«Ich hasse Winter!» Diese Aussage stammt von mir, dazu stehe ich, muss jedoch anmerken, dass sie nicht absolut zutrifft. Wenn man, wie das bei mir der Fall ist, an einem Ort wohnt, an welchem ich in einem Winter einmal während sechs Wochen nicht ein einziges Mal die Sonne gesehen habe, während über der Hochnebeldecke herrlichstes Wintersportwetter herrschte, ist dieser verbale Ausbruch sicher nachzuvollziehen. Oben grau, unten braun, das ist nicht mein Ding. Wenn schon Winter, dann bitte mit Schnee, der das wenige Licht intensiviert – und wenn es sein darf, gerne mit Sonne.
Mit der Aussicht, dass ich eine gute Ladung Weiß bekommen würde, war die Anmeldung für den Swiss Snow Walk & Run in Arosa reine Formsache. Zum Zeitpunkt der Anmeldung war ich sicher, dass ich zu diesem Zeitpunkt endlich wieder im Kreis der aktiven Läufer bewegen würde, konnte aber nicht abschätzen, mit wie viel Kondition ich anreisen würde. Auch aus diesem Grund war der SSWR gerade richtig, zumal im Rahmen der Veranstaltung zahlreiche Strecken angeboten werden und ich gute Erinnerungen daran habe. Vor zwei Jahren lief ich die längste dort angebotene Distanz, den Halbmarathon.
Für die Anreise gibt es für mich nur eine Wahl, die Bahn. An diesem Wochenende liegt ausnahmsweise auch im Flachland Schnee, womit die Straßen mit eher unliebsamen Überraschungen aufwarten könnten. Und dann gibt es einen besonderen Trumpf, der mir die Wahl einfach macht. Der Swiss Snow Walk & Run ist die erste von 17 Laufveranstaltungen in der Schweiz in diesem Jahr, bei welchen das Swiss Runners Ticket angeboten wird. Das bedeutet nichts Geringeres, als dass im Startgeld die Anreise vom Wohnort inbegriffen ist - alternativ von der Landesgrenze oder einem der Flughäfen. Dieser Service führt dazu, dass viele Teilnehmer faktisch einen Freistart genießen.
Der Blick aus dem Zugfenster am späten Nachmittag oder frühen Abend ist nicht einfach digital. Schwarz und weiß ist wo anders und hier gibt mehr schwarz auch nicht dunklere Grautöne. Je später und dunkler es wird, umso näher komme ich meinem Reiseziel und umso mehr Weiß türmt sich draußen auf – und es schneit weiter. Ich liebe Winter!
Für einmal bin ich ganz vorne dabei. Der Weisshorn Snowtrail ist der erste Bewerb in der heutigen Startreihenfolge. Zuvor konnte man sich bei einem Warm-Up mit ehemaligen Bachelors und Bachelorette auf Betriebstemperatur bringen. Nicht so im Rampenlicht stehen in dem Moment ein paar Spitzensportler, von welchen meinerseits das Interesse besonders einer Person galt. Während über irgendwelche Fußballer oder Skifahrer spaltenweise Platz im Sportteil der Zeitungen ist, werden die großen Erfolge der OL-Läuferinnen und Läufer leider immer sehr dezent mitgeteilt. Judith Wyder gilt daher meine besondere Aufmerksamkeit. Bis zu ihrem Rücktritt im vergangenen Herbst hat sie 21 Medaillen an Europa- und Weltmeisterschaften geholt, davon waren elf in Gold!
Ich überquere die Startlinie als Letzter und versuche ein Gefühl für das Laufen auf Schnee zu bekommen. Nach der Runde um den Obersee, dem Bahnhof entlang, führen ein paar Kurven hoch in einen der zahlreichen Spazierwege im Wald oberhalb Arosas. Im Sommer kann man hier Begegnungen der besonderen Art machen. Auf dem Eichhörnchenweg kann es durchaus geschehen, dass eines der handzahmen, putzigen Tierchen sich auf die Schulter setzt. Die jetzige Winterruhe sei ihnen gegönnt, denn sogar ich mit meinen nicht ausgesprochen kurzen Beinen spüre, was auf mich wartet. Der frische Schnee lässt mich bei jedem Schritt einsinken und fordert die Muskulatur.
Der Gegenverkehr - schön richtungsgetrennt – besteht aus Skifahrern und Snowboardern. Oberhalb der edlen Herbergen geht es weiter durch den Wald. Nach dem Nobelhotel Tschuggen steigt der Weg stärker an und bringt uns zum Verpflegungspunkt bei der Tschuggenhütte. Empfangen wird die Läuferschar von einer der zwei Guggenmusiken, welche im Einsatz stehen.
Ohne Ordner funktioniert der nächste Kontakt mit Querverkehr. Es gilt das Trassee eines Bügellifts zu kreuzen. Den Skifahrern kommt diese Begegnung in ihrem Gelände vermutlich seltsamer vor als uns Läufern. Ich für meinen Teil, als ehemals Süchtiger in Sachen Skifahren, kann problemlosmit der Situation umgehen und möchte keineswegs wechseln.
Die Mittelstation der Weisshornbahn kommt in Sichtweite. Vor zwei Jahren habe ich die Abzweigung des Halbmarathons nach links genommen, jetzt geht es geradeaus. Rechts ist das tiefverschneite Bärenland zu sehen. Die ergiebigen Schneefälle haben auch Konsequenzen für die neue Touristenattraktion. Das Außengehege des Bärs Napa bleibt aus Sicherheitsgründen bis auf weiteres geschlossen, wie das Unternehmen mitteilt. Der Grund: Weil das Gehege nach Messung vor ein paar Tagen mit mindestens 160 cm Schnee eingedeckt sei, werde dadurch die kritische Höhe gemäß Sicherheitskonzept erreicht. Napa kümmert das nicht. Er hat Ende November seine Winterruhe angetreten.
Diese Einrichtung, deren Verwirklichung einige Jahre gebraucht hat, bietet seit vergangenem Jahr vorerst einem von der Tierschutzorganisation «Vier Pfoten» geretteten, unter katastrophalen Verhältnissen gehaltenen ehemaligen serbischen Zirkusbären ein naturgerechtes Daheim. Als ausgesprochener Tierfreund spüre ich eine besondere Nähe zu der von unserer Spezies so gequälten Kreatur und freue mich für Meister Petz.
Zwischen einem Pulk von Bebretterten hindurch geht es weiter. Auf dem Weg unterhalb des Arlenwaldes kann ich es, im Rahmen der von der Schneemenge vorgegebenen Bedingungen, schön rollen lassen. Winterwanderer, mit Schlitten für den Rückweg ausgerüstet, kommen uns entgegen.
Fast die Hälfte der Strecke steht auf dem Zähler, als die Abzweigung kommt. Die folgenden drei Kilometer sind sanft ansteigend, und der Blick über die Landschaft zeigt mehr und mehr einen in der Höhe festhängenden Nebeldeckel. Aber allein schon der viele Schnee und die entsprechend geschmückten Tannen machen das Wintererlebnis perfekt.
Als kleiner Fixpunkt steht zu Beginn des steiler werdenden Aufstiegs ein Schild mit der Angabe 11km. Die Schritte werden ab hier nicht nur wegen der Steigung beschwerlicher, mit zunehmendem Eintauschen in den Nebel kommt die Schwierigkeit der Raumorientierung dazu. An ganz steilen Stücken habe ich deswegen – und nur deswegen – Gleichgewichtsprobleme. Der zunehmenden Höhe geschuldet sind die kurzen Pausen zum Durchatmen, die ich einschalte. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal in Höhenlagen über 2000m sportlich betätigt habe. Vielleicht müsste ich daheim eine Klimakammer bauen, in welche ich das Laufband stellen kann…
Da sich die Aussicht auf die Läufer vor und hinter mir beschränkt, konzentriere ich mich ganz auf einen Schritt nach dem anderen, und lasse mich überraschen, wie lange es dauern wird, bis die Sattelhütte auftauchen wird, wo es nochmals eine Verpflegungsstelle gibt. Ich bin froh, dass ich dem Rat des Veranstalters gefolgt bin und selbst etwas zu trinken dabeihabe. Die braune Brause im Rucksackfach ist mittlerweile zwar auch nahe dem Gefrierpunkt, ich bereue es aber nicht, sie mitgetragen zu haben.
50 Minuten vor dem Cut Off passiere ich die Zeitmessmatte. Die Gels beim Verpflegungsposten sind perfekt vorbereitet. Nachdem sie im warmen Wasser temperiert wurden, werden sie uns geöffnet gereicht. Dazu ein paar Energiekissen und angenehm gewärmten Sirup, von welchem ich mindestens drei Becher in mich hineinschütte.
Bis ins Ziel sind es nur noch rund eineinhalb Kilometer. Ein kleiner Schritt im Flachland, ein großer Sprung in den Bergen. Die 250 Höhenmeter fordern die letzten Kräfte und an einer Stelle im Oberschenkel will die Muskulatur immer wieder zu krampfen beginnen. Dann taucht der Weisshorngipfel (2653 m) auf und all die Mühen weichen der Freude, dass ich endlich wieder einmal Teil eines Traillaufs sein konnte und diesen ohne Schmerzen und Blessuren ins Ziel brachte.
Auf dem Weg zur Gondel gibt es heiße Brühe und den Schweizer Softdrink-Klassiker Rivella. Diesen aber schon fast als Slush…
Ich entledige mich der zwei oberen nassen Kleiderschichten, ziehe mir etwas Trockenes über und fühle mich wärmer als vor über fünf Jahren, als ich mich in der zweiten Nacht des Irontrail 141 um Mitternacht völlig übermüdet hier oben hinsetzte und schon nach kurzer Zeit schlotternd aus meinem Schlummer erwachte.
Auf der Fahrt hinunter nach Arosa, ins Tal der Plessur, wird die Sicht klarer und klarer. Ich gehe zurück zum Wettkampfzentrum in der Eishalle, hole mir einen großen Teller dampfende Nudeln und lausche den Klängen einer Dixie-Formation. Es gibt noch verschieden Verlosungen. Zweimal durfte Judith Wyder Glücksfee spielen, sicher ein gutes Omen, nachdem sie den Weisshorn Snowtrail souverän für sich entschieden hat. Wir können weiter mit ihr im Spitzensport rechnen, denn, wie sie mir verraten hat, ihr Hauptaugenmerk wird den Bergläufen gelten, wobei sie als Obergrenze die Marathondistanz sieht.
Während ich in der Halle sitze, dringt immer helleres Licht durch die wenigen Fenster. Und in der Tat, als ich mich auf den Weg zurück mache, grüßt mich Sonne pur. Es war ja auch ohne schön, aber wenn ich mir vorstelle, wie der Lauf bei solchen Bedingungen in der Höhe gewesen wäre, überkommt mich ein Schauer. Irgendwann wird es schon noch klappen; so habe ich weiter gute Gründe, wieder an den Swiss Snow Walk & Run zu kommen.
Statt wie üblich gleich den Heimweg anzutreten, darf ich zurück ins Hotel, eines von den Partnerhotels, welche den Läufern besondere Packages anbieten, und dort nach entspannenden Saunagängen bei einem gepflegten Nachtessen meine Kalorienbilanz ausgleichen.
Für Liebhaber des echten Winters kann ich Arosa bestens empfehlen. Die zahlreichen Winterwanderwege bieten uns Laufsportlern beste Gelegenheit, ihrer Leidenschaft als Wintersportversion zu frönen. Für Après-Ski kann man auch ohne vorheriges Skifahren aufkreuzen – mit einem lockeren Läufchen zu einer der Hütten.