Viele Kilometer hat es gedauert, das Höhenniveau der Jochalp zu erreichen. Nur wenige benötigen wir, um sie wieder zu verlieren. 700 Höhenmeter stürzen wir auf den nächsten drei Kilometern ab. Aus dem breiten Naturweg wird ein schmaler Bergpfad, der sich zunächst durch das offene Gelände, dann durch den Wald nach unten windet. Eine kurze Erholung für die Oberschenkelmuskeln bietet die Fahrstraße zum Berglokal Furgglis, nur um beim Gefälle danach noch eins draufzulegen.
Schon von weit oben sehe ich im Tal einen wuchtigen Kirchturm durch das Nadelgehölz blitzen. Unser nächstes Ziel, Tschiertschen (1.313 m üNN), ist nahe. Fast schon im Sturzflug, die Baumstämme wie Slalomstangen umrundend, senkt sich der Pfad ab und nur Minuten später tauchen wir durch winkelige Gassen ein in den kompakten, von alten Holzhäusern in walserischer Bautradition geprägten Dorfkern. Typisch für Tschiertschen sind an fast allen älteren Häusern unter dem Dachgiebel Aussprüche, zumeist der Bibel entnommen, kunstvoll aufgebracht. Mittendrin ragt der trutzige, schon aus dem 15. Jahrhundert datierende Kirchenbau empor. Der ohne Zweifel stimmungsvollste Ort unserer kleinen Laufreise ist erreicht. Die zweite Verpflegungsstation verlängert unseren Aufenthalt auf angenehme Weise. Eine überaus freundliche Helferin bringt mir Bouillon mit Reis; Bündner Fleisch und Bergkäse ergänzen das Verpflegungsprogramm. Dazu haben wir fast wie von einem Balkon einen herrlichen Fernblick auf die Bergkulisse rundum. Hier lässt es sich aushalten!
Es lohnt sich auch aus anderem Grund, die Verpflegung in Tschiertschen ein wenig länger auszukosten. Denn nun geht es zur Sache: 1.300 Höhenmeter sind auf den nächsten neun Kilometern zu überwinden, vom tiefst- zum höchstgelegenen Streckenpunkt. Und das Profil zeigt nur in eine Richtung: rauf.
Auf unserem Weg über die Almen verabschiedet sich Tschiertschen mit einem letzten Panoramablick, ehe uns der Bergwald in Empfang nimmt. Der breite Naturweg setzt sich in einem ausgesetzten steinigen Pfad fort.
Mit zunehmender Höhe luftiger wird der Wald und auf einer Hochalm mit friedlich grasenden Kühen angelangt eröffnet sich eine wundervolle neue Perspektive. Ein mächtiger Berg türmt sich vor mir auf: Oben steil, schroff, unnahbar, über die faltigen Flanken grün ins bewaldete Tal auslaufend. Auf dem Gipfel ist winzig ein Gebäude auszumachen. Ich ahne sogleich: Da müssen wir hinauf, das muss er sein, der 2.653 m hohe Gipfel des Weißhorns. Nur wie? Denn über die Bergflanke vor mir sehe ich keinen Weg, der hinauf führt.
Der Wald endet und wir tauchen ein in ein zu Füßen des Weißhorns liegendes Hochtal. Tief unter uns rauscht der Urdenbach. Nurmehr leicht ansteigend führt der jetzt gut ausgebaute Naturweg immer tiefer in das Tal hinein und nähert sich dabei ganz allmählich dem Talboden an. Die karge, wilde Schönheit und Einsamkeit dieses Hochtales beeindruckt mich. Einerseits baumlos, andererseits vor allem im Talboden voll saftig grüner Almwiesen präsentiert sich die Landschaft. Inner Urden heißt die Stelle, an der wir in fast 2000 Meter Höhe auf ein einsames Gehöft am hinteren Ende des Tales treffen. Gleichzeitig erreichen wir den Wildbach, den wir hier über eine schmale Holzbrücke trockenen Fußes queren können. Als profilierter steiniger Pfad setzt sich unser Weg fort. Steil führt er den Hang hinauf, nunmehr wieder in Richtung Taleingang und damit dem Weißhorn entgegen.
Je höher wir kommen, desto weiter reicht der Blick über die Gebirgszacken und hinunter ins weite grüne Tal. Wie Wellen, unten sanft gerundet, oben harsch verklüftet, umschließen die Berge das Urdental. Als kleine Pünktchen sehe ich vereinzelt die Läufer umher ziehen. In den Genuss dieses Ausblicks komme ich öfter als mir lieb ist. Denn merklich geht mir in der Höhe die Puste aus. Auch wenn mich der "Gipfelsturm" (bei mir wohl eher ein laues Lüftlein ...) Kraft wie kein anderes Wegstück kostet, so ist der Weg durch und hinaus aus dem Urdental für mich der attraktivste Streckenabschnitt des T41. Hoch oben sehe ich immer wieder die Gipfelaufbauten blinken, aber kaum merklich nähere ich mich an. Unter Einsatz meiner Stöcke drücke ich mich Schritt für Schritt nach oben. Immer mehr öffnet sich der Horizont, blicke ich über ein Meer aus Bergen, aus dem das Weißhorn als eine der höchsten Erhebungen der Umgebung heraus ragt.
Endlich erreiche ich den Felsgrat unterhalb des Gipfels. Erstmals fällt mein Blick hinab ins Schanfiggtal jenseits des Weißhorns, dort wo Arosa auf uns wartet. Was für ein Ausblick. Im warmen Licht der Spätnachmittagssonne strahlen die Farben der Natur und selbst der graue Fels. Verstärkt wird der optische Eindruck durch scharf konturierte Wolken vor dem stahlblauen Himmel.
Irgendwie schaffe ich es dann doch, mich auf das Gipfelplateau und damit zum höchsten Streckenpunkt zu schleppen. Ziemlich genau die Hälfte unseres Kurses ist geschafft. Ein kleines Update meiner zeitlichen Hochrechnung bis zur Zielankunft sagt mir, dass ich es nun gerade so zum Mitternachtssnack schaffen könnte. Soviel vorweg: Selbst damit liege ich noch daneben.
Gekrönt wird der Gipfel durch das erst 2012 fertig gestellte futuristische Gipfelrestaurant im silbrigen Metallic-Look. Praktischerweise ist es direkt neben der Bergstation der von Arosa hinauf führenden Seilbahn positioniert, was schweißfreies kulinarisches Gipfelglück ermöglicht. Da die Bergbahn schon seit 17:30 Betriebsschluss hat, sind wir Läufer mit unserem schweißreich erkämpften Gipfelglück aber ganz unter uns. Und manchmal genügen selbst kleine Dinge, um das Glück zu perfektionieren, wie etwa hier, als es in der Bergstation außerplanmäßig kühles Wasser gibt. Aaaah, ist das gut! Denn meinen arg strapazierten Getränkevorrat hätte ich sonst erst beim nächsten offiziellen Versorgungsstopp fünf Kilometer weiter in Arosa auffüllen können.