Im Dezember habe ich an drei aufeinanderfolgenden Samstagen je einen flachen Marathon in die Beine gehauen, zweimal sogar mit Distanzzugaben und bin deshalb guten Mutes, problemlos eine kürzere Strecke mit reichlich Höhenmetern laufen zu können. Auch wenn erschwerend dazu kommt, dass das auf weichem, aber ermüdendem Untergrund geschehen wird, nämlich auf Schnee.
Wenn man das Glück hat, aus Altersgründen am Freitagnachmittag nicht arbeiten zu müssen, dann kann man ganz locker zu einer solchen Laufveranstaltung fahren. Im Besonderen, wenn man sich auf der Anreise entspannt zurücklehnen kann, weil die lange Anreise unkompliziert mit dem Zug erfolgen kann. Dies sogar ohne zusätzliche Kosten, denn die Teilnahmegebühr des Swiss Snow Walk & Run in Arosa beinhaltet das Swiss Runners Ticket, mit welchem man von seinem Wohnort in der Schweiz, vom Flughafen-Bahnhof oder einem der Grenzbahnhof an den jeweiligen Veranstaltungsort reisen kann.
Ein paar Tage vor dem Lauf kam eine Mail mit der Mitteilung, dass die Strecke des Weisshorn Snow Trails nicht gänzlich auf der vorgesehenen Strecke durchgeführt werden könne. Dies bedeute, dass nur sehr gut trainierte Athleten die durch Tiefschnee führenden Wege in Angriff nehmen sollten, zudem gelten ein verkürzter Cut Off, der Wegfall eines Verpflegungspostens und die eingeschränkte Erreichbarkeit dieses Abschnitts für Rettungsdienste. Das Mitführen eines Mobiltelefons, um im Notfall die Rettungsflugwacht alarmieren zu können, sei Pflicht.
«Du bist ja richtig vernünftig», hieß es zu Hause, als ich die vorgeschlagene Ummeldung auf eine andere Strecke in die Wege leitete…
Eigentlich wollte ich noch eine offene Rechnung mit dem Weisshorn begleichen. Vor über sechs Jahren hat es mich in der zweiten Nacht des Irontrail – der mittlerweile sang- und klanglos von der Bildfläche verschwunden ist – fast in die Knie gezwungen. Was habe ich mir an diesem Aufstieg die Zähne fast ausgebissen. Im vergangenen Jahr wollte ich ihm Paroli bieten und es zu einem Winterwunder-Geschenk an mich zwingen. Der Aufstieg im dichten Nebel war dann anders als erhofft.
Mit der zugeschickten Startnummer für die ursprünglich gemeldete Strecke gehe ich zum Startgelände, um mich in das Feld der Halbmarathonis einzureihen. Bevor es aber so weit ist, gibt es noch Aufwärmen mit Musik und Prominenz. Die Fraktion aus dem Unterhaltungsfernsehen ist mir nicht so bekannt, spannender sind für mich die aus dem sportlichen Umfeld, und die kommen aus verschiedensten Sparten.
Es ist 10.35 Uhr und der unmittelbare Startbereich liegt noch im Schatten, da preschen die Unbeirrbaren los und nehmen den Aufstieg aufs Weisshorn in Angriff. Fünf Minuten später sind die Halbmarathonis dran. Inmitten der schwarzen Startnummern sind auch viele grüne zu sehen, ich bin als Ummelder also in guter Gesellschaft. Anhand der nicht personalisierten Startnummern ist ersichtlich, dass es zahlreiche Nachmeldungen gab. Kein Wunder, wenn die Wettervorhersage einen solchen Prachttag ankünden kann.
Rund um den Obersee geht es am Bahnhof vorbei in die erste Steigung, in deren Verlauf ich bereits die Jacke ausziehe und auf den Rucksack schnalle. Es ist recht mild und obwohl es die erste Januarhälfte ist, wärmt die Sonne ganz ordentlich. Es geht an Ferienimmobilien vorbei, deren Eigentümer sich kaum über Armut Gedanken machen müssen. Es sei ihnen gegönnt, schließlich darf ich mein größtes Geschenk genießen, meine Gesundheit, die mir erlaubt, an solchen Erlebnissen teilzuhaben.
Bald schon führt der Weg durch den Wald, bis wir auf eine Straße kommen, unter welcher die Skipiste durchführt. Es ist nur eine kurze Strecke, auf der kein Schnee unter den Sohlen knirscht. Entlang der Talabfahrt geht es hoch, um dann wieder auf einen Waldweg abzubiegen. Die Vormittagssonne, die uns durch den Nadelwald zuzwinkert und die frische Luft tun einfach gut. Beim Tschuggentor geht es hinaus aus dem Wald und damit eröffnet sich das Panorama, welches uns lange im Blickfeld bleiben wird. Dass wir die Baumgrenze überschritten haben, könnte ich als Flachlandindianer auch mit geschlossenen Augen bestätigen. Höhentraining wäre auch wieder einmal eine gute Idee.
In der sonnengefluteten Landschaft unter dem blauen Himmel habe ich das Gefühl, es habe die vergangenen beiden Male länger gedauert, bis die Tschuggenhütte in die Nähe kommt. „The Legend“ ist auch unterwegs. Christoph, der älteste UTMB-Finisher, der in diesem Jahr seinen 78-sten Geburtstag feiert, will es wieder wissen. Für ihn war die Ummeldung auf eine andere Strecke keine Option, er will hoch aufs Weisshorn.
Ein Jahr älter als er war ein Aroser Urgestein, das vor wenigen Tagen seinen Verletzungen erlegen ist, die er sich bei einem Flugunfall an dieser Stelle kurz vor Jahresende zugezogen hatte. Ruedi Homberger, Fotograf, Gletscherpilot, Alpinist und geachtete Person in Arosa hat für die Region mit seinen wunderschönen Bildern ein Vermächtnis hinterlassen, welches unter anderem in Hans Danusers Standardwerk über die Gegend Bestand haben wird.
Bei der Tschuggenhütte gibt es die erste Zwischenzeitmessung und einen Verpflegungsposten. Die Höhenluft verlangt nach Flüssigkeitszufuhr, bevor auf dem Weg zur Mittelstation der Luftseilbahn Arosa-Weisshorn eine Skipiste und ein Skilift gequert werden müssen. Kurz vor der Mittelstation verzweigen sich die Strecken. Ich darf links in Richtung Carmennahütte. Auf dem Winterwanderweg sind viele Spaziergänger unterwegs und mehr noch als in den vergangenen Jahren fällt mir an diesem sonnigen Tag auf, dass Arosa nicht nur Skifahrern und Snowboardern eine reiche Auswahl an Möglichkeiten gibt, sich in der frischen Winterluft zu bewegen.
Die Begegnungsstrecke zur Carmennahütte lässt mich als Läufer im hinteren Teil des Feldes teilhaben am Lauferlebnis der weiter vorne Klassierten. Am Wendepunkt gibt es eine weitere Zeitkontrolle und einen Verpflegungsposten. Zum Glück habe ich mir keine Zeitvorgabe gesetzt. Spätestens jetzt würde ich sie über den Haufen werfen, denn ich muss mir einfach Zeit nehmen, diesen herrlichen Wintertag in mich aufzusaugen. Wer weiß, wie lange ich davon zehren muss, bis mir wieder Ähnliches geboten wird.
Nun geht es zurück zur Abzweigung der Begegnungstrecke und dann in zahlreichen Schlaufen und Bögen hinunter nach Inner-Arosa. Die Verlockung ist groß, es abwärts krachen zu lassen, aber ich will kein Risiko eingehen und mir wieder eine Muskelverletzung einzuhandeln. Ich bin zwar wieder dabei, jedoch fehlt mir noch die Beweglichkeit, die ich gerne hätte.
Damit es nicht zu locker ist, gibt es immer wieder Gegensteigungen und das ist gut so. Jeder Lauf bis im Frühjahr ist für mich Training für mein großes Vorhaben, am Istria100 über die volle Distanz zu starten. Dazu brauche ich nur einen guten Kilometerumfang, sondern auch Höhenmeter, die mir derzeit noch fehlen.
Die linke Schleife der liegenden Acht, welche die Strecke beschreibt, ist bald geschafft und es geht wieder hoch zur Tschuggenhütte. Diesmal ist eine der Guggenmusiken, welche den Arosa Snow Walk&Run neben der Strecke bereichern, im lautstarken Einsatz. Mit dem zweiten Becher Iso trolle ich mich zur Kilometertafel und entschließe mich, nochmals zum Verpflegungsposten zurückzukehren und mir nochmals nachschenken zu lassen.
Bei der Mittelstation biege ich nun auf die rechte Schleife der Acht ein. Da oben ist Betrieb. Kaum vorzustellen, dass sich vor vielen Jahrzehnten im Winter hier nur Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Die Zeiten ändern sich und aller guten Dinge sind drei. Heute gehört auch der Bär dazu. Die echten, von Tierschützern geretteten und das Bärenland Arosa bewohnenden halten den Winterschlaf und dennoch steppt der Bär. Skifahren gibt Hunger und Durst und dagegen wird kräftig angekämpft – begleitet von wummernder Musik. Ob mich das nervt? Nein, ich bin da mittlerweile ganz entspannt, solange ich die Wahl habe, daran teilzuhaben. Meine Wahl wäre diejenige, die ich dank meiner Teilnahme am Halbmarathon gar nicht treffen muss. Ich laufe hinaus in die Ruhe der Natur.
Spaziergänger und Nordic Walker sind mehr und mehr meine Begleiter. Vor Jahren hätte ich mich darüber aufgeregt, dass die Nordic Walker tendenziell die ganze Wegbreite beanspruchen, nun kann das dem herrlichen Tag und meiner Stimmung keinen Abbruch tun. Locker trabe ich hinunter nach Maran, wo nochmals Wasser gereicht wird. Ein Schild kündigt das Ziel in 3,4km an. An dieser Stelle muss dem Schreibkünstler der liegenden Acht der Stift ausgerutscht sein. Der Weg führt tief in die Eingeweide der rechten Schlaufe hinein und dreht dann um 380 Grad. Zuerst geht es abwärts, um nach der Drehung nochmal einen Effort zu verlangen. Bis zu dem Schild, welches das Ziel in einem Kilometer ankündigt, steigt der Weg wieder an.
Der letzte Kilometer ist verlockend für einen Schlussspurt. Hinunter geht es von allein, in jeder Beziehung. Ohne dass es optisch einen Unterschied zu dem vorher schon belaufenen Untergrund gibt, rutsche ich ohne Vorwarnung aus und es haut mich heftig auf mein Hinterteil. Die Kamera ist voller Schnee, ich drossle das Tempo. Wenig später warnen Streckenposten vor einer vereisten Stelle, doch für diese ist auch meine reduzierte Geschwindigkeit noch zu hoch. Nachdem ich mich zum zweiten Mal aufgerappelt habe, nehme ich den Rest wie auf Eiern unter die Füße.
Im Zielbereich sehe ich ausnahmslos fröhliche, glückliche Gesichter, egal in welcher Kategorie die Leute gestartet sind. An der Organisation gibt es sowieso nichts auszusetzen - und wenn die Veranstaltung dann noch so von Petrus verwöhnt wird, muss man ein gehöriger Griesgram sein, um in der Suppe ein Haar zu finden.
Eine prominente Sportlerin hat Arosa nicht nur mit ihrem Besuch beehrt, sondern gleich die Damenwertung der Weisshorn Snow Run gewonnen. Na, ja, wer weiß, dass Emma Pooley, viermalige Weltmeisterin auf der Duathlon-Langdistanz ist, dürfte nicht allzu sehr verwundert sein.
Einen anderen Promi-Sportler, der nationale und internationale Titel in Serie eingeheimst hat, der Radfahrer und Bahnspezialist Franco Marvulli, frage ich, ob ich durch die Ummeldung auf die Halbmarathondistanz etwas verpasst habe. «Und wie», sagt er, zückt sein Handy und zeigt mir wunderbare Bilder von unterwegs zum Gipfel hoch.
Beim dritten Anlauf habe ich den Snow Walküren dank des fabelhaften Wetters in seiner ganzen Schönheit erlebt und könnte sagen: «Gut ist!». Aber mit dem Weisshorn habe ich immer noch eine Rechnung offen und da Mathematik nicht zu meinen stärksten Fächern gehört, habe ich kein Problem damit, aus der Drei eine Vier zu machen.