Drei Becher Wasser, eine kurze Pause – und ich fühle mich wie neugeboren. Ein Gipfelfoto zum Abschied und los geht`s auf die Piste. Und das kann man wörtlich nehmen. Denn anders als die steile Bergflanke über dem Urdental ist die Arosa zugewandte Bergseite großräumig als Skigebiet mit allem Drum und Dran erschlossen: Liftanlagen, Berghütten, Fahrstraßen. Zunächst jedoch ist eine befestigte grobe Schotterpiste zu bewältigen. Steil führt sie hinab, schneebedeckt für Skifahrer sicher ein Heidenspass, für uns eine besondere Herausforderung. Ich lasse mir Zeit, und ausnahmsweise nicht, weil es nicht anders geht, sondern weil ich es will. Denn ich weiß: Eine schönere Bergstimmung wie von hier oben werde ich heute nicht mehr erleben.
Über eine gut ausgebaute Wirtschaftsstraße setzt sich unser Weg fort. In zahllosen Schleifen dreht sie sich durch die Almen hinab gen Tal. Immer länger werden die Schatten, doch weiter strahlen die westlichen Berghänge verheißungsvoll im Abendlicht. Das Gebimmel der Kuhglocken schallt von den Almen, ansonsten ziehe ich einsam meines Weges. Das Läuferband ist schon lange extrem dünn geworden.
Schon vom Gipfel aus war Arosa zu sehen. Und im läuferischen Bergab-Sturzflug rücken die Häuser schnell näher. Ab der hübschen Tschuggenhütte (1.991 m üNN) ist es nicht mehr weit. Der abendliche Schatten hat das Tal schon fest im Griff, als ich nach 29 km um 19:30 Uhr in Arosa (1.793 m üNN) einlaufe. Wunderschön ist die Lage dieses renommierten Wintersport- und Luftkurorts im tief eingeschnittenen, von allen Seiten von Bergen umgebenen Schanfigg-Hochtal. Viele schöne alte Häuser erinnern an die lange Historie dieses schon seit dem 13. Jahrhundert besiedelten Fleckens. Nur leider hat man gerade im Ortszentrum auch nicht auf neuzeitliche Bausünden verzichten können.
Prägende Elemente des Ortsbildes sind zwei Seen: Der Ober- und der Untersee. Beim größeren Obersee erwarte ich schon voller Vorfreude auf eine der wenigen großen Verpflegungsstationen des Gesamttrails. Irgendwie hatte ich gedacht, diese Station in malerischer Lage direkt am See vorzufinden. Aber da ist nichts zu sehen. So bin ich dann doch etwas überrascht, wo ich letztlich von freundlichen Streckenposten hindirigiert werde: In einen Zivilschutzbunker. Ja, die Schweizer und ihre Bunker – das ist ein Kapitel für sich.
Eine Helferin geleitet mich persönlich durch ein Gewirr stahltürenbewehrter Gänge ins Herz der bombensicheren Anlage: Hier ist für die Ankömmlinge ein geradezu oppulentes Buffet angerichtet. Pasta und Reis, Suppe, Wurst und Käse stehen ebenso im Angebot wie diverse Kuchen, Obst und Nüsse, selbst Kaffee, Tee und alkoholfreies Weißbier zu haben. Nicht schlecht! Da der T41 nur einmal die Gelegenheit zu solch oppulentem Mahl bietet, nutze ich das Angebot reichlich aus. Doch wie heißt es so schön: Gefüllter Ranzen läuft nicht gern. An sich wäre daher eine späte Siesta auf einem der Feldbetten, die für die Erschöpften in einer Art Chill Out Area bereit stehen, recht gewesen. Aber irgendwie ist das Ambiente doch nicht so heimelig. Hinaus zieht es mich an die frische Luft und ich atme tief durch, als ich um kurz nach acht im dämmrigen Abendlicht meine Lauftour fortsetze.
Durch den Schießhornwald führt der Weg noch ein Stück weiter bergab bis zum Stausee Isel. Im fast schon unwirklichen Türkis des Wassers spiegeln sich die von den letzten Abendstrahlen der Sonne erleuchteten Berggipfel.
Der folgende Anstieg, zunächst über Almen und dann auf einem überaus wurzeligen Pfad durch den Bergwald, fällt leichter als gedacht. Die Kühle der aufziehenden Nacht hat auch ihre Vorteile. Eine besondere Stimmung beherrscht die Stunde, bevor die Finsternis alles verschluckt. Noch ist alles gut erkennbar, auch wenn die Kontraste schwinden. In der Ferne erblicke ich immer mal wieder Arosa, umhüllt von dichtem Wald und in der Einsamkeit der Berge wie ein verwunschenes Dorf anmutend. Kaum merklich und doch unweigerlich senkt sich die Nacht über alles. Ein letztes Aufflackern der Helligkeit erlebe ich auf Höhe der Mederger Flue, als ich nahe der 2.000 m-Grenze aus dem Wald in die offene Almlandschaft hinaus trete und auf die steilen Felsabhänge über mir blicke. Einen letzten Farbtupfer setzt die Sonne am fernen westlichen Nachthimmel.
So lange wie möglich versuche ich ohne künstliches Licht auszukommen. Aber auf Höhe der Hütten von Merdergen um 21:30 Uhr geht es nicht mehr anders und ich ergebe mich der Nacht. Die Stirnlampe weist mir ab sofort den Weg.
Mehr denn je bin ich auf die Streckenmarkierungen angewiesen. Zunächst heißt es easy going auf einem breiten, bequemen und vor allem flach durch die Landschaft führenden Weg. Beschwingtes Laufen ist ausnahmsweise mal wieder angesagt. Spannender wird es, als wir auf einen schmalen, kurvigen und nicht immer klar erkennbaren Pfad quer durch die Almen abdriften. Konzentriert halte ich immer wieder Ausschau nach den reflektierenden Wegweisern, so konzentiert, dass ich nicht nur einmal in dicke weiche Pampe trete, von der ich auch ohne hinzuschauen weiß, was sie ist: Kuhsch..... Kein Wunder: Ich bin mitten im Kuhrevier und das Muhen ist das einzige Geräusch, das von allen Seiten durch die Nacht schallt.
Eine echte Herausforderung ist ein steiler Abstieg von der Chüpfer Alp hinab in die schwarze Tiefe. Keinerlei Vorstellung habe ich, wie tief es hinab und wo es weiter geht. Es ist schon ein seltsames Gefühl, aber auch ein besonderes Erlebnis, nur im Lichtkegel einer Lampe durch die nächtliche Bergwelt zu laufen, umso mehr, als nur selten ein anderes sich durch die Nacht bewegendes Licht auszumachen ist. Nicht minder beeindruckend ist, auch mal innezuhalten, die Lampe auszuschalten und nach oben zu blicken. Denn dort breitet sich ein Sternenhimmel aus, der so überwältigend ist, wie man ihn wohl nur in der klaren Höhenluft der Berge erleben kann.
Wie eine Lichtoase in der nächtlichen Wüste taucht bei km 41 in Jatz (1.831 m üNN) die letzte Verpflegungsstelle vor dem Ziel auf. Lecker ist die warme Bouillon. Die Stärkung tut gut. Nur noch sieben Kilometer liegen vor mir. Aber von diesen sind die nächsten beiden nochmals eine besondere Herausforderung. Denn Sie führen 500 Meter hoch hinauf zum Strelapass.
In Gedanken versunken stapfe ich auf einem breiten Forstweg vor mich hin, weiter und weiter nach oben. Als ich eine einsame Gruppe von Holzhäusern erreiche, stutze ich. Der Weg geht nicht weiter. Und eine Wegmarkierung ist auch nicht auszumachen. Wo bin ich? Ich gehe ein Stück zurück, sehe ein Stück Plastik am Zaun baumeln und denke nur: Hier ist also der Abzweig. Ich setze gerade an, diesem zu folgen, da schallt, wie aus dem Off, aus einer der Hütten eine Stimme durch die Nacht. Wohin ich denn wolle, fragt sie. Ich bin verdutzt. Der nächtliche Beobachter ahnt wohl schon, dass ich nicht hierher gehöre. Und so erfahre ich nach kurzem Palaver, dass ich dreihundert Meter zurück und dort den Abzweig nehmen müsse. Glück gehabt!
Und tatsächlich: Den Abzweig auf einen Wanderpfad hatte ich glatt übersehen, obwohl er zugegebenermaßen klar gekennzeichnet war. Der weitere Weg ist zum Glück nicht zu verfehlen. In der Ferne sehe ich in unterschiedlichen Höhen Lichtlein durch die Nacht tanzen. So habe ich zumindest ansatzweise eine Vorstellung, wohin ich mich zu orientieren habe. Wenig später bin ich selbst einer der Lichtleinträger, die stumm und schnaufend die steilen Felsstufen nach oben erklimmen. Das Ziel, der Pass, ist nicht auszumachen und so marschiere ich stoisch und schicksalsergeben vor mich hin. Es ist kurz vor Mitternacht, als ein seltsamer Lichtschein an einer Felswand mir das erste Signal gibt: Die Passhöhe ist erreicht. Im Licht eines starken Strahlers hocken vor dem auf 2.346 m üNN gelegenen Passhaus in Decken eingehüllte Wegkontrolleure und notieren unsere Startnummern.
Die letzten 800 Höhenmeter liegen vor mir. Aber die führen nurmehr hinab. Über die weite Strelaalp schlängelt sich der Pfad gen Tal. Nicht nur einmal komme ich vom Weg ab, aber hier habe ich kein Problem, mich richtig zu orientieren, zumal in der fernen Tiefe schon bald die ersten Lichter des nächtlichen Davos sichtbar werden. Mal im Galopp, dann wieder vorsichtig mit den Stöcken Gleichgewicht suchend, komme ich voran. Das dezent erleuchtete, prachtvolle Jugendstilhotel Schatzalp 300 Meter oberhalb der Stadt signalisiert uns, dass wir fast angekommen sind. Selbst um diese späte Nachtzeit fährt noch die Zahnradbahn hinauf. In langgezogenen Serpentinen führt von hier ein bequemer schnitzfigurengeschmückter Spazierweg durch den Rütiwald bis in die Stadt hinunter. Zwei-, dreihundert Meter muss ich noch durch die nächtlich verwaisten Straßen im Zentrum von Davos traben. Dann ist es geschafft.
Es ist 00:59 Uhr, als ich im Freigelände des Schulhauses Tobelmühle in Davos / Platz einlaufe. Ein paar Unentwegte spenden hinter dem hell erleuchteten Zielbogen freundlichen Beifall, ein Fotograf trotzt der nächtlichen Kälte und der späten Zeit und schießt von jedem Ankömmling ein Siegerfoto. Dass es jedes Mal ein besonderes Ereignis ist, wenn sich ein Finisher ankündigt, merke ich wenig später, als ich mit einem kühlen Zielbier bewaffnet selbst im Zielraum warte. Denn allenfalls alle zehn Minuten tröpfelt mal wieder einer ein.
215 Läuferinnen und Läufer, von insgesamt 334 Gestarteten und 425 Gemeldeten, werden es letztlich sein, die es binnen 20 Stunden – denn so viel trennt letztlich den ersten vom letzten Einläufer - über diese Zielline schaffen, darunter fast alle Starter des T41, nämlich 91, aber nur 30 Prozent bzw. 36 von denen, die den T201 gewagt haben.
Auch wenn der T41 nur ein Nebenbewerb ist und im Konzert der großen SIT-Traildistanzen als Junior bzw. Einsteigerlauf erscheinen mag: Er ist es nicht. Mit seinem attraktiven Kurs und deutlich über dem Anspruchsniveau "normaler" Bergmarathons liegend hat er für mich mehr das Zeug zu einem publikumswirksamen "Renner" für fortgeschrittene Bergläufer zu werden als die anderen Distanzen. Nur herumsprechen müsste sich das noch.