Jedenfalls packte ich meine Sachen neu zusammen, leerte die Steine aus den Schuhen, prüfte, ob alle Akkus für Handy, Foto, Stirnlampe und GPS noch genügend Saft hatten und stärkte meine eigenen Akkus mit Leckereien aus der perfekten Verpflegung. Über das Gerölljöchel bis zur Ebenbergalm wollte ich auf jeden Fall noch dabei sein. Dort könnte ich notfalls auch aussteigen. Ab hier waren wir meistens zu dritt, Karl, ebenfalls aus Bozen, hatte ein ähnliches Tempo.
Sobald man sich im Sarntal über 2.300 Metern Höhe befindet wird es alpin. Beim Aufstieg zum Jöchel gab es große Schneefelder und der steile Abstieg vom Jöchel ist, wie der Name sagt, voller Geröll. Das war eine kniffelige Angelegenheit. Wir tasteten uns konzentriert darüber hinweg. Herrmann sprach zum ersten Mal davon, dass ihm der Knöchel am linken Fuß schmerzte. Aber es ginge noch.
An der Ebenbergalm wollte ich noch nicht aufhören. Es war so schön hier in den Bergen. Es ging mir so gut. Bis zur Hirzerhütte würde auch die Sonne scheinen. Nach einer Stärkung ging ich also mit Karl und Herrmann weiter. Ich verbot meinem Hirn darüber nach zu denken, dass auch an diesem Tag die Sonne unterging. Außerdem verbannte ich das Höheprofiel aus meinem Kopf.
Aus dem Tal mussten wir nun ca. 1000 HM hinauf zu einer Scharte, der Alper Nieder. Danach querten wir einen sehr steilen Grashang. Wir freuten uns über den trockenen Untergrund. Bei Regen oder gar Schnee wäre dieser Abschnitt sehr gefährlich. Das abendliche Sonnenlicht gab mehr Sättigung in die Farben. Alles leuchtete bunt. Das war sehr schön. Auf dem nun folgenden aussichtsreichen Grat steckte irgendwo das Schild 80 km. Kurz darauf erreichten wir das Grünangerjoch.
„Nur noch einen Marathon“, grübelte ich beim steilen Abstieg zur Hütte. „Hast du noch genügend Körner dafür?“ Ja, war die klare körperliche Antwort. Aber wird die zweite Nacht nicht noch schlimmer als die erste? Man kann es nicht wissen, wenn man es nicht ausprobiert. Leider wurden Herrmann’s Schmerzen am Knöchel stärker. Die Sanis bei der Hütte meinten, er solle es ruhig versuchen. Gebrochen sei nichts. Karl gab Herrmann seine Notfall-Schmerztabletten.
Und dann war sie da, die zweite Nacht. Leise und unaufhaltsam kroch sie aus den Tälern die Hänge hinauf, färbte für kurze Zeit die Gipfel rot, sog das Blau aus dem Himmel bis er schwarz war und uns die Sterne zeigte. Ich war so neugierig auf die nächsten Stunden. Die Eckdaten waren klar. Noch 38 Kilometer, 1.913 Meter hinauf und 3.615 Meter hinunter.
Wir brachen mit Verstärkung auf. Vier Freunde von Herrmann waren zur Hirzer Hütte gekommen und wollten ihn bis Bozen begleiten. In dem steilen Hang unterhalb der Hirzer Scharte war ihr Tempo zu schnell, ich ließ mich zurückfallen. Das war kein Problem. Ich sah ihre Lichter und wusste dadurch die grobe Richtung. Von unten folgte mir der nächste leuchtende Lindwurm. Außerdem konnte man die Markierung in der Nacht gut sehen. Die Rennleitung hatte Reflektoren an den zahlreich gesteckten Fähnchen angebracht. Das war eine große Hilfe.
Bei den Kletterstellen unterhalb der Scharte hatte ich die Gruppe wieder eingeholt. Hier musste man auch zwei sehr steile Schneefelder überqueren. Zum Glück waren sie nicht gefroren. Ein Ausrutscher hätte schlimme Folgen haben können. Soll das Wörtchen „extrem“ diese und andere Passagen beschreiben? Wie dem auch sei, wer seine sieben Sinne beieinander hat, wird gut darüber hinwegkommen. Jedoch ohne ausreichend alpine Erfahrung geht dieser Lauf nicht.