir fährt einer mit einer seltsamen Taktik, er benötigt die komplette Straßenspur und kurbelt praktisch im Zick-Zack nach oben. Gefährlicher wird es, wenn welche von oben runterbrettern, aber sie sind schon von weitem auszumachen und man kann ihnen aus dem Weg gehen.
Auch auf der Passstraße sind einige Versorgungsstellen verteilt. Zur Einstimmung auf den Schlussanstieg wird mir auch ein Bierchen angeboten, da kann ich natürlich nicht nein sagen. So läuft es gleich noch besser. Zwei Kilometer vor dem Ziel kann ich auch noch Andi erschrecken als ich ganz leise von hinten auf ihn aufschließen kann. Wir sind jetzt gut in der Zeit um unser beider Ziel zu schaffen, so können wir noch ein Foto in Kehre 1 von uns schießen lassen.
Das letzte Stück wird mit auf den Teer gemalten Hunderter-Markierungen runtergezählt. Obwohl nur mehr ein paar Meter zu laufen sind, ist der Zielbogen auf der letzten langen Geraden immer noch nicht einsehbar. Lediglich der Zielsprecher ist zu hören. Erst als wir um das erste Gebäude auf dem Pass herum sind, können wir ihn sehen. Links oben, etwas abseits vom Passübergang liegt das Finish. Im Ziel bekommen wir eine wunderschöne Medaille und an einem Stand dürfen wir unser Finishershirt empfangen.
In unseren Startunterlagen befand sich auch ein Gutschein für eine Dusche inklusive Bier in einem der Hotels auf dem Pass. So hat jeder die Möglichkeit sich vor Ort zu erfrischen. Die beste Übersicht über unseren gelaufenen Schlussabschnitt auf der Passstraße bietet der noch etwas höher gelegene Alpengasthof Tibet. Klaus und ich genießen bei einer Südtiroler Spezialität nochmals das grandiose Panaroma.
Mit Shuttlebussen werden wir wieder nach Prad zurückgebracht. Die direkte Abfahrt auf Südtiroler Seite ist immer noch gesperrt, so dürfen wir einen kleinen Umweg durch die Schweiz antreten. Am Abend steigt dann auf dem Sportgelände die große After-Race-Party mit Live-Musik, wo wir noch einen Gutschein für einen Teller Nudeln einlösen können.
Die abwechslungsreiche, dreigeteilte Marathonstrecke macht sehr viel Freude und ist etwas ganz Besonderes in der Liste der klassischen Bergmarathons. Sehr positiv sehe ich auch das großzügige Zeitlimit von 8:30 Stunden, hier können auch etwas langsamere Läufer stressfrei das Ziel erreichen. Eine grandiose Aussicht und perfekte Organisation runden das Erlebnis noch ab.
Marathon, Herren
1. Andreas Reiterer (Team La Sportiva/ Telmekom Team) 3:44.34
2. Jochen Uhrig (Tsg Weinheim) 3:47.56
3. Matteo Vecchietti (Atletica Valle Di Cembra) 4:03.0
Marathon, Damen
1. Edeltraud Thaler (Telmekom Team Südtirol) 4:34.53
2. Anna Ricardac Gerlach 4:59.4
3.Tamara Schwienbacher (Asv Rennerclub Vinschgau) 5:02.33
Herren, Classic
1. Stefano Facchini (Sc Meran) 2:51.15
2. Anton Steiner (Asv Rennerclub Vinschgau) 2:58.19
3. Giovanni Vanini (Cardatletica) 3:03:44.
Damen, Classic
1. Anna Pircher (Asv Rennerclub Vinschgau) 3:26.21
2. Angelika Schwienbacher (Asv Martel)l 03:41.33
3. Julia Schrötter 3:45.28