Stätten des Scheiterns haben ihre eigene Magie. Im letzten Jahr durfte ich erstmals feststellen, wie es sich anfühlt, unfreiwillig, weil ein Zwischenzeitlimit reißend, ein Rennen beenden zu müssen. Als ich beim Südtirol Ultra Sky Race 2014 um kurz nach Mitternacht absolut platt und mit blasenübersähten Füßen in der Hirzer Hütte mein Ausstiegsbierchen schlürfte, mischte sich zu einer gewissen Enttäuschung schnell ein Gefühl der Euphorie: Denn das, was ich in den vorangegangen gut 26 Stunden auf 84 km und fast 5.700 Höhenmetern erleben durfte, war Berglauf vom Feinsten. Freilich auch vom Härtesten.
Zurück zur Magie. 121 km - 7.554 Höhenmetern - 40 Stunden. Das sind die zentralen Eckdaten des Südtirol Ultra Sky Race. Noch immer kenne ich kein Rennen, das technisch anspruchsvoller ist, dem Teilnehmer lauf- und klettertechnisch mehr abverlangt. Und bei dem der Läufer tiefer in die Einsamkeit und Schönheit der Bergwelt eintaucht. Gleichzeitig gewährleistet eine ambitionierte Organisation einen hohen Sicherheits- und Versorgungsstandard. Und einen hohen Wohlfühlfaktor.
Das alles hat mich tief beeindruckt. So stehe ich 2015 erneut am Start. Da ich allerdings auch Realist bin und natürlich gerne ein Finish erlebe, habe ich mich nicht für den Hauptlauf, sondern die „Kurzversion“ entschieden. „Kurz“ heißt hier allerdings immer noch: 68 km – 4.260 Höhenmeter – 21 Stunden. Streckenmäßig deckt sich der „Kurze“ auf den ersten 30 und letzten 20 Kilometern mit dem „Langen“, nimmt jedoch dazwischen einen Abkürzer durch das Sarntal.
Die Sarntaler Alpen, die das Sarntal in einer Art Oval umschießen, zählen sicher nicht zu den bekanntesten alpinen Gebirgsstöcken. Auch wenn wir alle schon oft vorbei gefahren sind. Denn das sind die Berge, die ganz grob das Städteviereck Sterzing – Brixen – Bozen – Meran füllen. In die sich darin bis auf 2.781 m üNN auftürmende Bergwelt verirren sich dennoch nicht allzu viele. Und so erwartet die Bergläufer, die dieses Gebirge im Rahmen der Langdistanz letztlich einmal umlaufen, ein fast schon weltentrücktes Naturerlebnis.
Start und Ziel liegen allerdings nicht in der Einsamkeit, sondern in Südtirols Metropole, in Bozen. Während die Teilnehmer der Langdistanz Freitag nachts um 22 Uhr vom zentralen Waltherplatz auf ihre Laufreise geschickt werden, starten die Läufer der Kurzdistanz am nächsten Morgen um 7 Uhr, und zwar dort, wo für letztlich alle auch das Ziel eingerichtet ist: Auf den Talferwiesen, einem weitläufigen Sport- und Naturareal an der Talfer am westlichen Stadtrand von Bozen. Dieses Areal kann zwar nicht den Flair eines Waltherplatzes bieten, dafür entspricht es mit der Nähe zur Natur sehr viel mehr dem Charakter des Laufs.
Da ich schon am Freitag Abend in Bozen bin, lasse ich mir natürlich nicht den Start der Matadore der 121 km-Distanz entgehen. Während die Läufer so langsam ihr „Vorstart-Rifugio“, den lauschigen Innenhof des Palais Campo Franco, verlassend zum finalen Briefing und Pflichtgepäckcheck antreten, sitze ich gemütlich beim Cappuccino auf dem Walterplatz, erlebe, wie die Nacht über den Platz herein bricht, helle Strahler und eine Videoleinwand das musikerfüllte Startgelände illuminieren, lasse mich gefangen nehmen von dieser speziellen Atmosphäre aus Anspannung und Vorfreude. Soll ich die Starter beneiden oder bedauern? Irgendwie beides. Nur gut die Hälfte von Euch wird das Ziel erreichen, denke ich eingedenk 2014. Nur, Ihr wisst das noch nicht. Was ich in diesem Moment aber auch nicht weiß: Heuer wird es „umständehalber“ gar nur ein Drittel sein. Aber dazu später. Im Moment erscheinen die äußeren Bedingungen ideal: Waren es am Vortag noch 30 Grad, die Bozen selbst nächtens in einen Hitzekessel verwandelten, so haben heute einige Donnerwetter für Abkühlung gesorgt. Auch für die Nacht sind keine wettermäßigen Kapriolen angesagt.
Um 22 Uhr löst ein lauter Knall die Anspannung. Unter dem Gejohle der Läufer wie Hunderter Zuschauer trappelt die Meute los, durch die Laubengassen der Altstadt hinaus in die Nacht. Eine Minute später herrscht auf dem Walterplatz schon wieder die entspannte Unaufgeregtheit einer lauen „notte italiana“. Ehe ich mich versehe, hat ein Aufräumkommando die sonstigen Relikte des Laufspektakels beseitigt. Ich suche mir einen Platz in einem der proppenvollen Straßencafes und schlürfe noch einen Aperol Sprizz. Herrlich.
Etwa 225 Verwegene sind es, die sich in diesem Jahr für die Kurzversion entschieden haben, mehr als für den „Langen“. Deutlich über 400 sind es insgesamt und über das Teilnehmer-Plus von 71 % gegenüber dem Vorjahr freut sich nicht nur der Veranstalter. Musik und die kräftige Stimme des Moderators hallt durch den jungen Morgen auf dem Wiesengelände am Ufer der rauschenden Talfer. Hier draußen vor den Toren der Stadt raubt das aber niemand den Schlaf. Auch für die „Shorties“ gelten umfassende Pflichtgepäckanforderungen und so dürfen wir vor dem Zugang zum Startkanal erst einmal unser Ränzlein auspacken. Und da wird wirklich genau hingeschaut: Ist die Notrufnummer im Handy gespeichert? Hat auch jeder zwei Stirnlampen? Ansonsten geht es überaus unaufgeregt zu. Erst kurz vor 7 Uhr sammeln wir uns zur Starthymne vor dem Startbogen, den man wie vieles andere über Nacht vom Waltherplatz hierher umverpflanzt hat. Schlag sieben ist es soweit – wir preschen los.
Eine Spezialität des Süd Tirol Ultra Trail ist, dass man sich die Trails im Hochgebirge erst einmal erlaufen muss. Und das nicht zu knapp. Denn Bozen liegt – angesichts der Lage kaum zu glauben – mit 260 m üNN dem Meeresspiegel sehr viel näher als etwa meine Heimatstadt München (520 m üNN). Konkret bedeutet das: Wir müssen erst einmal 2.000 Meter rauf, wobei vor allem die ersten 1.000 Höhenmeter in die Kategorie „harte Arbeit“ fallen.
Die ersten beiden Kilometer dienen allerdings erst einmal dazu, überhaupt auf den Kurs zu kommen, den gestern schon die 121 km-Läufer genommen haben. Und diese beiden Kilometer entpuppen sich als überaus attraktiver Einstieg. Ein kurzes Wegstück folgen wir der Talfer stadtauswärts, um sodann über einen Zickzackweg durch die Weinberge schnurstracks in die Höhe katapultiert zu werden. So gelangen wir auf die Oswaldpromenade, die als gut ausgebauter, flacher Höhenweg mit permanentem Panoramablick auf Bozen durch die Bergflanke führt. Ein stimmungsvolles Wegstück.
Kurz geht es sodann hinab und schon ist er erreicht: Der Einstieg in die Hauptroute. Meine Erinnerung ist sofort da. Zwar war es letztes Jahr Nacht, als ich hier war, aber einen Weg, der so lausig steil wie dieser nach oben führt, vergisst man nicht. Jäh erstirbt jeglicher Laufschritt und man hört nur noch das Schnaufen walkender Läufer und das Klackern der Laufstöcke auf dem Asphalt. Durch die Rebkulturen des sonnenverwöhnten Südhangs des Ritten hindurch gewinnen wir rasant an Höhe. Sah ich im letzten Jahr nur die Lichter der Stadt tief unter mir und die Blitze des aufziehenden Gewitters, so werde ich heuer zumindest mit einem herrlichen Rückblick auf Bozen und das Etschtal belohnt.
Doch auch mit diesen optischen Reizen ist bald Schluss. Aus dem asphaltierten Sträßchen wird ein holpriger Naturweg und aus diesem ein ausgesetzter, felsiger Pfad. Baum- und Buschwerk riegeln den Blick weitgehend ab. Kaum etwas lenkt uns dabei ab, dem Berg einen Höhenmeter nach dem anderen abzutrotzen. Schweigend und schweißtriefend walken wir im Stechschritt dahin. Nur kurz und in der Ferne sehe ich einige der berühmten Erdpyramiden aus dem Grün ragen. Wer einmal einfach nur so in der Gegend ist, sollte sich diese Attraktion nicht entgehen lassen. Insbesondere im Katzenbachtal unterhalb Oberbozen hat die Erosion einen eigentümlichen Wald aus Säulen und Kegeln geschaffen. Im Schutze einzelner harter Felsplatten blieb das darunter befindliche weichere Erdmaterial erhalten, während Wind und Wetter rundherum alles abgetragen haben.
Urplötzlich mündet der Pfad in einen kultivierten Asphaltweg und dieser wiederum in eine Straße. Ein paar Häuser am Horizont künden: Wir sind zurück in der Zivilisation. Die Straße führt uns direkt nach Oberbozen (1.221 m üNN) hinein. 8,5 km und die ersten knapp 1.000 Höhenmeter liegen hinter uns, als ich gegen 8:30 Uhr ins Ortszentrum einlaufe. Noch recht verschlafen wirkt der Ort um diese Zeit. Die Tagestouristen, die sich in der Regel ganz entspannt per Gondel aus Bozen auf das Hochplateau um Oberbozen tragen lassen, sind noch nicht da. Sehr ausgeschlafen wirken dagegen die Helfer am ersten Versorgungsstand am Ortsrand. Frische, süße Wassermelonen und dickflüssigen Aprikosensaft halten Sie bereit – da lasse ich doch gerne die „Energy-Plörre“ stehen.
Das Hochplateau von Oberbozen bildet eine Art Zäsur in unserem Höhensturm. Denn auf einem flachen, teils gar abfallenden Weg können wir uns läuferisch kurzzeitig austoben, natürlich nur, um dieses Gefälle sogleich wieder abbüßen zu müssen. Nett anzuschauen sind die Lamaherden auf den Weiden des Kaserhofs am Rande Oberbozens. Ansonsten ist primär der Nadelwald unser Begleiter. Auf meist bequemen Naturwegen gewinnen wir langsam, aber beständig weiter an Höhe. Ein kurzes Stück müssen wir erneut mit Asphalt vorlieb nehmen, ehe wir nach 16 km bei Pemmern auf die Talstation der Rittner Horn Seilbahn treffen.
Jetzt wird es steigungsmäßig wieder „zünftig“. Zunächst noch folgen wir einem Forstweg durch den zunehmend lichter werdenden Wald, ehe wir auf schmalen Pfaden hinaus in die Weite der Hochalmen treten. Unschwer zu erkennen ist, dass im Winter Skifahrer und Boarder hier ihr Revier haben. Am fernen Horizont ist hoch oben schon unser nächstes Zwischenziel auszumachen: Das Rittner Horn. Der kleine weiße Punkt darauf: Das Berghaus. Weit reicht der Blick in die Ferne. Was wir dort zu sehen bekommen, sind allerdings primär Wolkenbänke und auch die trübgraue Melange über dem Rittner Horn verspricht wenig Gutes. Der einzige Vorteil: Der kühle Wind macht den langen Anstieg erträglicher. Über den weichen Almboden, schließlich über einen Weg aus grob behauenem Fels kämpfe ich mich nach oben. Immer wieder blicke ich gen Gipfel, freue mich, wenn die Konturen wieder ein wenig mehr an Schärfe gewonnen haben und der Gipfel etwas näher gerückt ist. Aber der Weg zieht sich.
Es ist kurz nach 10:30 Uhr, als ich nach 21 km das zugige Gipfelplateau des Rittner Horn auf 2.260 m üNN erreiche. Die Wolkendecke reißt auf: Wärmender Sonnenschein ergießt sich über uns. Welch ein Empfang. Unter einem Baldachin neben dem Berghaus werden die Läufer schon erwartet. Kalt ist es nicht, aber die heiße Suppe tut trotzdem gut. Die Zwischenzeit wird genommen. Bis 13 Uhr muss man angekommen sein, um im Rennen bleiben zu dürfen. Eine kurze Auszeit ist angesagt, schon um den 360-Grad Rundblick auf das umliegende Berg- und Wolkenpanorama in Ruhe genießen zu können.
Die nächsten 11 km bleiben wir permanent in Höhen jenseits der 2.000 Meter. Ohne Zweifel bilden sie die attraktivste Passage unseres Rundkurses. Dass zudem die Sonne immer mehr die Vorherrschaft am Himmel an sich reißt und die Landschaft erleuchten lässt, ist das „i-Tüpfelchen“.
Entspannt traben wir auf zumeist breiten, leicht abschüssigen Naturwegen durch die schier endlose Weite der Hochgebirgsalmen weiter. Aus dem Weg wird ein Pfad, der uns durch saftige Wiesen und wenig später durch eine überaus reizvolle Latschenkiefernlandschaft führt. Dass hier alles so üppig grün gedeiht, ist kein Wunder, wenn man sich den Boden betrachtet. Der gewundene, steinige Pfad ist durchsetzt von Rinnsalen jeder Größe, Tümpeln, Pfützen und Morast. Es rieselt und sprudelt, wohin ich schaue und trete. Fast könnte man meinen, der Berg sei ein einziger Schwamm, aus dessen Poren überall das Wasser trieft. Jeder unvorsichtige Tritt birgt das Risiko eines Fußbades.
Mit zunehmender Höhe wird die Vegetation karger, das Wasser rarer, dafür die Felsbrocken mehr und mächtiger. Vor mir baut sich eine steile Wand auf. In einer Kerbe hoch oben erspähe ich ein paar sich bewegende Punkte und ahne schon: Das muss die Sarner Scharte sein. Aber zunächst muss ich mich darauf konzentrieren, den leuchtend gelben Streckenmarkierungen folgend den richtigen Weg durch die Zyklopensteine zu finden. In engen Serpentinen und über steile Stufen führt der Weg schließlich durch die Steilwand ganz nach oben, hin zu einem Mann in Blaugelb, der die ankommenden Läufer wie der Hirte seine Schafe abzählt und abhakt.
Praktisch ohne Ankündigung blicke ich auf einmal ..... ins Nichts. Vor mir tut sich der Himmel auf. Fast mikroskopisch klein sehe ich tief unten die Häuslein eines Dorfes in einem wildbewegten Meer aus Grün. Ich stehe inmitten der Forcella Sarentina bzw. Sarner Scharte auf 2.460 m üNN. Was ich tief, fast 1,5 km unter mir sehe, ist Sarnthein, Hauptort, Mittelpunkt und Namensgeber des gleichnamigen Tales und der dieses umschließenden Gebirgszüge. Und einer unserer Streckenpunkte.
Aber gen Tal geht es noch längst nicht. Wir folgen dem Grat nahe der Steilkante und dürfen kraxelnd sogleich an der 2.500 m-Höhengrenze kratzen. Ein fantastischer Weg führt uns in permanentem Auf und Ab über die Almen des Bergkamms. Immer wieder blicken wir in den jähen Abgrund zu unserer Linken. Zur Rechten breitet sich dagegen bis zum fernen Horizont eine weite, einsame Mondlandschaft mit viel Fels und wenig Vegetation aus. Kleine Seen liegen darin eingestreut. Im scharfen Kontrast dazu: Das Stahlblau des Himmels und die mächtig aufgeplusterten Wolkenballen. Eine fast schon weltentrückte Szenerie.
Weit auseinander gezogen ist die Kette der Läufer. Vor und hinter mir sehe ich sie als kleine bunte Punkte durch die Landschaft tanzen. Vom Kamm schwenken wir schließlich nach rechts ab und folgen einem sich durch den Fels steil in die Tiefe windenden Pfad. Unter mir blicke ich auf das türkisgrüne Rund eines kleinen Sees. Der etwas makabre Namen Totensee passt so gar nicht zum idyllischen Charakter des Gewässers. Konzentration fordert der Weg nach unten durch Geröll und Fels.
Unten angekommen, erwartet uns Lebensfreude pur. Eine größere Gruppe Jugendlicher tobt am und im Wasser herum. Für uns geht es jedoch noch ein paar Meter weiter, hin zu einem kleinen Gemäuer auf einer Passhöhe: dem Totenkirchl (2.186 m üNN). Ein großes rotes Zelt direkt vor der Kapelle davor signalisiert uns: Nach 32 km ist wieder Pause angesagt.
Am Totenkirchl trennen sich die Wege der großen und der kleinen Runde. Während den Läufern der Langdistanz schon vor Stunden eine relativ bequeme Etappe Hochlandetappe bevorstand, heißt es für uns: Es geht runter. Nicht nur ein bisschen, sondern 1.200 Meter. Unser nächstes Ziel hatten wir ja aus der Vogelperspektive schon vor Augen: Sarnthein.
Passionierte Bergläufer wissen: Rauf ist es anstrengend, aber was die Muskeln wirklich drauf haben, zeigt sich erst, wenn es runter geht. Die nächsten 10 km gehen fast permanent downhill und ich bin froh, mit Michael aus Wuppertal einen Interims-Laufgefährten zu haben, der mir hierbei ein wenig Ablenkung verheißt.
Mit schönen Ausblicken, mal auf idyllische Latschenwälder und weitere kleine Seen, mal auf sich wild türmende Felswüsten, geht es zunächst noch durch offenes Gelände. Auf zumeist breiten Naturwegen verliert sich unser Kurs aber schließlich für eine kleine Ewigkeit im Nadelwald. Ein geradezu erlösendes Gefühl ist es, als ich zum ersten Mal die Häuser Sarntheins aus der Tiefe durch die Bäume spitzen sehe. Bevor es in das mit etwa 2.000 Einwohnern größte Dorf und ökonomische sowie kulturellen Zentrum des Sarntals hinein geht, erwartet uns ein optischer Leckerbissen ganz anderer Art. Aus dem Wald heraus tretend blicken wir auf die zinnengekrönten Mauern und den mächtigen Festungsturm einer wehrhaften Burganlage. Bereits Mitte des 13. Jahrhunderts wurde das Schloss Reinegg auf einem Hügel an der Ostseite des Sarntals oberhalb Sarntheins errichtet. Mit seinen bis zu zwei Meter dicken Mauern zählt es zu den besterhaltenen Burganlagen Südtirols.
Über Treppen nähern wir uns an der Burg vorbei schnell dem Ort an und erreichen, die rauschende Talfer querend, um kurz nach 15 Uhr den zentralen Postplatz. Ein riesiges Zeltdach ist hier gespannt, unter dem nur ein kleiner Teil für die Läufer und der größere Part für Zuschauer und Gäste reserviert ist, die jeden der Ankömmlinge mit Beifall willkommen heißen.
Fast exakt 42 km und damit die Marathondistanz sowie positive 3.100 Höhenmeter sind bewältigt. Das kann sich sehen lassen. Dass wir wieder auf 966 m üNN abgesunken sind, merkt man aber auch sofort – an den sommerlichen Außentemperaturen. Bei Nudeln oder Suppe können wir uns stärken oder auch auf unseren zwischendeponierten Gepäckbeutel zugreifen. Ich brauche nichts und Hunger habe ich auch nicht. Der Wärmestau unter dem Zelt wirkt wenig erfrischend. So hält es mich nicht allzu lange und ich greife die nächste und letzte große Anstiegsetappe an: Gut 1.100 Höhenmeter stehen mir bevor.
Dass das kein Zuckerschlecken wird, wird mir sogleich am Ortsrand eindringlich demonstriert. Denn ein Trampelpfad windet sich durch die Almen in steilen Kurven oder auch schon einmal direttissma empor. Immer wieder ist ein Alibi-Fotostop zum Durchschnaufen für mich angesagt. Der Ausblick ist es aber auch tatsächlich immer wieder wert. Jenseits Sarntheins blicke auf eine mächtige Steilwand und kann kaum glauben, dass ich vor etwa drei Stunden da oben noch entlang geturnt bin und vor allem auch, wie ich von dort oben herunter gekommen bin.
Steil geht es weiter, mal durch Wald, mal durch Wiesen. In schleppendem, meditativem Gleichschritt stapfe ich in die Höhe und versuche die bohrende Frage zu verdrängen: Wie lange geht das noch so? Allmählich flacht der Weg ab, die Luft wird klarer, das Gehen wird wieder dynamischer. Als ich gegen 17 Uhr die Auener Alm erreiche, gibt eine junge Frau außerplanmäßig Wasser an die matten Läufer aus. Das tut gut, weckt die Lebensgeister. Einen kurzen Moment denke ich über eine ebenso außerplanmäßige Einkehr in der zünftigen Hütte, aus der der Gäste herwinken, nach. Aber die Vernunft siegt. Dennoch guten Mutes ziehe ich weiter, weiß ich doch, dass das nächste Gipfelziel nicht mehr weit sein kann.
Im nunmehr wieder offenen Gelände kann ich es auch schon bald ausmachen. Weithin sichtbar ist das markante Kreuz auf dem flachen Schöneck. Aber zunächst einmal passieren wir mit dem Auener Jöchl auf 1.926 m üNN den Punkt, an dem die Strecken der Lang- und der Kurzdistanz wieder aufeinander treffen. Und hier, just an diesem Punkt, steht doch tatsächlich ein weiterer Helfer, der Wasser bereit hält. Gerne greife ich nochmals zu, nun bestens gewappnet für den finalen „Gipfelsturm“.
Zugegeben: Der Gipfelsturm ist mehr ein gemütlicher Spaziergang auf einem sich durch Wiesen und Latschen gemächlich nach oben windenden Pfad. Doch mit dem Schöneck kratze ich am späten Nachmittag zumindest nochmals an der 2.000 m-Marke.
Und hier, auf der wie eine Aussichtsplattform abgeflachten Bergkuppe, auch „Große Reisch“ genannt, tut sich vor meinen Augen gar Wunderliches auf. Rund um das zentrale Gipfelkreuz scharen sich um die hundert Figuren, gebildet aus aufgetürmten Sandsteinplatten, die sogenannten Stoanernen Mandlen. Wie eine kleine Armee scheinen die bis zu mannshohen Gestalten aus Fels den Platz zu bewachen. Gesichert ist, dass diese Figuren schon seit zumindest fünfhundert Jahren existieren, doch den tatsächlichen Zeitpunkt der Entstehung und deren Bedeutung kennt niemand. So ranken sich allerlei Mythen um diesen geheimnisvollen Ort. Das reicht vom Kultplatz der Kelten bis zum Tanz- und Feierplatz von Hexen und Teufeln. Ganz Fantasieunbegabte meinen gar, dass die Türme schlicht das Ergebnis des Zeitvertreibs gelangweilter Hirten waren. Wie dem auch sei: Der mystischen Aura dieses Platzes tut das keinen Abbruch. So ganz nebenbei genieße ich hier im spätnachmittaglichen Licht eine fantastische Fernsicht nicht nur über die Sarntaler Alpen, sondern auch zu den fernen Zacken der Dolomitengipfel.
Ganz und gar der Realität entspricht dagegen, dass wir hier (fast) alle positiven Höhenmeter des Trails „abgearbeitet“ haben. Das fühlt sich nicht schlecht an. Geradezu beschwingt quere ich die eine weite, flache Hochalm, während die Mandlen hinter mir immer kleiner werden und am Horizont verschwinden. Kräfteaufwändiger ist der wurzelig-steinige Pfad, der uns durch den Wald weiter hinab führt. Aber unser nächstes Zwischenziel ist nicht weit: Vor der Berghütte Möltner Kaser (1.806 m üNN) erwartet mich nach 51 km um kurz nach 18 Uhr der nächste Verpflegungsposten.
Das Angebot ist überschaubar und ich frage einfach mal, was es denn so gibt. Ob ich Wurst und Käse möge, fragt einer der Helfer, und als ich dies freudig mit ja beantworte, weist er auf die Berghütte, dass es das dort gäbe. In der Berghütte einkehren mag ich deswegen aber doch nicht und begnüge mich mit Cola, Obst und trockenem Schüttelbrot. Ich will gerade vom diesem überaus gemütlichen Ort aufbrechen, als auf einmal eine große Holzschale vor mir steht. Ich traue meinen Augen nicht: Die Schale ist prall gefüllt mit Käse, Südtiroler Speck und Salami, dazu gibt es Vintschgerl. Keine Frage: Die Pause ist verlängert und ich genieße das unerwartete Festmahl in vollen Zügen.
Der Aufbruch fällt richtig schwer, doch will ich von den verbleibenden 18 km so viel wie möglich bei Tageslicht bewältigen. Aber es ist gerade bei so einer Langdistanz einfach ein gutes Gefühl, endlich wieder einmal etwas „Anständiges“ im Bauch zu haben.
Die anstehende Etappe gehört profilmäßig ohne Zweifel zu den gemütlichen. Besonders schön ist eine Passage über eine sanft wellige Hochalm, mitten durch eine Herde überaus entspannter „glücklicher“ Kühe, die hier grasen, dösen und uns Läufer so nebenbei beäugen. Ein frischer Wind fegt über die Alm und als ich mich umschaue, blicke ich auf eine finstere Wolkenwand, die sich zwischenzeitlich zusammen gebraut hat. Während die Sonne in Laufrichtung noch fantastische Wolkenbilder am blauen Himmel und ein beeindruckendes Licht-Schatten-Spiel in den fernen Dolomiten zaubert, heben die Sonnenstrahlen hinter mir jene Orte hervor, an denen die finsteren Wolken bereits ihre Regenlast abwerfen. Aber ich denke mir nicht viel dabei. Noch erscheint das alles ausreichend weit entfernt und der Wind bläst dem Wolkenmeer entgegen.
Auf breiten und bequemen Naturwegen geht es mit wenig Gefälle dahin und weil ich nicht aufpasse, verpasse ich – irgendwann, irgendwo - einen Abzweig. Mir fällt dies erst an einer Wegegabelung auf, an der ich keinerlei gelbe Wegmarkierung, sei es ein Fähnchen, einen Sprühpunkt oder einen Bodenpfeil, mehr entdecke. Wie lang mag ich schon falsch unterwegs sein? Und was soll ich tun? Umdrehen – macht Sinn, aber wenig Laune. Als ich einen Wegweiser in Richtung „Schwermoos“ entdecke, bin ich erleichtert. Denn der Streckenplan verrät mir, dass just dort ein Getränkeposten eingerichtet ist. So folge ich einfach der Straße. Ein freundlicher Bauer, der sofort erkennt, dass ich mich verlaufen habe, bestätigt, dass ich richtig liege. Und so finde ich kurze Zeit später tatsächlich wieder auf den „rechten Weg“.
Gemütlich geht es weiter dahin. Von hartem Gefälle ist nach wie vor keine Spur und auch der Wolkenspuk hinter mir hat keine weitere Dramatik entwickelt. Über das Hochplateau des Salten mit zahlreichen Freizeitalmhütten und großzügig parzelliertem Almgrund geht auf einem breiten, überaus bequemen Naturweg dahin. „Easy running“ könnte man das nennen, jedenfalls soweit es die Kräfte noch zulassen.
Erst kurz vor Jenesien / San Genesio nimmt das Gefälle zu, muss ich auf einen nun steil durch den Wald führenden Pfad ausweichen und schließlich der Durchgangsstraße in den Ort hinein folgen. Schön ist die Lage Jenesiens auf 1.089 m üNN im Hang hoch über Bozen. Auf dem zentralen Dorfplatz direkt vor der mittelalterlichen Kirche St. Genesius werden die Läufer bereits erwartet. Nur selten kommt einer vorbei – genau genommen bin ich gegen 20:45 Uhr der einzige –, aber auch ohne Läufer wird kräftig gefeiert. Einmal mehr darf ich erleben, wie überaus herzlich und freundlich die Helfer sind, ohne Zweifel einer der wesentlichen Faktoren des eingangs schon erwähnten hohen „Wohlfühlfaktors“.
Zunächst gar nicht verstehen kann ich, dass die weiteren eintröpfelnden Läufer sich nicht mehr auf einen Stopp einlassen wollen, sondern weitereilen. Nur noch 5 km sind es bis zum Ziel in Bozen, wenn auch gewürzt mit 900 Höhenmetern talwärts. Ich bin froh, dass ich es im Tageslicht bis hierher geschafft habe und will mir für die letzte Etappe keinen Stress mehr bereiten. Erst als mich eine Helferin darauf hinweist, sehe ich hinter mir die nun schon arg nahen und bedrohlich schwarzen Wolken.
Okay, denke ich mir. Die Herausforderung nehme ich an und schaue mal, ob ich denen noch entkommen kann. Gleich hinter Jenesien geht es auf einem schmalen Pfad hinein in den nun schon ziemlich finsteren Wald. Meine Stirnlampe kommt zum ersten Einsatz. Steinig, wurzelig und steil ist der Pfad. Nur langsam komme ich voran. Immer schärfer pfeift der Wind durch die Bäume, aber noch passiert außer einem fernen Grollen nichts weiter. Nur keine Eile, denke ich mir und versuche, mit meinen Laufstöcken das Ungemach für meine Oberschenkel im Downhill-Modus zumindest zu begrenzen. Erleichtert bin ich, als ich auf ein schmales asphaltiertes Sträßchen treffe, über das sich der Abstieg durch den Wald fortsetzt, wenngleich nicht minder steil.
Dann geht alles ziemlich schnell. Erste dicke Tropfen prasseln durch das Blätterdach. Gerade noch rechtzeitig kann ich den Regenanorak anziehen, schon rauscht das feuchte Nass, begleitet von Blitz und Donner, im dichten Stakkato auf mich herab. Ehe ich mich versehe, liege ich ein paar Meter weiter auch schon auf dem Boden. Die Stollen meiner Trailschuhe bieten keinerlei Halt auf dem glitschigen Laub, das den Asphalt bedeckt. Was für ein Finale. Vorsichtig tapse ich im schmalen Straßenbankett dahin.
Das Unwetter kommt nun erst so richtig in Fahrt. Monsunartig brechen die Regenmassen über mich herein und lassen binnen Sekunden keine trockene Faser mehr an meinem Leib. Noch beeindruckender ist für mich allerdings, mit welcher Gewalt die Gewitter Blitz und Donner über mir entladen. Das wirkt wie Adrenalin. Wie weggewischt ist der Druck in den Oberschenkeln und im Schweinsgalopp jage ich ohne Rücksicht auf Verluste das vom Regen überflutete Asphaltband hinab. Irrwitzige 35 % Gefälle bescheinigt ein Warnschild. Ein einzelnes Auto kommt dennoch von oben vorbei, bremst heben mir so scharf ab, dass es fast von der Straße abkommt. Eine Tür reißt auf und eine junge Stimme fragt freundlich: Mogst mitkemma? Ein verlockendes Angebot, doch ich antworte: Danke – aber da muss ich durch. Und weg ist er.
Allein bin ich wieder im Unwetter. Wie ein Geisterschloss wirkt im permanenten Flash der Blitze die hoch über dem Tal thronende Schlossruine Rafenstein. Unter mir sehe ich die Lichter der Stadt, aber noch immer ist der Talboden weit entfernt. Das Extremgefälle nimmt kein Ende, meine Beine kommunizieren grobes Unbehagen. Aber ich bin froh, nicht mehr mitten im Gewitter zu stehen.
Vorbei an der Talstation der Bergbahn nach Jensien erreiche ich gegen 21:45 Uhr endlich die Sarntaler Straße. Noch ein letzter halber Kilometer steht mir – ganz flach – auf dem Radweg entlang der Talfer durch die Talferwiesen bevor. Dann quere ich eine Brücke, das hell illuminierte Zielgelände schon im Blick, und werde durch einen gesonderten Kanal direkt unter den leuchtend blau strahlenden Zielbogen gelotst.
Kein Mensch steht hier. Und doch: Aus dem „Off“ tönt mir kräftiger Beifall entgegen. Eine Helferin stürzt durch den Regen herbei und hängt mir die Medaille um. Und dann sehe ich erst all die Menschen, die dicht gedrängt unter schützenden Baldachinen stehend, versorgt durch eine Bar und eine Grillstation, ihre After-Run-Party feiern. Die seit 20 Uhr live aufspielende Bozner „Homeless Band“ hat zwar ihren Dienst schon eingestellt, aber die Stimmung ist trotzdem noch richtig gut.
Auch wenn das Finale aufregender als gewünscht war: Ein wundervolles Trailerlebnis liegt hinter mir. Und dieses mal mit Finish. Im Unwetter in den hochalpinen Lagen steckengeblieben ist allerdings heuer ein großer Teil der 121 km-Läufer. Das sollte aber niemand entmutigen, sich einmal auf diese Veranstaltung einzulassen. Aufregende Erlebnisse sind garantiert – so oder so. Und genau genommen muss man dies gar zwei Mal tun: Denn nur wer den Langen und den Kurzen gelaufen ist, der hat streckenmäßig wirklich alles gesehen.
04.07.14 | Keine zweite Nacht |
Heidi Georgi | ||
04.07.14 | Laufextremisten unter sich |
Klaus Sobirey | ||
27.07.13 | Der süße Duft des Ultraläufers – Schafe lieben mich |
Gerhard Börner |