Es klingt mir noch immer in den Ohren. „Guten Lauf“ und „Viel Spass“ rufen uns die Menschen an den 18 Verpflegungsstellen des Défi und in den Dörfern nach. Défi heißt Herausforderung. Einen treffenderen Begriff hätten die Veranstalter für den Ultralauf über 72 Kilometer im Val de Travers im Schweizer Jura mit über 2.000 Höhenmetern nicht finden können. Ich kann mich nicht zurückhalten, ich sag’s gleich vorweg: der Défi ist mit das Beste, was mir bisher unter die Füße gekommen ist und steht auf meiner Favoritenliste ganz weit oben.
Zürich, Jungfrau, Biel und Swiss Alpine sind für viele (absolut verständlich) die Höhepunkte in der Schweizer Terminliste. Mit der Anzahl Teilnehmer, die in Zürich alljährlich kurzfristig auf ihren Start verzichten, würde der Défi einen neuen Teilnehmerrekord aufstellen. Im Schweizer Jura gibt es halt keine Bahnhofstraße, keine Goldküste und keinen Eiger, Mönch oder Jungfrau und auch keinen Piz Kesch.
Und dennoch ist 100 % Schweiz drin, wo Schweiz drauf steht: perfekte Organisation, optimale Verpflegung und eine Landschaft, wie aus dem Bilderbuch. Allerdings aus einem, in dem nicht so oft geblättert wird. Dabei leistet der Schweizer Jura einen Beitrag, ohne den die Schweiz nicht das wäre, was sie ist. Hier ist nämlich seit über zweihundert Jahren die traditionelle, mechanische Uhrmacherkunst zu Hause.
Die Bezeichnung Handwerk verbietet sich angesichts der Wunder- und Kunstwerke, die hier entstehen und in den Gehäusen sämtlicher Schweizer Nobelmarken zu finden sind. Das bekannteste und meist verwendete automatische Chronographenwerk der Welt, das Kaliber Valjoux 7750, wurde hier in Watch Valley (oder „Tal der Tüftler“) ebenso entwickelt, wie seltene und oft nur in ganz wenigen Stückzahlen montierte hoch komplizierte Werke (Grand Complication, Ewiger Kalender usw.).
Und noch etwas verdankt die Welt dem Schweizer Jura. Etwas, was man leicht den Franzosen in die Schuhe schiebt: Absinthe, das hochprozentige wermuthaltige Getränk mit Anis-, Fenchel- und Melisse-Zusätzen wurde 1792 hier im Val de Travers „erfunden“, allerdings als Arznei. Der grünen Farbe wegen wurde das Gebräu „Grüne Fee – la Fée verte“ genannt. Weil der Schnaps so stark ist (bis über 70 Vol-%), wird er traditionell mit Wasser verdünnt, wodurch er sich in eine trübe Brühe verwandelt. 1805 gelangte das Rezept des Absinthe in die Hände von Henri Louis Pernod. Der Rest dürfte allen bekannt sein. In der Schweiz selbst war der Absithe fast 100 Jahre wegen des Bestandteils Thujon, das als Nervengift gilt, verboten. Erst seit März diesen Jahres ist das Verbot aufgehoben und die Schwarzbrennerei hat ein Ende.
Schluß jetzt mit dem Thema, schließlich sind wir (Eberhard und ich) zum Laufen, nicht zum Saufen hier.
Biel hat ja jeder Marathon- oder Ultraläufer mal auf der Karte gesucht, wenn er den 100er nicht gar schon gelaufen ist. Von Biel sind es noch gut 30 Kilometer nach Neuchatel und von dort vielleicht noch 20 Kilometer hoch nach Couvet. Dort ist im modernen Sportzentrum alles für die Läuferinnen und Läufer des Défi gerichtet. Für 8 Franken kann in der Halle übernachtet werden, der Eintritt ins Hallenbad ist frei.
Am Freitagabend gibt es die Startnummern und ein köstliches Nudelgericht (im Startgeld enthalten). Für relativ kleines Geld kann man auch in Gasthöfen in Couvet oder Travers übernachten.
Der Andrang hält sich zunächst in Grenzen. 144 Läuferinnen und Läufer sollen für die Ultra-Strecke gemeldet sein, 94 für den Marathon. Es sind auch etliche Deutsche da, aber außer Alex kenn ich (noch) keinen. Hier kommt man aber schnell ins Gespräch. Pünktlich zum Essen ist dann die Halle gut gefüllt. Der aktuelle Wetterbericht verspricht uns alles, nur keine Sonne. Eberhard ist damit einverstanden, ich bin anderer Ansicht. Wer’s nicht versteht, kann gerne meinen Bericht von letzter Woche (Monschau-Marathon) lesen.
Am nächsten Morgen ist es neblig, aber nicht kalt. Das kann ich so akzeptieren. Um 6.00 Uhr sind wir zum Frühstück im „Adler“, einem alten, sehr schönen Hotel mitten in Couvet. Wände und Decken im Restaurant sind komplett mit uraltem Holz verkleidet und das Mobiliar würde bei jedem Antiquitätenhändler Spitzenpreise erzielen. Es ist alles da: Wurst und Käse für Eberhard, hausgemachte Marmelade und frisches Weißbrot für mich.
Zeit zu gehen, der Start ist bereits um 7.15 Uhr. Bis wir die 30 Meter zum Auto gelaufen sind, sind wir klatsch nass – so sehr hat es angefangen zu regnen. Auf dem Parkplatz vor der Sporthalle steigen wir gar nicht erst aus. So ein Mist, wie soll ich da 72 Kilometer laufen?
Wie der Regen angefangen hat, hört er auch auf. Ohne Übergang, gerade so. Gleich ist die Stimmung wieder besser. Muriel, gestern schon als großes Organisations- und Improvisations-Talent aufgefallen, kämpft auch heute an allen Fronten. Um 7.20 Uhr gibt sie sogar, zwar fünf Minuten zu spät, aber in perfekter Haltung, den Startschuß ab.
Von Couvet (740 m) laufen wir auf einer asphaltierten Straße entlang dem Flüsschen L’Areuse, vorbei an der kleinen Siedlung La Presta und dem Ortsrand von Travers und Noiraigue. Insgesamt geht es sogar etwas abwärts, genau richtig zum Einlaufen. Ich genieße den Morgen, die netten Menschen um mich herum und freue mich, hier zu sein.
Nach km 10 steigt der Weg dann an. Das erste Stück laufen wir noch, als es steiler und steiniger wird, wird der Berggang eingelegt und Marschtempo ist angesagt. Erste Bergankunft soll auf dem Creux du Van (1465 m) sein. Nach der Verpflegungsstelle am Berggasthof Les Oeillons (1.012 m, ca. km 13) geht es auf dem „Sentier des 14 contours“, einem schmalen, steilen Steig weiter.
Ich zähle nicht nach, sondern konzentriere mich auf den Weg. Es ist Vorsicht angesagt. Der Hang ist zwar bewaldet, fällt aber fast senkrecht ab und der Weg ist durch den Regen rutschig. Es herrscht eine bemerkenswerte Stille. Ab und zu ein Vogel, das Tropfen vom Laub der Bäume und der eigene Atem – sonst ist nichts zu hören. Hin und wieder reißen die Wolken etwas auf und geben den Blick weit hinunter ins Tal frei. Der Creux du Van ist ein ganz markanter Berg. Seine senkrechten Felsabstürze bilden fast einen Halbkreis und fallen schon auf Fahrt von Neuchatel herauf ins Auge.
Nach einer guten Stunde ab der letzten Ortschaft ist das Hochplateau erreicht. Es geht an der Steinmauer entlang, die links zum Schutz für Mensch und Tier errichtet ist. Die Markierungsbänder an den Bäumen und Fähnchen im Gras weisen den Weg weiter nach oben. Le Soliat (1.465 m) heißt der höchste Punkt. Von dort kommen jetzt vertraute Klänge. Ich tippe auf Alphorn.
Richtig, gleich nach der Verpflegungsstelle, die komplett von als Grüne Feen verkleideten jungen Männern betreut wird, sehe ich im Dunst den Künstler, wie er unermüdlich dem riesigen Instrument melodische Töne entlockt und so eine ganz eigentümliche Atmosphäre schafft.
Spätestens jetzt muss ich etwas zu der Verpflegung sagen. Die Auswahl ist sagenhaft. Es gibt Iso, Tee, Wasser, Bouillon, Trockenfrüchte und Obst, Schokolade, Kekse, vielerlei Nüsse und Riegel. Alles appetitlich auf Tellern und in Schalen präsentiert. Nicht nur hier, überall ist das so.
Die Freundlichkeit der Menschen hier ist nicht zu überbieten. Fast überschwänglich werden wir begrüßt. Erkennen sie uns als Deutsche, werden sofort die entsprechenden Sprachkenntnisse heraus gekramt. Und wenn einer nur drei Worte kann, er sagt sie Dir. Zum Abschied dann das inzwischen fast schon vertraute „Bonne route, bonne chance“.
Auf einem Wiesenweg geht es jetzt etwas abwärts, Eberhard und ich machen einen Schwatz. Von unten kommt ein Traktor. Er überlässt uns den gesamten Weg, fährt querfeldein und winkt uns freundlich zu. Wir laufen durch eine große Kuhherde und kommen dann zu dem Berghaus "La Baronne", wo ein Kontrolleur unsere Startnummern notiert. Weil wir ihn nicht verstehen, ruft er laut ins Haus. Gleich kommt die Bäuerin und fragt uns in einwandfreiem Deutsch nach Befinden und etwaigen Wünschen.
Auf einer Teerstraße laufen wir jetzt ein paar Kilometer abwärts. Ungefähr bei km 24 geht es dann links von der Teerstraße runter, zunächst etwas aufwärts und dann sehr steil, später in Serpentinen nach unten. Endlich erreichen wir Le Couvent (1.116 m, km 28). Hier ist die Streckenteilung (Marathon rechts, Défi links) und Zeitkontrolle. Der Posten muss nach 4 Stunden passiert sein.
Danach geht es ein kurzes Stück fast eben, dann beginnt der nächste steile Aufstieg. Beim Marsch im dichten Laubwald durch die Schlucht, teilweise über steile Treppenstufen ganz eng an den Felsen entlang, komme ich mir wie im Urwald vor. Die Nebelschwaden und der Dunst verstärken diesen Eindruck noch und ich warte förmlich auf das Geschrei und Gekreische exotischer Tiere. Stattdessen taucht plötzlich eine Läuferin vor uns auf. Das ist schon erwähnenswert, denn wir sind seit Stunden alleine auf der Strecke.
Die Strecke zum Chasseron ist ab der Streckenteilung ungefähr 12 Kilometer lang, der Anstieg beträgt ungefähr 600 Meter. Allerdings sind da auch immer wieder mal flache Passagen drin und solche mit moderatem Anstieg. Die werden dann immer gelaufen und so kommen wir gut voran, ohne zu ermüden. Wir sehen Bauerhöfe und mit Steinmauern begrenzte Viehweiden. Das Wetter hält sich, einmal kommt sogar für kurze Zeit die Sonne raus.
Jetzt kommt ein langes Stück abwärts auf guter, geteerter Straße. Das ist zwar sehr gut zu laufen, die Freude darüber hält sich dennoch aus verständlichen Gründen in Grenzen. Dann ist damit Schluß und wir sind wieder auf den typischen Wiesenwegen, uneben und mit Vorsicht zu genießen.
Bei km 35 erreichen wir Les Lisères. Die Grüne Fee auf dem riesigen Transparent ist schon von Weitem zu sehen. Logisch, dass hier eines der Fabelwesen anwesend ist und die Verpflegung übernimmt.
Die dicke schwarze Wolke über uns macht Ernst, es fängt leicht an zu regnen. „Le Chasseron 30 Minuten“ steht auf einer Hinweistafel. Es wird steiler und steiniger, Wiese und Geröll wechseln sich ab. Bald ist oben im Nebel die Gipfelpyramide zu sehen, links unten das Schutzhaus und fast 1.200 Meter tiefer der Neuenburger See. Der anstrengende Aufstieg ist bei solcher Pracht gleich vergessen. Direkt neben dem Schutzhaus (km 41) gibt es wieder die gewohnt gute Verpflegung. Mittlerweile gibt es auch noch Cola und einen ausgezeichneten Bergkäse. Kann sein, dass das mein erster Lauf ist, auf dem ich nicht etwas Gewicht verliere. „Bonne route, bonne chance!“, rufen uns die Damen hinterher.
Ein kurzes Stück geht es über die Wiese eben dahin, dann geht es, scheinbar, nicht mehr weiter. Wir stehen an der Abbruchkante und schauen uns an. Wir sind gewarnt, haben es uns aber so dann doch nicht vorgestellt. Bestimmt 40 Grad hat das Gefällstück und der Boden ist inzwischen schmierig und rutschig. Wenn die seitlichen Halteseile nicht wären, der Abstieg wäre nicht möglich und ist so auch noch riskant. Schon nach ein paar Schritten hat sich das Profil der Trailschuhe mit Dreck zugesetzt. Es kommt wie es muss: ich rutsche aus, falle auf den Hintern, greife mit beiden Händen in den Dreck und rutsche 3 Meter abwärts. Ich habe Glück, nichts ist passiert. Eberhard ist hinter mir, sieht mein Missgeschick und kann seinen Sturz an gleicher Stelle dennoch nicht verhindern. Jetzt sind wir vielleicht übervorsichtig und brauchen für den Abstieg bestimmt länger als vorhin für den Aufstieg. Aber riskieren wollen wir nichts.
Über eine halbe Stunde sind wir so unterwegs, dann ist es geschafft. Am nächsten Bauernhof werden wir rührend betreut. „Das Schlimmste habt Ihr hinter Euch, nur noch drei kleine Steigungen“, so das Versprechen. Hände waschen, Essen, Trinken und weiter geht’s, jetzt auf einem geteerten Weg abwärts. Wir kommen zu einer Verkehrsstraße. Der Posten hält mit seiner roten Fahne ein Auto an, klemmt sich die Fahne unter den Arm und klatscht uns Beifall: „Bonne route, bonne chance!“
Wir erreichen Saint Olivier (km 48), eine kleine Siedlung mit nur ein paar Häusern. Besorgt fragt man nach, ob wir verletzt seien. Dann erfahren wir, dass es hier um die Mittagszeit ganz ordentlich geregnet hat. Wenn der Regen früher gekommen wäre, hätte man wohl die Strecke über den Chasseron gesperrt. „Da haben wir aber Glück gehabt,“ sage ich und meine es so.
Zwei Kilometer weiter sind wir in La Cote aux Fees. Der Schweinestall am Ortseingang nimmt mir fast den Atem. In der Ortsmitte, exakt bei km 50, ist die nächste Verpflegungsstelle. Trotz des ungemütlichen Wetters sitzen noch etliche Leute hier und empfangen uns mit lautem Gejohle und kräftigem Applaus. „Kommen noch welche?“, werde ich gefragt. „Ein paar werden es schon noch sein,“ sage ich. „Dann bleiben wir noch hier“, so die Antwort. Als wir uns auf den Weg machen, begleiten uns wieder die besten Wünsche. Rechts am Ortsausgang ist eine Werkstatt der Uhrenmanufaktur Piaget, eine der edelsten Schweizer Marken.
Auf dem Weg nach Verrières laufen wir zuerst über Wiesen und durch kurze Waldstücke und dann ein ganzes Stück eine Verkehrsstraße aufwärts. Trotz der Steigung geniessen wir den Lauf, weil es so viel weniger anstrengt, als das konzentrierte Laufen auf den rutschigen und unebenen Trails vorhin. Wir bewegen uns hier immer auf einer Höhe um die 1.000 Meter. In Verrières (km 56) geht es ein Stück der Bahnlinie entlang und dann rechts hoch nach Les Bayards, der letzte Anstieg. Vor dem Ort geht es rechts zu einem Bauernhof. Kinder laufen mit Kuhglocken vor uns her und kündigen uns bei der nahen Verpflegungsstelle (km 60) an. Ein Wagen wurde zur Begrüßung der Läufer bunt geschmückt und etliche Leute warten hier, bis auch der letzte Läufer durch ist.
An einem alten Bahnhäuschen überqueren wir die Hauptstraße und es geht steil nach St. Sulpice und von dort immer der Areuse entlang nach Fleurier (km 68), dem größten Ort im Val de Travers. Links liegt der kleine Ort Boveresse. Dort ist ein imposanter Holzbau zu besichtigen, der 1893 eigens für die Trocknung von Wermut und anderen zur Herstellung der "Grünen Fee" nötigen Pflanzen errichtet wurde.
Die letzten Kilometer ziehen sich jetzt doch dahin. Die Beine sind müde, es wird Zeit, dass wir Couvet erreichen. Als wir endlich als beinahe die Letzten beim Sportzentrum eintreffen, ist es dort schon ziemlich ruhig geworden. Über Lautsprecher werden wir begrüßt und eine freundliche Dame zeigt uns an, dass wir noch eine Runde im Stadion laufen müssen. 400 Meter auf einer komfortablen Kunststoffbahn – wenn’s sonst nichts ist. Dann sind wir im Ziel. Ganz unspektakulär geht ein grandioses Lauferlebnis zu Ende.
In der Halle ist allerdings schon noch ordentlich Betrieb. Viele Läuferinnen und Läufer bleiben noch eine Nacht. Auf einer großen Leinwand wird das Video vom heutigen Lauf gezeigt.
Die Duschen sind heiß und es gibt kein Gedränge. Auch nicht bei den Massagen. Der Vorteil der späten Ankunft.
Sehr anspruchsvoller Rundkurs über 72, 42, oder 21 Kilometer.
T-Shirt, Urkunde, Pasta-Bon und freier Eintritt ins Hallenbad
Couvet ist mit dem Auto gut zu erreichen. Entfernung Basel- Neuenburg ca. 140 km, Neuenburg – Couvet ca 20 Kilometer. Parkplätze in unmittelbarer Nähe vom Sportzentrum.
In der Sporthalle, oder in Hotels und Gasthöfen in Couvet oder Umgebung.