Unter dem Begriff Défi Val de Travers kannte man bisher einerseits den Landschafts- und Berglauf über 75 km mit knapp 3000 Höhenmetern, andererseits war es der Oberbegriff für alle Laufveranstaltungen, die im Rahmen dieses Ultras sonst noch über die Bühne gingen. Dazu gehörten und gehören Kinderlauf, 12km-Lauf, Halbmarathon, Marathon, Dreierstaffel im Marathon, dazu Walking-Bewerbe über 6 und 12 km.
Zur fünfzehnten Austragung wurde der Königsdisziplin ein eigener Name gegeben. Nachdem die grüne Fee nach Aufhebung des Banns in der Schweizer Bundesverfassung vor wenigen Jahren als Spirituose den Weg zurück in ihre Wiege gefunden hat (Aus der Militärdienstzeit meines Vater weiß ich, dass die grüne Fee inkognito und mit einem Alias immer anwesend war. Wenn man in der Dorfkneipe ein Glas Ziegenmilch bestellte, setzte sie sich zu einem an den Tisch.), schmückt sich der lange Kanten mit dem Titel Trail de l’absinthe. Da ist es ein kleiner Zufall, dass gerade in der kommenden Woche das berühmte Portrait "Angel Fernandez de Soto“ (Der Absinthtrinker)" aus Picassos „Blauer Periode“ unter den Hammer kommt. Der Erlös, auf 30 bis 40 Millionen Pfund geschätzt, kommt der Andrew Lloyd Webber Art Foundation zugute. Andrew Lloyd Webber, das ist doch der mit dem Phantom der Oper? Richtig. Aber was hat das mit dem Défi zu tun?
Erstens basiert das Musical „Phantom der Oper“ auf dem Roman eines französischen Schriftstellers (Gaston Leroux) – und Französisch ist die vorherrschende Sprache an dieser Laufveranstaltung. Zweitens gehe ich mit der leisen Befürchtung ins Rennen, ich könnte heute zum Phantom des Absinth-Trails mutieren. Nicht, dass ich völlig überraschend und vor den anderen im Ziel auftauchen würde – eher das Gegenteil schwant mir. Dass ich mich irgendwo auf der Strecke im Nichts auflösen könnte.
Was ich heute mache, ist nämlich eine Art Selbstversuch. Ich starte zu meinem erst siebten Ultra überhaupt. Dass ich das nur gerade eine Woche nach meiner Premiere über 100km tue, ist etwas gewagt. Von der Muskulatur her gibt es keine Bedenken, jedoch waren die Blasen an den Fußsohlen üppiger und dauerhafter als am vergangenen Samstag noch eingeschätzt. Beim Eintreten ins Centre Sportif werde ich mit jedem Schritt des linken Beins immer noch ein bisschen daran erinnert.
Zusammen mit der Startnummer gibt es ein Funktionsshirt, Müesli- und Schokoladenriegel, Traubenzucker und eine Miniature, eine Einmaldosis Absinth. Diese muss erst einmal auf ihren Einsatz warten.
Dadurch, dass ich erst heute angereist bin, bleibt mir bis zum Start um 07.15 Uhr nicht mehr viel Zeit. Trotzdem müssen noch ein paar wichtige Entscheide getroffen und Handgriffe verrichtet werden. Die linke Fußsohle klebe ich vorsichtshalber mit dem Stretch-Vliesband ab, welches mir Carmen mit ihrer Ultra-Erfahrung vor einer Woche in Biel für zukünftige Läufe empfohlen und ich mir in der Zwischenzeit besorgt habe. An den Start werde ich in kurzer Kleidung gehen und dafür die Jacke in den Trinkrucksack packen.
Bleibt noch abzuwägen, welcher Trailschuh heute der geeignetste sein wird. Der wasserdichte mit weicher Gummisohle oder der wasserdurchlässige mit der strapazierfähigeren Gummimischung? Da ich damit rechnen muss, dass man auf diesem Kurs bis zum Knöchel im Matsch versinken kann, würde mir das GTX-Modell auch keine trockenen Füße garantieren können. Zudem ist der Streckenanteil mit grobkörnigem Asphalt grösser als der mit nassem Fels. Dem Nachteil der starken Abnützung der Sohle steht der Vorteil der exzellenten Haftung auf nassem Fels gegenüber. Es ist schon fast ein Luxusproblem, das ich da wälze. Ein echtes Problem hat, wer keinen Trailschuh mit griffigem Profil zur Auswahl hat.
Die Zeiger der Uhr sind schon nah an die Startzeit herangerückt, und erst jetzt trudeln die Teilnehmer auf der Leichtathletikbahn des Centre Sportif ein. Etwa 230 sind es insgesamt, etwas mehr als die Hälfte startet auf der langen Distanz, die anderen am Marathon. Die Langdistanzler tragen alle (sollten wenigstens, denn es ist so vorgeschrieben) mindestens eine Trinkflasche mit, viele haben aber einen Trinkrucksack mit.
Beim Startschuss setzt sich das Feld auf der Tartanbahn langsam in Bewegung. Obwohl keine Nettozeit gemessen wird, drängelt niemand. Es wäre auch ziemlich unklug, das zu tun.
Nach wenigen Metern treffe ich auf Reto. Ich bin also nicht der einzige Verrückte, der eine Woche nach dem Hunderter wieder Kilometer fressen will. Auch er hat sich gut erholt und freut sich auf diese ganz andere Währung des Ultralaufs.
Auch wenn ich mich auf den ersten Kilometern in der Talsohle des Val de Travers ganz locker fühle, gehe ich dieses Abenteuer verhalten an. Wie wird mein Körper jenseits der Marathonmarke reagieren, wenn es schon wieder so weit geht?
Der Einstieg ist in jeder Hinsicht sanft. Die Strecke ist praktisch flach, tendenziell sogar mit Gefälle, da es dem Talausgang zugeht. Gegen Noiraigue hin gibt es einen ersten Eindruck, wie der Untergrund beschaffen sein kann, wenn der Weg nicht mehr befestigt ist. Die Pfützen und matschigen Stellen sind nur ein Appetithäppchen, die“ amuse bouche“, von ihrer Größe und Feinheit her allerdings der Nouvelle Cuisine zugehörend.
Nach zehn Kilometern kommt der erste Verpflegungsposten, der bereits einen Eindruck gibt, was heute so auf der Speisekarte stehen wird. Nach der Verpflegung lohnt es sich fast nicht wieder anzulaufen, denn von hier an beginnt der erste lange Aufstieg, in welchem ich mit Gehen schneller und Kräfte sparender unterwegs bin.