Im Schulhaus gibt es wieder den gewohnten Rundumservice, diesmal zusätzlich garniert mit Bleifreiem aus Erding. Da sind Ultralauf-Verpflegungsprofis am Werk. Viel Substantielles, Magenverträgliches und nur ein Minimum an süßem, klebrigem Laborfutter. Mich freut das.
Nach 80 blasenfreien Kilometern in meinem Lieblingsschuh ziehe ich für den weiteren Weg einen neuen, gedämpfteren, besonders für einen 100Meilen-Lauf entwickelten Schuh an. Auch sonst frisch angezogen und gut verpflegt gehe ich weiter und verzichte darauf, den Ruheraum zu nutzen. Noch fühle ich mich ziemlich fit und wach und möchte in diesem Zustand noch möglichst viele Kilometer bei Tageslicht abspulen.
Erst geht es hoch nach Sporz, dann hinunter nach Lenzerheide, vorbei an Kirche und Schulhaus, einem vom Graubünden Marathon bekannten Fixpunkt. Weiter geht es am See entlang nach Valbella und an der rechten Talflanke hoch nach Foppa und zum Churer Joch. Die nun abgemähten, geheuten Wiesen sind im Juni jeweils noch ein Blumenmeer, doch so schön sonnig habe ich beim Graubünden Marathon diese Landschaft noch nie erlebt.
Aber auch diese Ablenkung kann die Tatsache nicht ausschalten, dass ich mittlerweile ganz schön müde bin. Die Bewegung des in der Abendsonne schon längeren Eigenschattens neben mir löst bei mir Gleichgewichtsprobleme aus. Immer mehr habe ich das Gefühl zu torkeln, dazu merke ich, wie sich die Augenlieder senken und ich die Augen verdrehe. Es ist eindeutig Zeit, eine kleine Pause für ein „power nap“ einzulegen.
So sanft die Straße zum Churer Joch auch ansteigt, es scheint noch eine Ewigkeit zu dauern, bis ich dort oben ankomme. So lange mag ich nicht warten. Ich setz mich auf die nächste Aussichtsbank, stelle den Wecker und lege den Kopf auf die Knie. Blitzartig tauche ich ab. Von vorne wärmt die Sonne und würde mich wohlig schlafen lassen. Von hinten geht ein leichter Wind, stark genug, mich am nass geschwitzten Rücken frösteln zu lassen. So packe ich schon nach zehn Minuten wieder den Rucksack und ziehe weiter, nicht ohne zu staunen, wie viel Energie diese Minischlafpause gebracht hat. Den langen und rustikalen Weg mit knackigem Gefälle hinunter nach Tschiertschen kann ich ganz ordentlich laufen, allerdings muss ich meine ganze Konzentration auf meine Beine und Füße richten und wohin ich sie bewege und setze. Ich bin ganz froh, dass Klaus Sobirey auf dem T41 seit Lenzerheide die Augen für unsere Leserschaft offen hat und hoffentlich mehr Details erwähnen kann.
Kurz vor dem Verpflegungsposten in Tschiertschen sitzt Carsten in Badeschlappen und mit einem Bier in der Hand vor einem Hotel. Er ist auf dem T81, macht hier Pause und läuft in den Sonnenaufgang hinein dann weiter. Er sei nicht so weit angereist, um nachts zu laufen und nichts von der schönen Bergwelt zu sehen… Eine entspannte Haltung eines Ultraläufers, möglich gemacht auch durch die nicht zu knappen Zeitlimiten.
Bis hierhin bin ich in meinem optimistischen Zeitplan geblieben, weiß aber, dass ich mich ab hier davon verabschieden muss. Ich bin schlicht zu müde, um im bisherigen Stil weiterzumachen. Ich hoffe, dass ich die 14 Kilometer bis Arosa trotzdem in vernünftiger Zeit bewältigen kann, wohl wissend, dass über 1300 Höhenmeter hinauf aufs Weisshorn ihren Tribut fordern werden.
An den ersten richtig steilen Stellen muss ich schon mal kurz eine Pause einschalten und gut durchatmen; anders kann ich den Körper nicht mit ausreichend Sauerstoff versorgen. Die ziemlich flache Schlaufe hinten ins Tal nach Usser und Inner Urden ist eine willkommene Verschnaufpause, bevor der Hammer gnadenlos zuschlägt. Kaum beginnt der steile Aufstieg aufs Weisshorn, werde ich so von Müdigkeit übermannt, dass mir beim Gehen die Augen zufallen und ich zu torkeln beginne.
Immer häufiger muss ich stehen bleiben, um durchzuatmen. Dabei stütze ich mich auf meine Stöcke ab und gleite jeweils sofort in einen Sekundenschlaf. Jetzt ist der Moment, in welchem auch ich als Genussläufer gestehen muss, dass das Abenteuer T141 nicht purer Genuss ist. Die Leidenskomponente erfahre ich nun gnadenlos. Irgendwann sehe ich das Licht der Bergstation und freue mich wie Bolle, dass der Gipfel bald erreicht ist. Dann dreht der Weg ab, das Licht entschwindet und der Weg windet sich nochmals eine gefühlte Ewigkeit nach oben, bis dann endlich die Bergstation erreicht ist.
Ich stelle den Wecker, setzte mich auf einen Stahlträger, lege den Kopf auf die Knie und schlafe augenblicklich. Nicht lange, denn mein aufgeheizter Körper kühlt ganz schnell aus. Kein Wunder, die Temperatur liegt unter dem Gefrierpunkt. Die beiden Streckenposten tun mir leid, sie müssen die ganze Nacht hier oben ausharren, wir haben immerhin die Aussicht, uns nach weiteren über 800 negativen Höhenmetern in Arosa in der Wärme ebenso verpflegen zu können.
In ihrem leicht gewärmten Aufenthaltsraum dürfen wir uns ebenfalls aufwärmen, ein bisschen geschmeidiger machen und mit zusätzlichen Kleidungsstücken versehen. Dann kann mich nichts mehr halten, ich habe nur noch ein großes (Zwischen-)Ziel: Der Ruheraum in Arosa.
Besonders der untere Teil der Strecke und der Weg durchs Dorf kommen mir endlos vor. „Bitte, bitte, bitte, lass mich endlich ankommen…“
In der Zivilschutzanlage gibt es wieder aufmerksamen, freundlichen Service. Ich bin gerade noch wach genug für einen Teller Teigwaren und ein alkoholfreies Bier, dann schnappe ich mir eine Wolldecke und schlafe blitzartig ein. Ich muss keine Angst habe, dass ich den Wecker nicht höre. Für den Fall ist vorgesorgt, denn ich werde von einem der Helfer geweckt.
Nach drei Stunden Qualitätsschlaf geht der Alarm los und ich schäle mich aus der Wolldecke. Gegenüber ist Christian gerade dabei, Claudio zu wecken. Mit ziemlich kleinen Augen gehe ich wieder unter die Leute und werde erst mal mit einem Kaffee beglückt. Dazu stärke ich mich mit Käsebrot und Bündner Nusstorte, dann brechen Christian, Claudio und ich auf zu unserem Sonntagsspaziergang nach Davos.
Die Strecke ist in der aufgehenden Sonne, in diesem anbrechenden Sommertag einfach schön. In Anbetracht der immer noch beruhigenden Zeitreserve nehmen wir es gemütlich, unterhalten uns mit Wanderern und Mountain Bikern, welche zum Teil kaum glauben können, wo wir gestartet sind. Im Wissen darum, dass es nachher nur noch abwärts geht und auf dem Talboden das Ziel ist, fühlt sich der letzte Anstieg zum Strelapass gar nicht anstrengend an. Noch fünf Kilometer zeigt das Schild an und die Unterlagen in der Bauchtasche nennen 800 weitere negative Höhenmeter, dann bin ich am Ziel.
Glücklich und zu meinem Erstaunen in guter Verfassung komme ich mit meinen beiden Begleitern dort an und überqueren wir die Ziellinie. Unser Finish wird mit einem tollen Laufrucksack (Ladenpreis CHF 100.-) gewürdigt und mit einem Alkoholfreien stoßen wir darauf an. Dass nach uns nicht mehr viele T141er ankommen, tragen wir mit Fassung, Finisher ist Finisher.
Der nächste Ultra ist das Umpacken des ganzen Materials, danach folgt einer unter der heißen Dusche.
Auf der Heimfahrt stelle ich jeweils den Wecker und bitte die Sitznachbarn, mich vor den Umsteigeorten zu wecken. „Es schläft“ einfach. Wenn es nicht so wäre, müssten die Alarmglocken schrillen, dann wären unerlaubte Hilfsmittel im Spiel.
Mir kommt es vor, dass in der Ultraszene ganz viele Läufer dem Swiss Irontrail keine Chance mehr gegeben haben. Nach der verunglückten Premiere ließen sie die Veranstalter ihrerseits im Regen stehen.
„Du hast keine Chance, nutze sie“, haben sich die Organisatoren des Swiss Irontrail gesagt und ich meine, dass ihnen das vorzüglich gelungen ist. Der T141 ist ein harter Brocken, den bei entsprechender Vorbereitung auch ein Durchschnittsläufer wie ich ohne Qual innerhalb der vorgegebenen Zeit beenden kann, unterwegs von den Markierungen sicher und eindeutig geleitet und von den zahlreichen Helfern (zwei auf drei Teilnehmer!) auf höchster Stufe verwöhnt wird.
Bis dahin wird es noch eine Menge Arbeit sein, doch der Appetit auf die ganz lange Strecke ist bei mir geweckt. Und nachdem, was ich in diesen drei Tagen erlebt habe, gibt es bei mir der Veranstaltung gegenüber keine Vorbehalte.