Berge gibt es viele, so richtig berühmt sind jedoch nur wenige. Fragt man hierzulande nach den bekanntesten Alpengipfeln, wären wohl der Mont Blanc, das Matterhorn, der Großglockner mit dabei … und, hmm, ja natürlich: Die Drei Zinnen. Mit maximal 2.999 Metern gehören sie nicht zu den höchsten, aber auf alle Fälle markantesten Bergen, die unsere Alpen zu bieten haben. Die monolithischen Zacken der Tre Cime di Lavaredo, wie sie italienisch heißen, sind das werbliche Aushängeschild und in ihrer Schroffheit das Sinnbild der Dolomiten.
Es wundert daher nicht, dass die Drei Zinnen auch bergläuferisch ein begehrtes Ziel sind. Konditionell richtig gut drauf muss sein, wer die Drei Zinnen auf einer 120 km-Runde beim Lavaredo Ultra Trail erleben und umrunden will. Eine etwas entspanntere, landschaftlich nicht minder beeindruckende Variante bietet schon seit dem Jahr 1998 der Drei Zinnen Alpine Run, bei dem der Dreizack als Hintergrundpanorama des Zielbogens denjenigen belohnt, der es eben bis dorthin schafft: Nach 17,9 Kilometern und 1.354 Höhenmetern, durchs wunderschöne Fischleintal via Zsigmondy- und Büllelejoch- bis zur Drei Zinnen-Hütte auf 2.405 m üNN. Eine Traumstrecke. So zumindest im Normalfall.
Doch normal ist am diesjährigen Laufwochenende Mitte September leider nichts. Heiß war der August, bis in den September hinein. Wie es sich für einen anständigen Sommer gehört. Moderatere Temperaturen und eine stabile Wetterlage, das zeichnet eigentlich den beginnenden Herbst auch in den Dolomiten aus. Ein veritabler verfrühter Wintereinbruch mit massivem Regen inklusive Schneeeinlagen über 1.100 Metern und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt bestimmen jedoch 2024 die Realität.
Der Veranstalter handelt. Und kündigt schon zwei Tage vor dem Start an, auf die für den Notfall vorgesehene Ersatzstrecke auszuweichen. Erst zum zweiten Mal seit 2008. Über nurmehr 9,8 Kilometer und 789 Höhenmeter führt sie die Hänge des Helm (Monte Elmo) hinauf, und der liegt nicht, wie die Drei Zinnen, auf der südlichen, sondern der nördlichen Talseite.
Die einzige Konstante auch in diesem Jahr ist Sexten, inmitten des gleichnamigen Tals gelegen. Ein hübsches, entspanntes Dorf, das sich einmal jährlich zum läuferischen Mekka wandelt. Da sich die Startnummernausgabe inklusiver kleiner Messe im Kongresszentrum „Haus Sexen“ freitags über zehn Stunden bis abends um neun hinzieht, hält sich der Rummel in Grenzen. Immerhin knapp 800 Startnummern gilt es zu verteilen, wobei ich schon ahne, dass nicht wenige angesichts der Wetterprognose und der so ganz anderen Streckenführung „schwänzen“ werden.
Draußen ist schon alles für das Rennen gerichtet: Startkanal und -bogen sind startklar, ein Zeltdach überspannt einen Biergarten mit Leinwand und die Ausgabe von Speis und Trank. Viel passiert sonst nicht am Freitag. Die Pastaparty verdient man sich erst nach getaner Laufarbeit. Gleich neben dem Haus Sexten ist die Talstation des „Helmjet“, dessen Gondeln zum Wintersportgebiet auf dem Helm führen. Und dort, an der Bergstation in einer Höhe von 2.040 m üNN, wartet morgen der Zielbogen auf uns.
Wenig Aufregendes verheißt der Blick in Richtung des rundkuppigen Helm, der wohl so heißt, weil er ebenso auschaut. Gebirgs-„Normalkost“ eben. Umso beeindruckender ist das Zackenband der Berge, das gegenüber liegend den südlichen Talrand säumt, dominiert von der fast dreitausend Meter hohen Sextener Rotwand. Noch markanter ragt leicht versetzt dahinter 3.094 m hoch der Zwölferkofel empor. Eine Dolomitenkulisse, wie sie ganz dem Klischee entspricht. Mit reichlich Weiß sind die Berge schon bestreut und ein eisiger Wind weht. Da packe ich gleich noch ein wenig mehr Warmes in den Zielbeutel.
Aufgrund der verkürzten Strecke hat man auch den Start von 9 auf 10 Uhr verlegt. Ausschlafen und einem gemütlichen Frühstück steht daher nichts entgegen. Da an der Talstation des Helmjet ein großer Parkplatz zur Verfügung steht, ist auch die automobile Anfahrt zum Start – in meinem Fall vom netten Kramerhof im Gemeindeteil Moos aus - unkompliziert.
Vorhersagegemäß trüb ist der Himmel, aber zumindest regnet oder schneit es nicht. Doch weiterhin sorgt vor allem der durch das Tal fegende kalte Wind dafür, dass sich der Aufenthalt im Freien ziemlich ungemütlich und frostig anfühlt. „Lang - lang“ mit Wärmendem drüber ist angesagt. Abwechselnd mich warmlaufend und im Haus Sexten aufwärmend versuche ich innerlich auf Laufbetriebstemperatur zu kommen. Erst eine Viertelstunde vor dem Start füllt sich der Startkanal und die Startmoderatoren geben ihr Bestes, uns dreisprachig verbal und musikalisch anzuheizen. Und das gelingt Ihnen gut. Vor allem der Italo-Pop verfehlt nicht seine Wirkung.
Um Punkt zehn Uhr hat das Warten ein Ende und der Läuferpulk ergießt sich erwartungsfroh über die Startlinie. Wie auf der Originalstrecke führt der Kurs einmal um das Gelände des Sexten Hauses herum und dann entlang der Durchgangsstraße erst einmal flach weiter ins benachbarte Moos. Jenseits der Talwiesen haben wir beim gemütlichen Trab die Dolomitengipfel stets im Blick.
Im Herzen von Moos endet für uns das Originalkursintermezzo. Eine Haarnadelkurve zweigt nach links in ein Seitensträßlein ab, das nun schnell an Steigung gewinnend durch die schmucken Landhäuser am Ortsrand führt, geradewegs dem Helm entgegen.
Ehe wir uns versehen, wird aus dem flotten Trab ein flotter Walk. In langen Serpentinen windet sich der nach wie vor asphaltierte Weg nun durch den Nadelwald. Nicht besonders steil, aber beständig geht es am Hang bergan und lässt uns auf diese Weise recht schnell an Höhe gewinnen.
Es dauert ein Weilchen, bis endlich der Belag wechselt und dazu beiträgt, dass dieser Lauf sich auch „Traillauf“ nennen darf. Weiterhin relativ breit und kommod ist der Forstweg, der sich entlang eines Bachs durch dicht bewaldetes Terrain windet. Reichlich weiße Flecken am Streckenrand erinnern an die kalten Niederschläge der jüngsten Vergangenheit.
Ein erster Kulminationspunkt ist schließlich erreicht und ein überraschend langes Wegstück geht es nun wieder bergab, zunächst quer zum Hang durch offenes Gelände mit weitem Blick in die winterliche Landschaft der Sextener Dolomiten. Die getragenen Töne eines Alphorns künden es schon aus dem „Off“ an: Wir erreichen wenig später, nach etwa einem Drittel der Strecke, die erste Verpflegung an der Helmhanghütte. Wasser, Iso und auch schon Cola stehen im Angebot, die Cola so kalt, als käme sie aus dem Gefrierfach. Ein Genuss ist sie trotzdem.
Der Abwärtskurs durchs offene Hanggelände setzt sich fort. Wir erreichen die einsam und hoch über dem Tal gelegene Festung Mitterberg. Ende des 19. Jahrhundert wurde der trutzige Bau, wie auch ein schon seit Langem zerstörtes Pendant auf der anderen Talseite, gebaut, um den Zugang zum Pustertal und die Landesgrenzen des seinerzeitigen Königreichs Italien zu sichern.
In langen Geraden führt der Kurs, zwischenzeitlich auch auf Asphalt, wieder beständig bergan durch die Hanglandschaft. Fast geschlossenen sind nunmehr die Schneedecken über den Almen. Großartig ist die Aussicht ins Tal hinunter und ein wenig wehmütig blicke ich hinein ins grüne Fischleintal, das sich tief unten in die bizarre Felsenwelt der Dolomiten hineinwindet. Unwillkürlich stellt sich ein „Schade“-Gefühl ein: Denn ebendort sollte es normalerweise in Richtung Drei Zinnen gehen.
Von dichtem Wald umgeben erreiche ich die zweite Verpflegungsstelle an der Lärchenhütte. Heißes Iso steht hier im Angebot – eine echte Wohltat, denn die schneidende Kälte nimmt mit zunehmender Höhe merklich zu. Weiter durch den Wald sammeln wir fleißig Höhenmeter. Laute Geräusche aus der Ferne verraten mir: Allzu weit kann das Ziel nicht mehr sein. Weite Pisten, Schneekanonen, Fangzäune zeugen davon, dass wir das Wintersportgebiet auf dem Helm erreicht haben. Ein paar Wegwindungen weiter wird dann auch der Zielbogen sichtbar, wo jeder einlaufende Finisher vom Zielmoderator begrüßt wird.
Lange hält es keinen der Einläufer im unmittelbaren Zielbereich. Zu eisig ist es jenseits der 2.000 Meter draußen, allzu schnell kühlt man in der angeschwitzten Kleidung im permanenten Wind aus. Das große neue Ristorante Monte Elmo gleich über dem Ziel bietet jedoch eine massentaugliche Wärmestube. Lange Schlangen bilden sich hier an der Zielverpflegung, insbesondere am Kuchenbuffet, und danach ist kaum ein Platz an den zahllosen Tischen zu finden. Auch draußen auf der langen „Sonnen“-Terrasse gäbe es reichlich Kapazitäten, doch dorthin verirren sich nur kurzzeitig jene, die Erinnerungsfotos schießen wollen. Denn wunderbar ist das Panorama von hier aus in die Bergwelt der Dolomiten, die Drei Zinnen im Hintergrund inklusive.
Allzu eilig haben es die vielen Finisher, immerhin 530 heute, und ihre sie hier erwartende Entourage nicht, den Weg zurück ins Tal anzutreten. Warum auch: Das lichte, gemütliche Bergrestaurant ist heute der wohl schönste Ort zum Verweilen. So geht es mir auch. Aber irgendwann raffe ich mich dann doch auf, den frostigen Weg zur Gondel zu nehmen und gemütlich ins Tal hinab zu schaukeln.
Auch das Sexten Haus ist proppenvoll. Die Pastaparty ist im vollen Gange und nach einem gut gefüllten Teller Nudeln und nochmals Kuchen fühle ich mich mehr als satt. Der so nett hergerichtete Außenbereich lockt erwartungsgemäß heuer wenige, aber manchen schmecken Grillwust und Bier draußen dann doch besser. Mit ausklingender Pastaparty übernimmt ein DJ das Regiment, doch ich gehe frisch geduscht lieber etwas auf Talerkundungstour. Vor allem fahre ich ins Fischleintal hinein, soweit es eben geht. Und der Blick auf die beeindruckenden, nun sehr viel näheren Felsentürme weckt in mir den Wunsch: Hier musst Du nochmals herkommen, um die Originalstrecke zu erleben. Zumindest statistisch gesehen sollte es im nächsten Jahr wieder möglich sein.
Die Ersatzstrecke war „nett“, mehr aber auch nicht. Aber allemal besser als eine gänzliche Absage. Die rührige und professionelle Organisation hat jedenfalls auch so einen schönen Rahmen gestaltet. Und der Fernblick auf das eigentliche Ziel des Laufs hat dieses zumindest zum Sehnsuchtsziel für kommende Jahre befördert.