Ich war in der ersten Klasse, als die Vita Versicherungsgesellschaft begann, die Nation mit Trimm-Dich-Pfaden zu beglücken. Vitaparcours heißen diese, gehören zu einer Stiftung und tragen diesen Namen heute noch, wenn auch mit dem Sponsorennamen der Gesellschaft, in welcher diese kleinere Firma aufging. Egal, wer einen Trimm-Dich-Pfad erstellen würde, im Volksmund würde man auch bei dem von Vitaparcours sprechen. So wie die Amerikaner das Staubsaugen mit dem Namen Hoover versehen haben und die Schweizer das mobile Telefon als Natel bezeichnen. Ganz nach dem Motto: „Wer hat’s erfunden?“
Ein Rennen, gespickt mit Hindernissen, in welchen auch anderes als die Ausdauerfähigkeit zum Zug kommt, haben die Engländer erfunden. Aber Tough Guys, harte Kerle, gibt es nicht nur in England, auch wenn diese Bezeichnung eingetragenes Markenzeichen jener Pionierveranstaltung ist. Für die in der Schweiz gibt es in Thun den Survival Run.
Die Idee des Chefredakteurs war, dass ich mir diesen Lauf ansehen und darüber berichten solle. Ein kleines Missverständnis hat dazu geführt, dass ich ihm meldete, er könne mich anmelden. Statt nur in der Liste der akkreditierten Mitglieder der Presse stehe ich nun also in der Startliste.
Die Anreise gestaltet sich für mich recht bequem. PostAuto als Co-Sponsor bietet von verschiedenen Orten der Schweiz Transporte nach Thun für schlappe CHF 10.- an. Hin- und Rückfahrt, wohlverstanden. Ein Blick auf die Passagiere zeigt das Bild, welches schon in der Startliste erkennbar war. Bei Marathons und Ultras bin ich gerade so im Altersdurchschnitt, bei dieser Veranstaltung bin ich in der Kategorie der Mumien anzutreffen. Die gibt es allerdings nicht. So wenig wie andere; es gibt Männer, Frauen, Couples Men, Couples Women und Couples Mixed. Damit hat es sich.
Es geht nicht um Plätze auf dem Treppchen in verschiedenen Altersklassen, sondern um Spaß, verbunden mit sportlichen Leistungen. Von daher kein großer Unterschied zu meinem sonstigen Laufprogramm.
Der Spaßfaktor ist schon beim Abholen der Startunterlagen spür- und auch sichtbar. Ich bin völlig underdressed, da nicht verkleidet. Auch der Name des Teams, für welches ich starte, ist ziemlich normal: TRAILRUNNING.DE. Mad Butchers, Gladiators ebenso wie Gaydiators, Rübenschweine, ICH_MAG_DIE_ANNANASS sind als Teamnamen zu finden. Alle ein bisschen so, wie es ein anderer Name ausdrückt: Los locos – die Verrückten. Eher eine Veranstaltung für unseren Joe. Jetzt muss ich als Notnagel ran...
Gegen Mittag bezieht die farbenfreudigste Truppe, welche der Waffenplatz Thun je zu Gesicht bekommen hat, Aufstellung vor dem Startbogen. Von vorne gegen hinten quetsche ich mich an Silikonbrüsten, Hackbeilen, Dreizack und Engelshaar vorbei und versuche, möglichst viele Bilder der Verkleidungen einzufangen, bevor sich alle Ton-in-Ton über das Gelände bewegen. In Anbetracht meiner ganz normalen Laufkleidung werde ich eines besonderen Vorhabens verdächtigt: „Sie sind wohl wettkampfmäßig unterwegs!“, meint eine junge Piratin. „Nein, das ist meine Verkleidung – die eines Champions.“ Genau genommen bin ich aus einem ganz bestimmten Grund so angezogen. Das Wetter ließe es problemlos zu, in kurzer Laufkleidung zu starten. Ich bin aber mit langer Hose und Armlingen ausgestattet. Es gibt einen Grund dafür. Ich darf mir bei den Hindernissen keine Schramme holen; es ist eine der Vorsichtsmaßnahmen, die ich unter Antikoagulation zu ergreifen habe. Egal, wenn’s nur das ist!
Mit Applaus, Getöse und Gebrüll wird der Countdown begleitet, dann geht es los. Vorne geht die Post ab, hinten geht alles gemächlicher. Es ist schließlich kein Pappenstiel, ein Wikingerschiff mitzutragen. Noch bevor ich die asphaltierte Straße verlasse, sehe ich weit entfernt die Spitze davonhetzen. Die haben bereits eine beachtliche Strecke auf der trockenen Wiese zurückgelegt. Es sieht aus wie ein Treck im Wilden Westen auf dem Weg durch die Prärie. Verstärkung erfährt das Bild durch die Miniausgabe der Rocky Mountains im Hintergrund. Weiter links sind die dick verschneiten Berggipfel des Berner Oberländer Dreigestirns wegen des Gegenlichts noch nicht so gut erkennbar.
Erste Hindernisse sind kleine Mauern aus Strohballen, bei welchen ich sehr schnell herausfinde, wie ich sie rückenschonend mit einer Seitwärtsrolle überwinden kann. Der Waffenplatzkommandant Oberst Haldimann steht am Streckenrand und die Zufriedenheit ihm ins Gesicht geschrieben. Ich glaube nicht, dass er auf diesem Gelände jemals so viele begeisterte, ausgelassene Junge erlebt hat, welche die ihnen bevorstehenden Torturen aus freien Stücken angehen und als Spaß betrachten.
Gespannt warte ich auf die ersten Hindernisse, bei welchen es zur Sache geht. Über zwei Kilometer ist es für meine Begriffe gepflegtes Crosslaufen bei trockenen Bodenverhältnissen. Ein paar Wellen, Gruben und Löcher, mehr nicht. Dann gibt es schon eine Tränke mit Iso und Wasser. Kurz danach geht es durch zwei Zwanzigfuß-Standardcontainer. Die Schnelleren kraxeln schon in der Querrichtung darüber. Wie viel Vorsprung sie haben, wird mir erst nach geraumer Zeit bewusst.
Zuerst geht es aber den Hundschopf hoch. Lieber diesen hoch als den bei der Lauberhornabfahrt bei vollem Tempo runter. Es ist eine Trainingspiste für Raupenfahrzeuge und ich bezweifle, dass es viele SUV gibt, die diesem Anstieg gewachsen sind. Viel mehr Neigung dürfte es auch für mich nicht sein, ohne dass ich zu den ausgelegten Tauen oder ans Geländer greifen müsste.
Die nachfolgende perfekte Welle besteht aus quer über die Straße gelegten Baumstämmen. Mittlerweile ist Rhythmus nur noch etwas für Musiker, nicht für Läufer.
Dann geht es auch für mich über die Container und hinüber zur Rüttelpiste. Die völlig unregelmäßigen Wellen sind für die Panzerinsaßen vermutlich unangenehmer zu ertragen als für mich. Wobei, stolpern und sich aufs Gesicht legen können sie nicht. Und genau das möchte ich auch vermeiden. Lieber zu viel Vorsicht, als eine Salve Beißerchen ausspucken.
Die schiefe Ebene danach wird immer schiefer wie das Deck auf einem sinkenden Schiff. Der Name Titanic für dieses Hindernis kommt nicht von ungefähr.
Auf der zweiten Rüttelpiste geht es zurück und auf dieser Begegnungsstrecke gibt es wieder einen guten Ausblick auf all die Kostümierungen. In der Hohlen Gasse nach dem vierten Kilometer wartet kein Geßler auf Tell, dafür am Ende eine Sackgasse in Form eines steilen Anstiegs. Ein dicker Baumstamm als Abschluss gibt ihm die richtige Würze.