Da ich als Kind mit meinen Eltern oft im Urlaub ins Stubaital fuhr und auch danach mehrmals dort zum Wandern war, stand der Stubai Ultratrail schon seit seiner Premiere auf meiner Wunschliste. Jetzt habe ich endlich am betreffenden Wochenende Zeit.
Hier werden für jeden Geschmack unterschiedliche Distanzen angeboten. Die Ultratrailstrecke führt 66 km mit 4700 Höhenmetern Auf- und 2500 Höhenmetern Abstieg von Innsbruck bis zum Stubaier Gletscher, der K32 führt ab Neustift auf der selben Strecke wie der Ultra hinauf, der K20 startet weiter hinten im Tal und der K9 ist ein reiner Berglauf von der Talstation zur Bergstation der Gondelbahn. Teilnehmer aus 28 Nationen starten in diesem Jahr.
Zusätzlich findet erstmals schon zwei Tage zuvor der Stubai Vertical statt, ein extremer Berglauf mit 1024 Höhenmetern von Neustift hinauf zur Elferhütte. Auf dieser Strecke ist nächsten Jahr ein Wettkampf der Trailrunning- und Berglauf-Weltmeisterschaft, die im Juni 2023 zehn Tage lang mit verschiedenen WM-Rennen, aber auch offenen Läufen für “normale” Sportler in der Region Innsbruck und Stubaital stattfinden wird.
Ich fahre am Donnerstagabend mit der Gondelbahn hoch und wandere die letzten 250 Höhenmeter zur Elferhütte, um mir oben die Ankunft der Stubai Vertical Teilnehmer anzuschauen. Nachdem die schnellsten Läufer und Läuferinnen das Ziel erreichen, gehe ich dem restlichen Teilnehmerfeld ein Stück weit entgegen. Der Streckenabschnitt geradeaus den Skihang hinauf ist ordentlich steil.
Auf Pastaparty und gemeinsames Briefing für insgesamt etwa 800 Teilnehmer der Wettkämpfe am Samstag wird aus aktuellen Gründen verzichtet. Das Briefing kann man sich auf youtube anschauen und statt des Essens bekommt man einen 15 Euro Gutschein, der in den Restaurants in Neustift gilt. Da die Startnummernausgabe 9 Stunden geöffnet ist, gibt es auch dort keinen Massenandrang. Freitag um 23.30 Uhr werden wir Ultratrailer mit Reisebussen von Neustift nach Innsbruck gefahren. Am Platz vor dem Landestheater geben wir unsere DropBags ab. Nun wird bei allen die Pflichtausrüstung kontrolliert und wir dürfen in den Startblock. Pünktlich um 1 Uhr starten wir.
197 Männer und 31 Frauen rennen so schnell los, als wären sie bei einem kurzen Volkslauf statt am Anfang einer langen und harten Strecke. Beim Verlassen der Altstadt fährt das Polizeiauto, das unseren Lauf nach hinten absichert, direkt hinter mir. Prima, ich habe wieder meine gewohnte Position! Auch als wir nun eine Straße hinauf laufen, wundert mich das hohe Tempo des Feldes.
Schon nach 20 Minuten führt die Strecke über Waldwege und bald darauf über einen schmalen, wunderschönen Single-Trail. Zehn Kilometer mit 300 hm Auf- und 140 hm Abstieg sah bei der Streckeninfo nach einem gemütlichen, schnellen Beginn aus. Doch auf dem schmalen, verwurzelten und steinigen Pfad, der in der Sillschlucht am Hang entlang in stetem Wechsel steil bergauf und bergab führt, kann man natürlich nicht Vollgas laufen. Aber es begeistert mich, dass sich der Stubai Ultratrail schon gleich zu Beginn als richtiger Traillauf erweist. Tief unter mir rauscht rechts der Bach, links stehen ab und zu kleine Felsen.
Der derzeitig starke Nebel ist für mich etwas ungünstig. Mit beschlagener Brille sehe ich überhaupt nichts, ohne Brille nur eingeschränkt. Entsprechend vorsichtig laufe ich. So voll konzentriert mit nur wenigen Metern Sicht auf anspruchsvollen Trail zu laufen ist eine Erfahrung, die ich lange Zeit vermisst hatte. Bald überhole ich einige andere Teilnehmer. Die gesamte Strecke ist außerordentlich gut markiert, so dass es auch bei Nacht und Nebel keinerlei Zweifel an der richtigen Route gibt. Als nach einigen faszinierenden Kilometern der Weg wieder einfacher wird, kann ich mein Tempo erhöhen und komme bei VP 1 wie erhofft mit einer Stunde Abstand zum Zeitlimit an. Dies beruhigt mich sehr, da ich seit 7 Kilometern niemanden mehr vor mir sehe.
Bald laufe ich wieder einige Kilometer weit auf einem Trail neben einem rauschenden Bach, dieses Mal aber auf einer leichteren Strecke. Dann marschiere ich hinauf nach Telfes, wo ich bei VP 2 meine Flaschen nachfülle und einen Kaffee trinke. Kurz darauf erreiche ich die Strecke des Schlickeralmlauf, eines der schönsten Bergläufe der Alpen. Einige Kilometer weit folge ich dieser Route auf einem Trail neben einem rauschenden Bergbach steil hinauf. Kurz vor 5 Uhr kann ich die Stirnlampe einpacken. Bald sehe ich hinter mir einige Berggipfel, die aus dem Nebelmeer hervor ragen. Vor mir färbt der Sonnenaufgang die Hänge der Kalkkögel wunderschön rot. Welch ein Glück, dass ich so langsam laufe! Den schnellen Läufern ist dieser Gemuss entgangen. Bei VP 3 an der Schlickeralm begegne ich zum ersten Mal seit 20 Kilometern wieder einem anderen Läufer. Fast alle anderen sind schon weit vor mir. Doch ich habe jetzt schon 1,5 Stunden Vorsprung zum Cut-Off.
Viele Kilometer weit marschiere ich nun auf anstrengenden, aber technisch leichten Wegen über Almwiesen an den wunderschönen Bergen entlang aufwärts. Schließlich erreiche ich einen Bergrücken, von dem aus ich weit über das Wolkenmeer und zu fernen Gipfel blicke. Auch weiterhin führt mich die Route bergauf. Noch liegt das Stubaital unter einem Nebelmeer. Am Ende des Tales sehe ich große Gletscher, aber unser Ziel am Stubaier Gletscher rückt erst am späten Nachmittag in unser Blickfeld. Zwei Mal warnen Schilder vor einer Gefahrenstelle, aber beim heutigen Wetter sind diese harmlos. Ich bleibe ständig zum Schauen und Fotografieren stehen und setze mich zwischendurch zum Frühstück auf eine Bank.
Dann führen steile Serpentinen 170 Höhenmeter hinab zur Starkenburger Hütte, wo die 4. Verpflegungsstelle ist.
Bald darauf laufe ich durch die Nebelgrenze hinab. Diese Stimmung fügt dem Postkartenwetter des restlichen Tages reizvolle Aspekte hinzu. An ein paar Stellen ist der Trail rutschig, aber da ich viel krassere Schlammwege gewohnt bin, kann ich hier Vollgas 1200 Höhenmeter hinab brettern. Mehrmals klettere ich auf Leitern über Weidezäune.
Als ich kurz nach 9 Uhr VP 5 in Neustift bei km 35 erreiche, erfahre ich, dass gerade der Sieger das Ziel erreicht hat. Großartige Leistung! Aber mir ist es viel lieber, so lange wie möglich diese herrliche Landschaft zu genießen.
Nun muss ich wieder 100 hm steil bergauf steigen. Dann folgen ein paar relativ gut laufbare Kilometer mal auf Trails, mal breiten Wegen. Bei einem schönen Wasserfall setze ich mich auf eine Holzliege und vespere etwas von meinem Proviant. Nach vielen Kilometern alleine auf der Strecke treffe ich nun auch wieder auf andere Teilnehmer und Teilnehmerinnen.
In diesem Jahr führt unsere Route erstmals von der VP beim Volderauhof hinauf zur Bacherwaldalm. 490 Höhenmeter geht es auf schönen, aber meist sehr steilen Trails bergauf, zwischendurch auch kurz auf Forstwegen. Der Aufstieg scheint kein Ende zu nehmen. Die Aussicht entschädigt für die Anstrengung.
Hier komme ich nur extrem langsam voran. Als ich endlich die 1620 m hohe Bacherwaldalm erreiche, überrascht es mich, dass es laut Wegweiser bis zur nächsten VP noch immer 80 Minuten Gehzeit sind, obwohl beide Almen etwa auf gleicher Höhe liegen. Doch dazwischen steige ich immer wieder kurz und steil bergauf, gleich wieder ebenso steil bergab, manchmal auf rutschigem Untergrund. Die Überquerung eines breiten Baches gelingt mir nicht trockenen Fußes. Inzwischen sehe ich auch den Stubaier Gletscher mit dem Ziel weit vor mir.
Bei VP 7 an der Falbesoner Nockalm freue ich mich über Kartoffeln und Bouillon. Und wieder folgen etwa 160 Höhenmeter steiler Aufstieg. Danach geht es ebenso steil wieder bergab. Auch hier komme ich deutlich langsamer als erwartet voran. Eigentlich bin ich ja ein begeisterter Trailrunner, aber nun bin ich froh, dass es nach etwa 300 Höhenmetern endlich auf einem breiten Forstwirtschaftsweg einige Zeit bequem bergab geht. Danach führt die Strecke unten im Tal einige Kilometer auf relativ leichten Wegen auf und ab. Hier könnte man eigentlich etwas Tempo machen, aber meine Kräfte lassen spürbar nach. Beim eindrucksvollen Grawa-Wasserfall, einem der beliebtesten Ausflugsziele im Stubaital, sitzen viele Urlauber auf der neuen Aussichtsplattform. Ich kann mir nun aber keine Pause mehr erlauben.
An VP 8 in Mutterberg (km 58) habe ich zwar 50 Minuten Abstand zum Cut-Off, aber noch liegen 1214 Höhenmeter Aufstieg vor mir. An der Talstation der Bergbahn kommen mir viele Finisher entgegen. Auch beim folgenden Aufstieg auf wunderschöner Strecke vorbei an Wasserfällen hinauf zur Dresdner Hütte begegne ich vielen Läufern, die sich statt mit der Gondelbahn lieber zu Fuß auf den Rückweg machen.
Vor dem großen und schönen Alpenvereinshaus der Dresdner Hütte (2306 m) sitzen viele Finisher auf der Terrasse. Ich muss schnell weiter, denn mein Zeitpolster beträgt nur noch 25 Minuten und noch immer ist das Ziel 654 Höhenmeter über mir. Wieder komme ich an einem schönen Wasserfall vorbei.
Scheinbar noch unerreichbar über mir liegt der Zielbereich. Ich muss mich beeilen Noch kurz ein Schneefeld queren, dann bin ich um 18:50 Uhr im Ziel, nur zehn Minuten vor Zielschluss. Ich bin froh, denn so ganz “nebenbei” habe ich heute mehr Höhenmeter gemeistert als jemals zuvor an einem Tag.
Als ich beim Briefing erfuhr, dass wir in diesem Jahr nur bis Station Eisgrat laufen dürfen, da die oberen 250 Höhenmeter über den Gletscher wegen Steinschlags gesperrt sind, war ich enttäuscht, denn auf die Gletscherpassage hatte ich mich besonders gefreut. Aber der Klimawandel, das schwindende Eis und der schmelzende Permafrost führen in den Alpen inzwischen zu immer mehr Streckensperrungen. Und ganz ehrlich - nun bin ich sogar froh über diese Streckenverkürzung, denn meine Beine sagen jetzt deutlich: Feierabend!
Die für einen Ultratrail hervorragende Finisherquote von 91 Prozent zeigt aber klar, dass mein knappes Ergebnis nicht am Zeitlimit oder an der Strecke liegt. Ich bin sehr froh, dass ich hier bei diesem sehr gut organisierten Laufabenteuer gestartet bin. Und ich werde ganz bestimmt wieder ins wunderschöne Stubaital kommen, entweder zu einem Wanderurlaub, vielleicht aber auch im nächsten Juni zur Weltmeisterschaft.