Meine Hoffnung auf einen spektakulären Sonnenaufgang muss ich schnell begraben. Dichte Wolkenbänke hängen über den Gipfeln, als sich das erste Morgenlicht breit macht. Auf vergleichsweise bequemen Wegen durchmessen wir eine weite Hochebene aus Almen und Latschenkiefernbeständen. Flott geht es voran. Kein Wunder: Es geht abwärts. Zumindest bis zu Stöfflhütte. Hier wird der Spieß umgedreht: Leicht, aber beständig aufwärts folgen wir sumpfigen Pfaden durch eine schier endlose vegetationsarme Wiesen- und Weidelandschaft. Der ferne Horizont verschwimmt in einem diffusen Gemenge aus Wolken und Bergen. Irgendwie fühle ich mich in die Einsamkeit schottischer Highlands versetzt. Einzige Farbtupfer sind die als einsame Punkte dahin wackelnden Läufer. Seitdem die 66 km-Läufer im Feld fehlen, ist das Läuferband extrem dünn geworden.
Schon von weitem sehe ich in der Bergeinsamkeit hoch oben ein kleines Kirchlein in einem Berghang thronen. Auf steiniger werdenden Pfaden nähere ich mich langsam an. Die Hochebene ist zu Ende, die Bergwelt hat uns wieder. Die im steifen Wind dahinjagenden Wolkenfetzen zaubern stetig wechselnde eindrucksvolle Landschaftsbilder, wenn sie uns nicht gerade selbst umhüllen. Wundervoll ist die Hanglage des Latzfonser Schutzhauses und des Kirchleins in 2.311 m Höhe. Die Wallfahrtskirche zählt zu den höchstgelegenen Pilgerstätten Europas. Alljährlich im Juni wird der „Schwarze Herrgott“, ein schwarzes, geschnitztes gotisches Holzkreuz, von der Dorfkirche im 1.150 m tiefer gelegenen Latzfons in einer Prozession hinauf in die Wallfahrtskirche gebracht, wo es den Sommer über verbleibt.
Wie von einem Balkon genießt man hier einen weiten Panoramablick ins Tal und in die Ferne. Mit frischer Pasta in Olio und Käse, dazu einem Holundertee werde ich am Versorgungsposten verwöhnt. Es fällt schwer, von diesem stimmungsvollen Ort Abschied zu nehmen.
39 km und 2.950 Höhenmeter sind geschafft. Aber so richtig zur Sache geht es erst jetzt.
Auf einem steinigen Pfad schlängeln wir uns eine felsdurchsetzte, steile Bergflanke entlang. Immer wieder versinken wir in feuchten Wolkenschwaden, aber so schnell wie der Wolkenspuk über uns herfällt, ist er auch wieder weg. Erste kleine Schneefelder kreuzen unseren Weg.
Flacher wird der Hang, aber nicht einfacher zu belaufen. Felsen, Sumpf und Wasser sind stetige Komponenten unseres Pfades. Grün und doch karg ist die stille Hochgebirgslandschaft, aber von besonderem Reiz. Niedrige Büsche mit leuchtend lila Blüten gedeihen hier, hellgrüne Flechten überziehen leuchtend weißen Quarz. Mächtige grauglänzende Kühe beobachten immer wieder aufmerksam unser Tun. Im fernen Tal bricht die Sonne durch und zaubert neue landschaftliche Kontraste. Nur zu uns findet sie nicht. Dafür klatscht uns immer mal wieder ein Regenschauer ab.
Wir gewinnen allmählich wieder mehr Höhe, das Klima wird rauer, die Landschaft noch karger. Felsen und Geröll, wohin man blickt. Ein mächtiges Geröllfeld mit wild durcheinander gewürfelten zyklopischen Steinblöcken kreuzt unseren Weg. Da müssen wir mitten durch. Stets schwenkt der Blick zwischen der Suche nach der nächsten Markierung und dem nächsten vertrauenswürdigen Tritt und Stein. Meistens hält er, manchmal wackelt es aber auch bedenklich. Spaß macht das, aber wehe, man leistet sich einen Fehltritt. Das könnte böse enden. Und noch ein wenig steiler wird es. Ich keuche wie eine alte Dampflok. Die dünne Höhenluft hat es in sich. Doch dann sehe ich sie auf einmal über mir: Die Kante des Tellerjochs. Zwei einsame Gestalten mit Zelt harren dort stoisch. Es sind erneut junge Bergwachtler, wie immer superfreudlich, superrelaxt, die mich in Empfang nehmen und die Startnummer notieren. Jenseits der Kante geht es steil hinab und zumindest kurz reißen die Wolken auf und eröffnen einen wundervollen sonnendurchfluteten Blick ins Tal hinab. Eine Minute später ist der Vorhang schon wieder geschlossen und ich stürze mich durch das Geröll in die Tiefe – nun ja, nicht wirklich, aber gefühlt.
Noch einsamer, noch karger, noch unwirtlicher als alles bisher ist das vor mir liegende Tal. In Island oder in Alaska könnte es sein, man würde den Unterschied nicht merken. Geröll und Schnee, was anderes scheint es nicht zu geben. Ein Pfad ist kaum auszumachen. Doch eben dies hat seinen besonderen Zauber. Langsam taste ich mich, tapse und rutsche durch Fels und Eis hindurch, immer weiter hinunter und in einem Bogen auf der anderen Talseite wieder empor. Und dann ist es soweit: Die Sonne bricht durch und zaubert ein geradezu unwirkliches Landschaftsgemälde aus Wolken, Fels und Schnee.
Es kommt noch besser. Durch eine Scharte hindurch gelange ich auf ein kleines grünes Hochplateau, und mittendrin thront, leicht erhöht an einem kleinen Gebirgssee, ein trutziges, altes Schutzhaus: die Flaggerschartenhütte oder, noch besser klingend, das Rifugio Forcella Vallaga (2.481 m üNN, km 50). Auf der Wiese davor stehen Speis und Trank für uns bereit. Und bequeme Liegen. Oh, ist das verführerisch! Die Sonne brennt herab. Ich werfe allen Ballast von mir und betrachte auf der Liege fläzend, Nudelsuppe löffelnd das unberührte, gewaltige Bergpanorama um mich herum. Keine Straße führt hier hinauf. Alles, was man braucht, bringt der Hubschrauber oder wird per Rucksack hoch gebracht.
Ich bin absolut entspannt. Gibt es etwas Schöneres? In diesem Moment kann ich es mir jedenfalls nicht vorstellen. Es ist so ein Augenblick, in dem man sich sagt, dass so etwa zu erleben doch jede Mühsal wert ist.
Die Uhrzeit gemahnt mich dennoch zum Aufbruch. 11:15 Uhr ist es und bis spätestens 15 Uhr muss ich am Penser Joch sein, um nicht die Cut off-Zeit zu reißen. Knapp vier Stunden für 9 km? Das ist doch mehr als genug. Sollte man meinen.