Petrus war ein Spielverderber. Bei der letztjährigen Erstaustragung des Swiss Irontrails hat er den Veranstaltern und Teilnehmern einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. In Foren und bei anderen Veranstaltungen wurde mir zugetragen, dass nicht nur Petrus ein unglückliches Händchen gehabt haben soll. Von zahlreichen Premieregästen habe ich darum gehört: „Ohne mich“.
Ich war nicht dabei und habe deshalb keinen Grund, nicht an der Zweitaustragung teilzunehmen. Die ursprüngliche Absicht, die Königsstrecke, den T201 mit über 11000 Höhenmetern, in Angriff zu nehmen, musste ich im Winter verletzungsbedingt begraben. Die Hoffnung, dass ich wenigstens für den T141 fit genug sein werde, gab ich nicht auf. Der Eiger Ultra Trail war meine letzte Standortbestimmung, mit welcher ich mir das grüne Licht gab für den Versuch, ein Irontrailer zu werden.
Das Konzept des Irontrail basiert darauf, dass die Harten in Pontresina starten und drei weitere Bewerbe sich unterwegs auf diese Strecke aufgleisen und somit alle in Davos das Rennen beenden.
Im Nachgang zu den letztjährigen Ereignissen sind die Startlisten schlank geblieben, auf der Strecke wird es kein Gedränge geben. Ich stelle mich auf zwei einsame Tage und Nächte ein.
Unser Start ist im Engadin am Fuße des Albulas, in Samedan. Vier Stunden Anreise sind das für mich, und das Gute ist, mit dem in der Startgebühr inbegriffenen Swiss Ticket kann ich ohne zusätzliche Kosten bequem mit der Bahn anreisen. Wer ab der Landesgrenze oder vom Flughafen anfährt und nicht im Besitz des Halbtaxabos (Schweizer Bahncard 50) ist, hat damit bereits die Hälfte des Startgeldes zurück erhalten.
Erster Prüfpunkt, wie gut man mit Streckenmarkierungen und Plänen umgehen kann, ist der Weg zur Startnummernausgabe. Die ist in der Promulins Arena. Wer nicht genau liest, bekommt statt der Startnummer einen Rollator in die Hand gedrückt – im Alters- und Pflegeheim Promulins nebenan.
Nach einem Nachtessen im gleichnamigen Restaurant, während dem wir uns ein paar Mal an die Fensterfront begeben , um einem vorbeiziehenden T201-Läufer die Aufwartung zu machen, hole ich die Startunterlagen und bereite die Dropbags zur Abgabe vor.
Überwachung für unsere eigene Sicherheit ist in aller Munde, da darf sie auch heute nicht fehlen. Zum Einsatz kommt ein GPS-Tracker, für den CHF 80.- Sicherheitsgebühr zu hinterlegen sind, von welchen bei der Rückgabe CHF 30.-Miete abgezogen werden. Ich bin gespannt, ob dieses Gerät die Erwartungen des OKs erfüllt. Meine bisherige Erfahrung damit beschränkt sich auf die Umrundung des Zürichsees bei The Wayve, wo zahlreiche Läufer in der Überwachung ins Nirvana entschwanden, da es dem kleinen grünen Frosch zu nass wurde, und ein Teilnehmer fast Heiligenstatus erlangt hätte, da er auf der Karte am heimischen Bildschirm plötzlich über den See wandelte.
Es ist eine ruhige, fast ernste Stimmung in der Halle. Viele kennen einander und unterhalten sich, erfragen sich noch letzte Tipps und Hinweise und applaudieren den sich hier verpflegenden Längstdistanzlern.
Eine Viertelstunde vor dem Start werden wir nach draußen gebeten, dorthin, wo im Winter die geschliffenen Kufen übers Eis flitzen. Nebst den Teilnehmern sind nur ein paar wenige Zuschauer zugegen, als um 20.00 Uhr der Startschuss gegeben wird. Im wieder einsetzenden Regen laufen wir los und hoffen, dass die letzte Vorhersage Gültigkeit hat und es tatsächlich um Mitternacht zu regnen aufhört.
Nach kurzer Zeit liegt Samedan schon hinter uns, das Dorf, das in meinem mittlerweile bald schon legendären historischen Lexikon der Schweiz so beschrieben wird:
SAMEDAN 1728 m. (…) Bedeutender Fremdenkurort. Bankgeschäfte. Das Dorf ist inmitten üppiger Wiesen reizend gelegen und hat mit seinen schönen alten und neuen Steinhäusern beinahe den Charakter einer Stadt. Neues Schulhaus. Die Pfarrkirche St. Peter ist im spätgotischen Stil gehalten und steht 10 Minuten vor dem Dorf. Krankenhaus des Kreises Ober Engadin, das zum grossen Teil aus freiwilligen Liebesgaben unterhalten wird. (…)
Das Krankenhaus in Samedan, Spital Oberengadin, wird inzwischen nicht mehr von Liebesgaben unterhalten und ist nicht nur der medizinische Stützpunkt, sondern auch der größte Arbeitgeber der Region. Mein fester Vorsatz ist, in diesen Tagen weder dieser noch ihren verwandten Institutionen im Bünderland Arbeit zu verschaffen.
In verhaltenem Tempo zieht die kleine, mit nur drei Läuferinnen durchsetzte Läuferkarawane hinein ins Bevertal, entlang der Albulabahnlinie, einem UNESCO Weltkulturerbe. Nach sieben Kilometern gibt es bei der Alp Spinas zu trinken, und während rechterhand die Bahnreisenden jeweils vom plötzlichen Dunkel des Albulatunnels verschluckt werden, entschwinden wir in die sich langsam über uns senkende Nacht. Noch etwas weiter hinten im Tal ist Palüd Marscha, von wo aus der Übergang ins Albulatal in Angriff genommen wird.
PALÜD MARSCHA Palüd, Ortsnamen vom latein. palus = Sumpf, Moor. Im Kt. Graubünden häufig anzutreffen.
Trotz des Regens ist der Weg ganz passabel und je mehr von den 400 Höhenmetern bis zur Fuorcla Crap Alv geschafft sind, umso mehr wünsche ich mir, dass es oben trocken und dafür am Boden sumpfig sei. Zum Regen gesellt sich nun noch ein bissiger Wind. Der Windchillfaktor ergibt zweifellos einen Wert unter dem Nullpunkt. Zu sehen sind im Schein der Stirnlampe der Weg und die Markierungen. Wie es ringsum aussieht, bleibt den Augen verborgen. Ein typischer Bergwanderweg führt hinab zur Albulapassstraße und auf die rechte Talseite. Unter den Füßen habe ich nun faustgroßen Alpenkalk, welcher sich daheim als Zierstein in den neuen Gabionen um den Gartensitzplatz herum so gut macht.
Bald wird die Talseite gewechselt und es geht mit angenehmem Gefälle hinunter zum Lai da Palpuogna.
PALPUOGNA (LAI DA) 1918m. Reizender kleiner und schmaler See, 400 m lang; s. der Alpweide Palpuogna und von ihr aus durch die Albulastrasse getrennt. Wird von einem aus S. kommenden Bach und der Albula gebildet, die bald nach ihrem Ausfluss bei Preda den schönen La Pischotta genannten Wasserfall bildet.
Ich bedaure, diesen landschaftlich wunderschönen Abschnitt nicht bei Tageslicht genießen zu können. So ist es immer eine Überraschung, wenn plötzlich wieder eine Brücke oder ein Viadukt der Albulabahn auftauchen. Je länger ich in die Nacht laufe, desto mehr geht die Regenintensität zurück. In der Einsamkeit der Nacht muss ich plötzlich grinsen. Es sind Bilder aus meiner Kindheit, die mich dazu bringen, Bilder einer nächtlichen Schlittelfahrt von Preda nach Bergün. Der Schlittelweg war wegen Schneemangels nicht offiziell in Betrieb und deshalb abends auch nicht beleuchtet, trotzdem fuhren wir nach dem Abendessen noch mit dem Zug nach Preda, legten auf eigene Faust los und ergötzten uns an den stiebenden Funken, wenn wir mit den Kufen im Karacho über eine apere Stelle bretterten.
Schon bei der zweiten Verpflegungsstelle nach 18 Kilometern in Naz freue ich mich am herzlichen Empfang und der liebevollen Betreuung durch die Helfer. Trotzdem bin ich ganz überrascht, wie ich in der schmucken Mehrzweckhalle in Bergün empfangen werde. „Setz dich hin. Was dürfen wir dir zum Essen bringen? Teigwaren, Bouillon mit Reis oder nur Bouillon? Magst du einen Kaffee?“ dazu die Einladung bei den sauber portionierten getrockneten Aprikosen, Erdnüssen, Bünder Nusstörtchen oder dem Brot, dem Käse und dem Bündner Trockenfleisch zuzugreifen. Einen solchen Service habe ich noch an keinem Anlass in dieser Aufmerksamkeit und Freundlichkeit erlebt. Ich ziehe den Hut!
BERGÜN (BRAVOUGN) 1364 m. (…) auf einer Terrasse am rechten Ufer des Albulaflusses (…) Bergün ist ein schönes und blühendes Dorf in schöner Lage. Seine Steinhäuser zeichnen sich durch ihre mächtigen Thoreinfahrten aus, durch die man in die hinter den Häusern gelegenen Ställe gelangt. Verschiedene Fassadenmalereien. Als Pferdewechsel der Post und Rastpunkt der Reisenden über den Albulapass hat Bergün seit jeher eine gewisse Rolle gespielt.
Mit einem leichten Rückstand auf meinen eher ambitionierten Zeitplan verlasse ich das stille Bergün. Welcher Gegensatz zu dem Vibrieren im Dorf, wenn der Swissalpine-Tross durch das Dorf zieht. Die Teilnehmer der C42 und K78 kennen die nun folgende Strecke in umgekehrter Richtung. Nach einem Anstieg schlängelt sich der Weg hinunter nach Bellaluna (in unseren K78-Berichten ausführlich beschrieben), wo das Haus zwar beleuchtet in der Nacht steht, das Wissen um seine Geschichte um diese Tageszeit aber trotzdem einen kleinen Schauer den Rücken hinunter schickt. Bis Filisur kann ich es auf der Schotterstraße rollen lassen. Einzig den großen Pfützen muss ich dabei ausweichen. Ich frage mich, ob das noch Überreste von Wolfgangs schweißtreibender Reporterarbeit in der Hitze des K78 sind… Genau genommen ist der nächste Kontroll- und Verpflegungsposten nicht in, sondern vor Filisur, dort, wo man beim Swissalpine nach dem Sägewerk über die gedeckte Holzbrücke auf die linke Talseite wechselt.
Die letzten fünfzig Meter vor dem Posten sind liebevoll beleuchtet. Leere Wasserflaschen wurden zu Windlichtern umfunktioniert und säumen den Weg. Auf gleiche Weise entlässt man uns in die weitere Nacht auf den nächsten Abschnitt, hoch nach Chamona d'Ela. Parc Ela ist auch der Name des „Regionalen Naturparks von nationaler Bedeutung“, in welchem wir uns befinden. Naturpärke wie der Parc Ela umfassen ursprüngliche Natur- und Kulturlandschaften. Die Bevölkerung eines Naturparks hat sich dazu entschlossen, das natürliche und kulturelle Erbe zu erhalten und respektvoll zu nutzen. Den Besucherinnen und Besuchern bieten Naturpärke echte Naturerlebnisse, faszinierende Geschichten, Kontakte zur Bevölkerung und den Genuss regionaler Spezialitäten.