Mit mächtigem Kohldampf dampfe ich bei nächsten real existierenden Posten an und greife tüchtig zu. Dabei ist es mir völlig egal, dass sich die Truppe, welcher ich mich beim Anstieg locker angeschlossen hatte, schon längst vom Acker und auf die nun folgende kurze Gefällstrecke gemacht hat. Obwohl ich keinerlei Erfahrung mit der Verträglichkeit von Trockenfrüchten beim Laufen habe, nehme ich zu mir, wonach mich gelüstet. Augenblicklich kehren die Kräfte wieder zurück, bin ich für den baldigen Aufstieg zum höchsten Punkt gerüstet und trabe weiter.
Das seit geraumer Weile andauernde Nieseln wird stärker und stärker und lässt mich nochmals halten, damit ich meine Kamera in die Schutztüte legen kann. Trotzdem kann ich wieder zu Roland aufschließen. Schon im vergangen Jahr waren wir an dieser Stelle gemeinsam unterwegs. Ihn kann der Regen auch nicht aus dem Gleichgewicht bringen, als Finisher der "Diagonale des Foux" ist er sich Heftigeres gewohnt.
Je höher ich zum Gipfel des Chasseron komme, umso dicker wird der Nebel. Dazu kommt zeitweise ein stark auffrischender Wind. Von den als Streckenmarkierung dienenden Papierfähnchen des einen Sponsors stecken nur noch die Holzstäbchen im Boden, an welchen Überreste von Papier andeuten, wo das Fähnchen angeklebt war, bevor der Wind das aufgeweichte Papier wegzerrte. Ich bin ganz darauf konzentriert, der Streckenmarkierung zu folgen und deshalb von der Richtungsänderung überrascht, die mich plötzlich abwärts führt. Dieser Überraschung folgt wenig später der Verpflegungsposten, an welchem ich mich auf einer Zeitreise wähne. Dick eingehüllte Helfer trotzen Nässe und Kälte und geben zwei Tage vor Sommerbeginn ein schwer herbstliches Bild ab. Ich werde auch gefragt, ob mir nicht kalt sei, aber noch spüre ich die im Aufstieg generierte Wärme in mir.
Kaum beginne ich auf der Rückseite des Bergs mit dem Abstieg, bin ich trotzdem drauf und dran, die Jacke aus dem Rucksack zu holen, denn der Wind bläst schneidend durch das nasse Funktionstuch. Aber der Blick auf die ersten Meter des kommenden Abstiegs, die ersten von 600 Höhenmetern, die auf vier Kilometern vernichtet werden müssen, treibt mir gleich die Schweißperlen auf die Stirne.
Der völlig aufgeweichte Trampelpfad die Kuhweide hinab stellt höchste Anforderungen an Konzentration und Balance. Ein Wegrutschen ist nicht zu vermeiden, es gilt den Fuß so abzusetzen, dass eine Bodenerhebung seiner Gleitphase ein Endebereiten kann. Ich muss auch mein Notfallszenario präsent haben, denn meiner operierten Schulter zuliebe sollte ich keine abrupte Stützbewegung mit der rechten Hand machen. Denken, Intuition und Gefühl müssen sich in Sekundenbruchteilen abwechseln und ergänzen, damit ich ob diesem Teufelszeug nicht ins Wanken gerate.
Einen ersten leichten Bodenkontakt mit dem Hinterteil nehme ich als Warnung entgegen, ich glaube aber nicht, dass ich überhaupt etwas dagegen unternehmen kann.
Ich tauche wieder in den Wald ein und merke, dass der Weidepfad nur ein Vorgeplänkel von dem war, was jetzt folgt. Ich finde mich mitten in einem Kindertraum wieder: Mit Volldampf darf ich mich durch den Matsch suhlen. Mud Wrestling auf Läuferart. Ich kämpfe mit dem Sumpf und im Sumpf. Dabei gibt es dreimal einen Verlierer – und jedes Mal bin ich es. Beim ersten Mal haut es mich auf einen Felsen und dadurch, dass ich den rechten Arm instinktiv an den Körper drücke, falle ich darauf und bekomme einen solchen Drall, dass ich nach einer Rolle seitwärts über den Fels hinab eine Etage tiefer auf dem Weg zum Stehen kommen. Eine kurze unkontrollierte Bewegung beim Sturz hat zu einem Muskelkrampf in der rechten Wade geführt, den ich erst wieder losbekommen muss. Bei den beiden weiteren Bodenkontakten lande ich verhältnismäßig weich und kann, mit einer Fangopackung auf der Rückseite, den Kampf unmittelbar wieder aufnehmen.
Ein Asphaltsträßchen mit leichtem Gefälle bietet den feurigen Oberschenkeln etwas Erholung, bevor es nach einer gesicherten Straßenquerung bei Kilometer 45 in eine Gegensteigung geht. Steigung und Gefälle wechseln sich auf den nächsten fünf Kilometern bis La Côte-aux-Fées manierlich ab. Weniger und mehr Regen ebenfalls. Trotzdem wage ich es, ein paar fotografische Eindrücke zu sammeln. Blühende Wiesen und ein für den Jura typisches Pferd auf einer Weide sind die letzten Motive, die auf der Speicherkarte Eingang finden. Ausgerechnet beim Ablichten der 1658 erbauten Kirche gibt der Auslöser der Kamera ein letztes Zucken von sich, die Bits und Bytes dieses Bildes hingegen verflüchtigen sich im Exitus der Kamera, die auf dem Trail de‘labsinthe versumpft und abgesoffen ist.
Wenige Meter vom Ort des Geschehens entfernt ist der nächste Verpflegungsposten, an welchem ich die Kameraleiche im Rucksack verstaue und mich für das dritte Drittel stärke. Es gibt noch zwei größere Erhebungen zu bewältigen, steile Aufsteige gibt es dabei keine mehr, dafür ein Auf und Ab und – außer man kennt die Strecke gut – keine Anhaltspunkte, wie viel von den Höhenmetern jeweils schon überwunden sind.
Kaum liegt das befestigte Straßenstück hinter uns, beginnt ein langer Abschnitt, der über die traditionellen Waldweiden führt, Kuh- und Pferdeweiden mit lockeren Baumbeständen. Wenn es nicht die Sumpflöcher wären, in denen ich versinke, wären es die regenschweren Grasbüschel, die für eine stete Bewässerung des Laufwerks sorgen. In der Zwischenzeit haben meine Füße vermutlich große Ähnlichkeit mit denen einer Wasserleiche. Einziger Unterschied dürfte die Färbung meiner Zehen sein, die sich bei mir in einem grau-braunen Spektrum bewegen könnte.
Der Sumpf auf den Weiden hat den Nebeneffekt, dass das Aufsetzen des Fußes sehr gelenkschonend ist. Der Preis dafür ist, dass das Herausziehen des Fahrwerks so viel Kraft braucht, dass ich den Eindruck habe, die Erdanziehung habe sich verdoppelt. Wenn es so weitergeht, werden mich die morastigen Weidegründe des Neuenburger Juras verschlingen und mich zum Phantom des Absinth-Trails machen. Ich stelle mir vor, wie ich Generationen später als Moorleiche gefunden, als Neuzeit-Ötzi herumgezeigt werde und die Wissenschaftler zu irrigsten Theorien darüber verleite, welchem Kult dieses Bündel Trockenfleisch mit hochtechnologischer Kleidung und Schuhwerk gehuldigt hat.
Der zusätzliche Kräfteverschleiß macht sich bemerkbar und so habe ich nichts dagegen, dass ich in die Nähe der nächsten Verpflegungsstelle komme. Zuvor pinkle ich dem Kaiser noch auf den Hut. Es ist keine antiroyalistische Äußerung eines Demokraten, sondern die Folge meiner immensen Flüssigkeitsaufnahme im Verlaufe der hinter mir liegenden 55 Kilometer. Beim kaiserlichen Hut handelt es sich um den Chapeau de Napoléon, einen Hügel, der von Osten betrachtet die Form dieser Kopfbedeckung aufweist.
Jetzt muss ich mir nochmals genügend Zeit nehmen, um die Löcher im Magen stopfen. Eine weitere Gefällstrecke macht es einfach, nach der Pause wieder Tritt zu fassen. Hinter St.Sulpice, Kilometer 60 ist bereits passiert, wird der Talboden erreicht und der Blick kurz auf den dortigen Felsenzirkus freigegeben, danach tauchen wir wieder in den Wald ein, unterqueren Straße und Bahnlinie und gehen in einen sanften aber längeren Anstieg hinein. Dann geht es zügig abwärts und wieder auf einer langen, sanften Steigung hoch, aus dem Wald raus und nachher auf welliger Straße zur letzten nennenswerten Steigung.
Zu Beginn des Laufs würde man sie kaum als solche wahrnehmen, hier bei Kilometer 70 ist sie nicht nur Nasenwasser, dafür beginnt der Countdown. Einen Kilometer weiter wird bei der letzten Verpflegungsstelle nochmals eine gesicherte Straße überquert. Zum krönenden Abschluss gibt es auf den nächsten knapp drei Kilometern nochmals 300 Höhenmeter zu vernichten, damit meine Oberschenkel morgen noch von diesem Lauferlebnis zehren können.
Am nördlichen Dorfeingang von Couvet ist das letzte Kilometerschild vor dem Ziel und beflügelt mich zu einem Endspurt. Ich staune, dass ich auf diesem flachen Schlussstück um ein paar Hauseckern herum noch solche Energie mobilisieren kann. Die letzten Meter zum Centre Sportif geht es abwärts und diesen Schwung nehme ich mit auf den Zieleinlauf auf der Rasenfläche neben der Leichtathletikbahn. Die Zeit wird von Hand gestoppt, die Startnummer mit einem entsprechenden Barcode-Kleber versehen und einige Meter weiter vorne im Einlaufkanal zusammen mit dem Barcode der Startnummer eingelesen.
Eine Viertelstunde habe ich länger gebraucht als im vergangenen Jahr. In Anbetracht des Efforts vor einer Woche in Biel und der heutigen Wetter- und Streckenverhältnisse bin ich sehr zufrieden. Der Selbstversuch ist – unter anderem auch dank der bei schlechten Sichtverhältnissen sehr guten Streckenmarkierung und den freundlichen, dem üblen Wetter trotzenden Helfern - zu meiner Zufriedenheit geglückt und wird mit einer ausgiebigen heißen Dusche und einem offerierten Teller Pasta still gefeiert.
Wer gerne etwas richtig Dreckiges macht, ohne dabei unanständig oder unmoralisch zu werden, dem sei der Trail de l’absinth empfohlen. Besonders dann, wenn sich die Tage zuvor eine Sintflut über das Val de Travers ergossen hat.
Siegerliste
Trail de l'Absinthe 75 km / 3000 HM
Männer
1. Jenzer Urs, 1970, Frutigen 6:28.18,6
2. Bieri Beat, 1963, Zweisimmen 6:43.48,5
3. Nemeth Csaba, 1968, H-Miskolc 6:45.27,0
Frauen
1. Alter Julia, 1972, Noiraigue 8:18.43,8
2. Nel Linda, 1971, Riehen 8:32.15,4
3. Durgnat Yvette, 1946, Chernex 9:10.37,7
Marathon
Männer
1. Feuz Vincent, 1967, Les Brenets 3:10.03,8
2. Page Philippe, 1963, D-Immendingen 3:17.52,6
3. Rohrer Pierre-Alain, 1962, Môtiers NE 3:35.28,6
Frauen
1. Yerly Laurence, 1972, Dombresson 3:19.51,9
2. Hebding Marion, 1968, D-Mannheim 3:52.58,4
3. Bauhofer Jolanda, 1979, Längenbühl 4:16.49,9