„Ich werde keine zweite Nacht laufen“ lautete meine konkrete Ansage. Wir saßen nach der Startnummernausgabe in Bozen im Palais Campofranco noch zusammen und spekulierten über unsere jeweiligen Zielzeitprognosen beim Südtirol-Ultraskyrace. „Wenn ich unterwegs feststelle, dass ich es nicht bis Samstag vor 24 Uhr zurück nach Bozen schaffe, steige ich aus“ fügte ich hinzu und wurde für meine klaren Regeln gelobt.
Insgeheim dachte ich jedoch felsenfest: „Der Start ist Freitag 22 Uhr, verflixt, es muss mir doch möglich sein, 121 km und 7069 hm in 26 Stunden zu bewältigen?“ Jochen wollte die kurze Strecke laufen. Das sind immerhin 66 km und 4260 hm. Überhaupt war Jochen schuld daran, dass wir nun hier in Bozen waren und ich bei einem Lauf angemeldet war, von dem ich nicht wusste, ob er mich überfordert. Jochen hatte mir schon letzten Herbst die Homepage des Veranstalters gezeigt und gemeint, das wäre doch was. Er meinte, dass wir zusammen die kleine Distanz laufen. „Jochen,“ protestierte ich heftig, „ich fahre doch nicht nach Bozen, um dann in der Nacht zwischen den geliebten Bergen zu sein, ohne sie zu sehen. Wenn ich mitkomme, werde ich mich auf der langen Strecke anmelden.“ Die Homepage liess mir fortan keine Ruhe. Anfang des Jahres war es beschlossene Sache. Ich freute mich auf diese neue Herausforderung.
Extremberglauf, das springt dem geneigten Leser der Homepage des Südtirol-Ultraskyrace als erstes in Auge. Ich frage mich immer: Was bedeutet in diesem Fall extrem? Für einen Ultratonie, der seine zusätzliche Kletterleidenschaft im 10. Grad austobt, ist dieser Lauf eventuell ein leichter Spaziergang. Für einen Ultratonie jedoch, dessen alpine Erfahrung sich darauf beschränkt, mit der Seilbahn zur Bergstation zu fahren, um dort 100 Meter nach rechts und nach links zu schlendern, könnte dieser Lauf übel ausgehen.
Wen soll der Zusatz „extrem“ also ansprechen? Leute, die der Sache gewachsen sind? Hm... die finden die Strecke in Ordnung und nicht extrem, höchstens anspruchsvoll. Also Leute, die der Sache nicht gewachsen sind, aber eventuell den Kick suchen und alles buchen, wo extrem drauf steht? Hm... das könnte gefährlich werden. 1000 Anmeldungen waren das Läuferlimit für beide Strecken. 218 waren gemeldet. 107 auf der kurzen und 111 auf der langen Distanz.
Ich wähnte mich nicht bei den perfekt austrainierten Startern, aber ich glaubte fest daran: Vor Samstag Mitternacht bist zu zurück. Der Startschuss fiel pünktlich trotz Gewitterwarnung. Anfänglich stürmten lange und kurze Ultratonies gemeinsam hinaus aus Bozen und die steilen Straßen hinauf zum Rittnerhorn. Über Bozen wich das letzte Sonnenlicht aus dem Himmel und im Norden zog ein Gewitter auf, Blitze durchzuckten die junge Nacht. Erst fiel wenig Regen, später wurden wir mit einem kurzen heftigen Schauer geduscht. Dann verkümmerte das Spektakel zu einem harmlosen Wetterleuchten. Bis Samstagmittag blieb es regnerisch. Danach klarte es teilweise auf. Die Temperaturen waren angenehm.
Für die ersten 18 km und ca. 2000 HM bis zum Rittnerhorn hätte ich mir 6 Stunden Zeit nehmen können, aber ich war voller Ehrgeiz, schließlich galt es die zweite Nacht zu vermeiden. Schon nach 3:44 war ich oben. Mir war schwindelig und kalt und ich war müde. Weil ich vergessen hatte zu Essen, war mir jetzt speiübel. Ich knabberte am VP an einem Stück Schokolade und trank ein bisschen Tee. „Ist alles in Ordnung?“ fragte ein Helfer. „Ja, klar, tutto bene“, log ich und setzte mich wegen des Schwindels fast neben die Bierbank.
Auch bei dem folgenden kurzen Abstieg fühlte ich mich nicht wesentlich besser. Ich hatte große Schwierigkeiten mit dem steilen Pfad hinauf zum Villanderer Berg. Erschöpft saß ich dort auf einem Stein und stellte wie schon so häufig fest: motivierende Mantras sind abergläubischer Hokuspokus. Sie funktionieren nicht. Entweder du hast es in den Beinen und bist rechtzeitig zu Hause, oder du wirst aussteigen, wenn du keine zweite Nacht laufen willst. Der Wille ist stark, aber zaubern kann er nicht.