Irgendwann wird die Forststraße zum Pfad, in welchem der Anteil an Wurzeln und Matsch laufend zunimmt. In den Lichtungen kommt wenigstens etwas von dem trüben Morgenlicht zu uns herunter, der Blick ins Tal ist aber nicht richtig freigegeben. Zu schwer hängt die Feuchtigkeit der vergangenen Regentage in der Luft. Beim Erreichen der Krete des Creux du Van verlassen wir den Wald und werden von ein paar Zuschauern empfangen, deren Silhouette sich dunkel vor dem dichten Nebel abzeichnet. Hier sehen wir was passiert, wenn Wasser zum klaren Absinth gegossen wird: Im Glas entsteht ein milchiges Weiß. Zum Trinken gibt es hier aber das ungefährliche, reichhaltige Angebot. Der Boden dafür kann mit Früchten, Riegeln, Schokolade, Keksen und Crackers gelegt werden.
Entlang der Steinmauer geht es der Krete entlang weiter, doch der Blick hinunter zum Fuß des Felsenzirkus bleibt uns verwehrt. Gut 700 Höhenmeter und die Kantonsgrenze zwischen der Waadt und Neuenburg liegen hinter mir, ein sanfter Abstieg vor mir. In dieser Höhe weht ein ordentliches Lüftchen und lässt die Lufttemperatur im mittleren einstelligen Bereich auf der Haut noch kühler empfinden.
Auf den folgenden Kilometern ist die Strecke ein Wechsel von Graspfaden über Weiden und Wirtschaftsstraßen, ein Teil davon sogar befestigt. Die Nebelstimmung ist traumhaft, die Schwaden huschen Feen gleich über die mit Regen gesättigten Weiden. Und immer wieder stehen Kühe in stoischer Ruhe inmitten dieser Szenerie, als würden sie kein anderes Wetter kennen.
Nach 21 Kilometern kommt bereits die vierte Verpflegung und anschließend ein halber, flacher und geteerter Kilometer, auf welchem noch Zeit zum Herunterschlucken bleibt. Nachher wird leer geschluckt, wenn man die Strecke nicht schon kennt. Denn jetzt geht es auf richtig schlammigem Waldboden in eine Richtung: abwärts, und das nicht zu wenig. Mit der Zeit gibt es weniger Schlamm, dafür mehr Wurzeln und rutschige Steine, dazwischen auch ein paar Treppenstufen aus Rundbalken oder Stein. Das alles fährt zünftig in die Oberschenkel, welche noch ohne Murren mitmachen.
Das schäumen des Wasserfalls erscheint im Kontrast zum dunklen Wald fast unwirklich hell. Am Waldrand überquere ich – von einer Zuschauerin gewarnt – mit äußerster Vorsicht eine kleine Holzbrücke. Bisher dachte ich, nur mit einer Überdosis Schmierseife eingeseifte Stege in Trickfilmen könnten einen solchen Untergrund abgeben. Stimmt nicht, dieser Versuch zeigt, dass es auch in Natura geht. Kurz hinter der Brücke vernehme ich schon die Klänge einer Guggenmusik; der nächste Verpflegungsposten bei Môtiers liegt also schon ganz nah.
Zuerst nehme ich mir Zeit, um die meist jugendlichen Musizierenden bildlich einzufangen, dann widme ich mich der flüssigen Verpflegung und dem Steinchen, das sich kurz zuvor in meinen Schuh verirrt hat, was die Gamaschen nicht verhindern konnten. Wie sollen sie auch – zuhause in der Schublade …?
Zweihundert Meter nach dem Verpflegungsposten trennen sich die Strecken von Marathon und Trail. Damit sich keiner unfreiwillig auf die falsche Strecke begibt, stehen bei der Weiche Streckenposten, die auch Buch führen, ob niemand abkürzt.
Nun folgt der Anstieg in der malerischen Schlucht Poëtta Raisse, einer wahren Märchenlandschaft. Einzig das Gefühl im Magen will nicht ganz dazu passen. Zu den Märchen gehört doch auch das Schlaraffenland. Ich bereue, dass ich in Môtiers nicht mehr zugegriffen habe und freue mich auf den nächsten Verpflegungsposten. Letztes Jahr war er dort, wo uns der Weg in einer Spitzkehre aus der Schlucht hinaus in Richtung Montagnette du Terreau führte. Mit Betonung auf war. In diesem Jahr wurde das Regime etwas verschärft, dafür gibt es für diesen Kurs zwei Qualifikationspunkte für den UTMB. Im Moment pfeife ich auf diese Punkte und könnte mich ohrfeigen, dass ich die Unterlagen nicht genauer studiert und deshalb diese Änderung nicht mitgekriegt habe.