Als ich mich von diesem Wohlfühlort wieder hinaus in die Einsamkeit verabschiede, ist auch die Sonne fort. Die nahende Nacht ist schon zu spüren, auch wenn mir noch eine Weile Tageslicht verbleibt. Der weitere Streckenkurs bis Lenzerheide verheißt gemäß Plan zwar einige weitere Höhenmeter, aber nichts Extremes. Mehrere kleine Dörfer liegen am Weg.
Auf einem schmalen Asphaltweg geht es entlang der Julia gen Norden weiter durch das Surses-Tal. Schon aus der Ferne ist das Dorf Riom, etwas erhöht über dem Tal liegend, auszumachen. Ein markanter Punkt ist vor allem die mittelalterliche Burg Rätia Ampla, die mich mehr an eine wehrhafte Kirche erinnert. An der Burg vorbei entfernen wir uns zunehmend aus dem Tal. Auf breiten Naturwegen geht es auf und ab durch Wiesen und Felder. Nachtblau erscheinen schon die Gebirgszüge entlang des Surses-Tals. Schließlich: Ein letzter Blick zurück und wir verschwinden im Wald.
Ich warte auf die Ankunft der Nacht. Aber ankommen tut zunächst ganz anderes: Ein kalter Wind, Donnergrollen. Dicke Wolken fallen von Süden her ein, aus Richtung Savognin also, wo vorher alles noch so friedlich gewirkt hat. Und schon prasseln die Tropfen wieder und begleiten uns in die Nacht. Lange warte ich damit, meine Stirnlampe einzusetzen. Aber auf einem holprigen Pfad durch den Wald kann ich schon ab 20:45 Uhr nicht mehr darauf verzichten.
Kleine Weiler wie Del und Mon liegen am Weg. So still ist es hier, als wären dies Geisterorte. Hinter Mon führt uns ein Pfad durch den Wald gut 350 Meter hinab nach Tiefencastel, dem bei km 37 auf 851 m üNN gelegenen tiefsten Streckenpunkt. Hoch über dem Ort thront malerisch die angestrahlte Dorfkirche. Die Ankömmlinge werden bereits erwartet und in den Gastraum eines Hotels dirigiert. Ein weiterer Verpflegungsstop ist in der warmen Stube eingerichtet und ich genieße den ersten und besten der vielen Kaffees, die ich in dieser langen, kühlen Nacht noch trinken werde.
Und weiter geht es durch die Dunkelheit. In der Nacht sind alle Katzen grau, sagt man. Und in gewisser Weise trifft das auch auf die Wege zu, die wir nächtens hinter uns bringen. Mal auf Asphalt-, dann wieder auf Naturwegen geht es dahin, meist recht bequem, durchbrochen von einzelnen Pfadeinlagen. Die Orientierung ist kein Problem. Reflektierende Bänder an Bäumen, Sträuchern und sonstigen Halt gebenden Dingen leuchten schon aus der Ferne beim kleinsten Lichtstrahl auf. Da man das große Ganze nicht sieht, bekommen viele kleine Dinge am Wegesrand mehr Bedeutung und Beachtung: die vielen plätschernden Brunnen, die schönen alten Holzhäuser in Alvaschein und natürlich die Schilder, die uns alle fünf Kilometer und nach gefühlten Ewigkeiten verkünden, wie weit es noch zum Ziel ist.
Oasen des Lichts und der Wärme sind gerade in der Nacht die Versorgungsstellen. Gut 700 Höhenmeter gewonnen und auch schon wieder einige verloren habe ich, als ich gegen 0:30 Uhr nach 51 km ins Schulhaus von Lenzerheide (1.473 m üNN) eintrudle. Sehr ruhig ist es und die Müdigkeit spricht nicht nur mir aus dem Gesicht. Mit den Energy-Drinks der Nacht, Cola und Kaffee, peppe ich mich auf. Wie viele andere stelle ich kleidungsmäßig von kurz auf lang um, steht doch der nächste Ausflug in die Hochlagen an. Der Gipfel des Weißhorn auf 2.653 m üNN ist unser höchster hochalpiner „Höhepunkt“.
Swiss Irontrail und Lenzerheide – das weckt bei mir Erinnerungen. Vor zwei Jahren startete hier vor dem Schulhaus um 14 Uhr der T41, der allerdings damals noch 48,2 km anstatt heute 42,3 km maß und heute ohnedies einen ganz anderen Verlauf hat. Gespannt bin ich, wie viel ich noch von dem alten T41 wiedererleben darf. Um es gleich vorweg zu nehmen: Am Anfang ist da erst einmal gar nichts. Verlief der T41 seinerzeit zunächst ziemlich bequem via Valbella zur Jochalp, so windet sich der Kurs heute außerhalb Lenzerheides über einen schmalen ausgesetzten Pfad sogleich steil den Hang empor. Ein gewisses deja vu gibt es trotzdem. 2009 war ich auf ebendieser Streckenpassage schon einmal unterwegs, wenn auch tagsüber. Damals führte noch der laut Eigenwerbung „härteste Marathon der Welt“, der Graubünden Marathon, von Chur via Lenzerheide zum Gipfel des Parpaner Rothorn. Leider hat diese Veranstaltung 2014 ihr Marathondasein ausgehaucht. Aber quasi „in memoriam“ folge ich hier und heute zumindest ein Stück weit seinen Spuren.
Mit Norbert aus Gröbenzell erkämpfe mir durch urwaldartig verschlungenen Bergwald hindurch den Steilhang. Gemeinsam geht das gleich viel leichter. Schließlich flacht der Weg ab und führt quer zum Hang entlang. Tief unter mir im Tal blicke ich auf die Lichter Lenzerheides. Ein großes erleuchtetes Gebäude taucht wie ein Leuchtturm in der Ferne aus dem Meer der schwarzen Nacht auf. Es ist nach 55 km die nachtruhende Mittelstation der Rothornbahn in Scharmoin auf 1.904 m üNN). Teilnehmer des Graubünden Marathon durften sich ab hier einst auf ein supersteiles Finale zum Rothorngipfel freuen. Für mich geht es auf nunmehr unbekannten, aber erst einmal nur langsam ansteigenden Naturwegen über die Almen weiter. Die Wand eines einsamen Gehöfts ist mit gigantischen Kuhglocken behängt. Von nah und fern höre ich das Dauergeläut der „aktiven“ Glocken durch die Nacht bimmeln.
Der Streckenplan hatte es schon angedeutet: Die Gemütlichkeit des Weges hat schnell ein Ende. Und über steinige, steile Pfade muss ich mich schon bald keuchend, gaaanz langsam, Schritt für Schritt unter Einsatz meiner Stöcke in die Höhe drücken. Es ist die Monotonie pur. Nichts ist zu sehen, nichts ist zu hören und ich habe keinerlei Gefühl von Raum und Zeit. Allmählich kühler und luftiger wird es und als der Anstieg irgendwann auf einmal endet, weiß ich zumindest: Ich bin am Urdenfürggli auf 2.546 m üNN angelangt. Unter mir müsste das einsame Urdental liegen, das ich aus 2013 in sehr schöner Erinnerung habe. Aber ich habe in der Dunkelheit keinerlei Vorstellung, wo das sein könnte. Immerhin weiß ich: Zwei Kilometer sind es noch bis zur nächsten Hütte. Schon bald sehe ich sie als winzigen Lichtpunkt in der Ferne. Aber es dauert noch bis 5:15 Uhr, bis ich nach 61 km die Hörnlihütte (2.511 m üNN) erreiche.
Echtes Hüttenfeeling erwartet mich allerdings nicht. Der Gastraum ist verschlossen und ich betrete einen bunkerartigen, kargen Gerätschaftsraum im Untergeschoss. Aber die einmal mehr überaus freundlichen und zuvorkommenden Helfer, die sich hier für uns die Nacht um die Ohren schlagen, der „gedeckte Tisch“ und die wohlige Wärme lassen schnell ein Wohlfühlklima entstehen. Ich lasse mir Zeit, plausche ein wenig. Und werde dafür letztlich belohnt, als ich mich erst nach einer halben Stunde wieder zum Abmarsch aufraffe.
Kühle Morgenluft schlägt mir vor der Hüttentür entgegen. Und ein atemberaubender Ausblick im ersten Morgenlicht. Ich blicke hinab in ein wie in Watte gekleidetes, wolkenüberwölbtes Tal, darüber zeichnet sich die dunkelblaue Silhouette der Bergketten vor dem noch blassen Himmel ab. Eine geradezu mystische Szenerie. Am Horizont erspähe ich auch schon, gar nicht viel höher, den Gipfel des Weißhorn mit der Bergstation der Seilbahn. Aber die drei Kilometer dorthin haben es in sich.
Leicht und beschwingt geht es zunächst über eine breite Naturstraße durch die Almen talwärts, mehr als mir lieb ist. Liftpfeiler und Schneekanonen zeigen: Hier geht’s im Winter rund. Aber jetzt umgibt mich nur Einsamkeit und Stille. Der Abstand zum Gipfel ist schon wieder auf 300 Höhenmeter angewachsen, da erst ändert sich das Profil des Weges. Als enger, steiniger Pfad führt er über den Abhang des Weißhorns steil aufwärts. Richtig steil. Die Aussicht, ganz oben vom Gipfel das sich mehr und mehr aufhellende Wolkendecke überblicken zu können, motiviert mich. Aber die Wolken wollen nicht so wie ich mir das vorstelle. Sie scheinen immer mehr nach oben zu wandern und einzelne Schwaden jagen schon gen Gipfel hinauf.
Dennoch: Mit zunehmender Höhe reicht der Panoramablick immer weiter. Von einem Grat aus blicke ich ins jenseitige Urdental, aus dem ich vor zwei Jahren über ebendiesen Grat aufgestiegen bin. Wie zu erwarten, ist auch dieses Tal durch eine Wolkendecke blickdicht verschlossen. Über den Grat führt der Pfad direttissma gen Gipfel, noch ein wenig steiler. Immer wieder muss ich inne halten, aber ein paar anderen einsamen Gipfelstürmern geht es nicht besser.
Von einem Moment auf den anderen ändert sich das Bild. Auf einmal kommen das Licht und die Farben. Die Sonne entsendet ihre ersten Strahlen in den Morgenhimmel. Und was ich jetzt erleben darf, ist …..
Kurz darauf stehe ich nach 64 km auf dem Gipfelplateau, mit 2.643 m üNN dem höchsten Punkt weit und breit. Die Bergstation glänzt silbern in der ersten Morgensonne. Die Almen tief unter mir leuchten in frischem, hellem Grün; die in der Ferne aus den Wolken spitzenden Berge zeigen ihr kontrastreiches Relief. Dazwischen breitet sich unter mir ein schier endloses Wolkenmeer in alle Himmelsrichtungen aus. Ständig in Bewegung sind die Wolken und doch bilden Sie einen kompakten, geschlossenen Körper.
Ungemein plastisch lässt die flach stehende Sonne die Konturen der Wolken erscheinen. Was für ein irrer Anblick! Ich bin hin und weg, wandere hin und her, nur nicht weiter. Schaut Euch die Fotos an und ihr werdet verstehen, welche Magie diese Momente ausüben. Dazu diese unglaubliche Ruhe. Keine Touristen, keine ratternde Bergbahn, ab und an ein versprengter Läufer, der sogleich wieder gen Tal verschwindet. Ich bleibe, denn etwas Schöneres werde ich heute nicht mehr erleben.
Aber irgendwann ist es dann doch so weit, auch wenn der Abschied schwer fällt. Es gibt noch etwas zu tun: 27 km liegen vor mir und die sind nicht von Pappe.