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21.07.18 - Swissalpine (Prolog)

Engadin Trail: Anspruchsvoller Auftakt

Wenn ich vor anderen Läufern vom Swissalpine Lauffestival schwärme, bekomme ich häufig Gegenwind: Es wäre zu teuer, zu überlaufen und man läuft ja eh nur auf einer Bergautobahn. Ich bin da persönlich zwar völlig anderer Meinung, kann aber den Kritikern nun auch noch einen ganz anderen Lauf ans Herz legen: Den Engadin Trail (T43) als Prolog zum Swissalpine. Er findet am Wochenende vor dem Main Event statt und soll laut Veranstaltern das Laufspektakel eröffnen.

Um es vorweg zu nehmen: Mit dem Swissalpine, wie ich ihn kenne, hat dieser Lauf nur wenig gemeinsam. Man läuft von Samedan nach St. Moritz und über Pontresina wieder zurück. Aber Vorsicht: die Ausschreibung will aufmerksam gelesen werden. Auf 43 km kommen 2.550 Höhenmeter rauf und runter zusammen. Norbert und ich haben über 2.700 HM auf der Uhr, ein Laufkollege sogar über 2.800. Das ist auf einer Marathonrunde schon ganz schön happig.

Die Trails sind zum Teil sehr steil und kosten Zeit. Die Zeitlimits an den 4 VPs sind deshalb durchaus sinnvoll, um ein Finish bei Tageslicht zu gewährleisten. Auch die Verpflegung ist nicht so üppig, wie man es vom K78 oder K42 her kennt, sondern reduziert, wie beim Trailrunning üblich. Bis zu 16 km liegen zwischen den Stationen, das kann für langsamere Läufer richtig eng werden.

Norbert und ich nutzen den Freitag, um uns einen Überblick zu verschaffen. Wir fahren mit der Rhätischen Bahn nach St. Moritz. Gleich der erste Eindruck ist überwältigend. Der Bahnhof liegt zu Füßen des mondänen Orts direkt am See. Über den Aufzug bzw. Rolltreppe kommt man wahlweise nach St. Moritz Bad oder Dorf. Wir entscheiden uns für das auf 1856 Höhe gelegene Dorf.

 

 
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St. Moritz gilt als Geburtsort des alpinen Wintertourismus. Bereits 2 Mal wurden olympische Spiele (1928 und 1948) sowie zahlreiche Bob- und Skiweltmeisterschaften ausgetragen. Wegen seiner Heilquellen ist St. Moritz auch als Kurbad geschätzt und zog schon früh die High Society in die Berge. Norbert ist fasziniert von den PS-starken Karossen, die vor den Hotels geparkt sind, ich wiederum von den Schaufenstern, wo bei den Auslagen allerdings meist die Preise fehlen. Nach einem kurzen Rundgang verlassen wir die Welt der Schönen und Reichen mit der Rolltreppe nach unten.

Pontresina kommt dagegen eher unscheinbar daher. Der Bahnhof liegt relativ weit vom Zentrum entfernt. Auf die bereitstehende Pferdekutsche verzichten wir trotzdem und machen uns zu Fuß auf den Weg. Der auf 1800 Hm gelegene Ort war früher Anziehungspunkt für Bergsteiger aus aller Welt. Heute ist es laut Reiseführer für Familien und deren Bedürfnisse ausgelegt. Erst als wir uns im stark befahrenen Ortszentrum einmal umdrehen, erkennen wir die Nähe zum atemberaubenden Bernina Bergmassiv.

Unser letztes Ziel ist das 1720 m hoch gelegene Samedan, gesprochen „Sameden“ mit Betonung auf der zweiten Silbe. Es ist der Oberengadiner Hauptort und hat sogar den höchsten Verkehrsflughafen Europas. Highlight ist aber der urige Dorfkern mit den alten, sehr gepflegten Engadiner Häusern. Mir fällt auf, dass wir sofort überall gegrüßt werden. Sehr ungewohnt, aber schön. Unser historisches Hotel liegt direkt neben der Kirche. Steile Treppen, knarrende Dielen und altes Möbiliar zum einen, neu renovierte Zimmer mit allem Schnick und Schnack zum anderen. Wir fühlen uns gleich wohl.

Die Startnummern gibt es Freitag ab 18 Uhr in der Promulins Arena auf der anderen Seite des Bahnhofs. Die 2012 gebaute Anlage besteht aus Fußballarena mit Hartplatz, Beachvolleyballfeld, Skaterpark, Kletterhalle, Fitnessraum, Tennisplätzen, Minigolf, Kinderspielplatz und im Winter einer Kunsteisbahn. Hier begegnet uns der erste Hinweis zum Swissalpine in Form von Wegmarkierungen.

In der Sporthalle geht es gemütlich zu. Wir sind zwar zu früher dran, dürfen aber trotzdem unsere Startnummern schon in Empfang nehmen. Die bereitgestellten Funktions-Shirts sind jedoch für die Teilnehmer der kürzeren Läufe, wir bekommen unseres erst im Ziel. Neben dem Marathon gibt es noch einen 16 km und einen 29 km Lauf. Jeder Lauf hat etwas über 100 Teilnehmer. Das lässt auf ein einsames Rennen schließen - schauen wir mal.

 

 
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Der Start am nächsten Morgen um 10 Uhr ist wieder an der Promulins Arena. Der beschauliche Eindruck vom Vortag bestätigt sich. Die 130 Läufer für den T43 treffen letzten Vorbereitungen in der Halle, wo auch das Gepäck fürs Ziel abgelegt werden kann. Der Start befindet sich draußen. Ein Moderator unterhält sich mit verschiedenen Gästen und Mitgliedern des Orgakommitees. Letzte Infos werden gegeben. Es herrscht Schweizer Gelassenheit, von Hektik und Getriebe keine Spur.

Fünf vor 10 Uhr begibt man sich nach draußen. Der Start verzögert sich um ca. 8 Minuten, die Läufer nehmen es, wie es kommt. Als dann aber Vangelis „Chariots off fire“ ertönt, spürt man doch die Spannung in der Luft. Es wird heruntergezählt und Andrea Tuffli, Orgaleiter des Swissalpine, gibt den Startschuss.

Es geht um die Arena herum, ein Stück durch den Ort, unter den Bahngleisen hindurch Richtung Ortskern. Stetig bergauf führt die Straße, bis wir den Naturpfad „La Senda“ erreichen. Hier startet auch eine 3,4 km lange Up-Hill Zeitmessstrecke mit 414 Hm für Mountainbiker. Heute ist hier aber kein Betrieb.

Stattdessen zieht sich die Läuferschlange nach oben. Ich hatte befürchtet, sofort alleine unterwegs zu sein. Das erweist sich allerdings als unbegründet. Norbert hatte sich zwar beim Einstieg in das steilere Stück verabschiedet, aber vor und hinter mir sind immer noch genügend Läufer. Ich komme gut voran, das Bergaufwandern macht mir nicht das Geringste aus. Schnell ist das km 40 Schild vorbei. Wie immer beim Swissalpine werden die Kilometer rückwärts gezählt.

Es geht durch lichten Nadelwald und bald liegt Samedan unter uns. Langsam zieht Nebel auf. Es hat die ganze letzte Nacht geregnet und auch die Prognose für den Tag ist ungemütlich.  Am Morgen schien aber die Sonne und so hatten wir, der Vorhersage zum Trotz, auf einen freundlichen Tag gehofft. Zur Vorsicht habe ich noch die leichte Windjacke an und schwitzte entsprechend. Ob der Nebel etwas zu bedeuten hat?

Der Wald öffnet sich und die Alp Muntatsch liegt vor uns. Der erste VP ist ein Brunnen neben dem Kuhunterstand. Inzwischen ist der Basler Sofiane auf mich aufgelaufen. Wir kennen uns aus dem Hotel. Als sich noch Fabio anschließt, sind wir als plapperndes Dreigespann unterwegs. Zügig geht es auf schmalem Pfad die Alp Muntatsch hinauf. Wir überholen einen japanischen Läufer, der gerade versucht, Kühe zu fotografieren.

 

 
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Sofiane war letztes Jahr schon hier, als die Strecke in umgekehrter Richtung verlief und erklärt uns, wo wir später auf der anderen Talseite laufen werden. Pontresina ist bereits in Sicht. Noch 35 km sind zu laufen, wird angezeigt. Oh, das geht aber flott. Der Pfad führt unterhalb des 2857 m hohen Piz Padella wellig entlang. An exponierter Stelle machen wir ein gemeinsames Foto. Anschließend müssen wir Fabio verlassen, denn es geht bergab. Trotz des schmalen Pfades lasse ich es laufen, Sofiane hält sich hinter mir.

Zügig erreichen wir die Skistation Marguns. Im Winter ist hier einiges los. Mehrere Liftanlagen verbinden sich zum Skigebiet Corviglia - Piz Nair - Marguns. Im Sommer wimmelt es hier von Mountainbikern. Es geht nochmal kurz auf Schotter bergauf und dann auf einer breiten geschotterten Zufahrtsstraße nach unten. Wir machen uns einen Spaß daraus, die entgegenkommenden, bergauf ganz schön schnaufenden Radler anzufeuern. Wir kommen aus dem Lachen gar nicht heraus.

Endlich zweigen wir auf einen schmalen Trail ab. Zwischen üppigen Blumenwiesen geht es hinab. Der St. Moritzsee ist bereits im Blick und bald kommen die ersten Häuser des Nobelortes in Sichtweite. Die Straßen sind regennass. Seit geraumer Zeit regnet es leicht,  nichts dramatisches - gut zum Kühlen. Die Straßen sind fast menschenleer, die wenigen Passanten scheinen irritiert ob der „ungewohnt gekleideten“ Individuen im Laufschritt.

Plötzlich laufen wir ohne Vorwarnung in eine Menschenansammlung hinein. Es ist 12 Uhr 30, der Start des T29 steht bevor. Verwirrt sehe ich nur das Starttor und denke, dass ich da wohl wegen der Zeitmessung hindurch muss. Die wartenden Läufer schicken uns wahlweise mal recht, mal links. Sofiane und ich sind froh, als wir durch den Pulk hindurch sind. Ein Stück weiter unten ist der Polizist sichtlich erstaunt, als wir mit Tempo auf ihn zukommen. Vermutlich denkt er, wir sind die Führenden des gerade hinter uns gestarteten Feldes.

 

 
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Schnell werden wir von hinten überrollt und es bleibt nur erst einmal abzubremsen, um nicht vom Feld mitgezogen zu werden. Erst als auch die Letzten vorbei sind, traben wir langsam wieder an. Da fällt mir etwas ein: Wo ist denn eigentlich die 2. VP? Laut Ausschreibung müsste sie in St. Moritz sein. Durch das Dorf sind wir schon durch, Bad liegt noch vor uns. Hoffentlich haben wir die Verpflegung nicht verpasst. Die nächste wäre erst wieder in Pontresina nach weiteren 16 km und Sofiane hat kein Wasser mehr. Ich hab zwar noch welches, aber das reicht auch nicht für 3 Stunden geschätzte Laufzeit.

Es geht am Hang in einem Wäldchen entlang. Unter uns liegt der St. Moritzsee. Unerwartet taucht vor uns zwischen den Bäumen ein kirchenähnliches Bauwerk aus dunklem Stein auf. Es handelt sich um ein Museum zu Ehren des Malers Giovanni Segantini, der 1899 nahe Pontresina gestorben ist. Trotz unserer Verpflegungsmisere muss hier erst mal ein Foto gemacht werden.

Wir unterqueren eine größere Straße und gelangen über eine weite Wiese ins Tal, überqueren den hier schmalen Inn zur Seilbahnstation. Hinter einer Unterführung weisen Helfer nach rechts. Es geht am schmucken Hotel Kempinski vorbei, dahinter scheint ein Poloturnier zu sein - aber keine VP weit und breit. Den anderen Läufern um mich herum geht es ähnlich, niemand hatte die VP in St. Moritz gesehen. Meine Panik hält sich jedoch in Grenzen, denn ich habe genügend zum Essen dabei und hoffe, dass es Bäche und Brunnen geben wird, wo ich meine  Wasserflasche auffüllen kann. Aber meine Beine sind inzwischen müde ich muss erst einmal langsam machen. Die Anderen halten sich nicht lang auf und sind schnell nach vorne verschwunden. 25 km sind noch zu laufen.

Im Wald geht es bergauf. Die Bäume stehen licht, so dass die Vegetation am Boden schier explodiert. Gelbe, blaue und rote Blumen blühen um die Wette. Ich höre einen Bach rauschen. Leider zu weit unten, da komme ich nicht ran. Es geht stetig bergauf. Dann kommt der nächste Bach. Der passt. Ich fülle meine Flasche und trinke sie auch gleich wieder leer. Nochmal gefüllt, ein Päckchen Salz hinein, besser hätte man das an der VP auch nicht machen können. Ich steige wieder hinauf auf den Weg. Nun kann nicht mehr viel passieren.

 

 
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Vor mir steht ein blaues Auto mitten im Wald. Es ist kein Fahrer drin. Ein unscheinbares Schild weist darauf hin, dass sich hier der Parkplatz der Hütte am Hahnensee befindet. Der Wirt hat hier Stöcke aufgehängt, die man sich für den Aufstieg ausleihen kann. Ich hoffe, dass das nicht so schlimm werden wird. Ein paar Meter weiter zweigt ein schmaler Pfad ab. Hier geht es nun entlang. Märchenhaft sind die Bäume mit Moos und Flechten bedeckt. Auch riesige Wurzeln und mächtige Steine versetzen mich in eine andere Welt. Der Weg wird immer steiniger und unwegsamer.

Meine Beine haben sich wieder erholt und so kann ich den Aufstieg genießen. Ich klettere über hohe Wurzeltreppen und größere Steine. Dann bin ich endlich oben. Vor mir liegt hinter Bäumen der Hahnensee. Ich halte mich links, kann aber keine Wegmarkierungen mehr erkennen. Etliche Pfade zweigen in alle Richtungen ab. Ich versuche mich an einem Weg und erkenne weiter vorne die Hütte, vor deren Türe sich Personen aufhalten. Ich hoffe auf Läufer; allerdings sind die Leute so vermummt, dass es sich vermutlich um Wanderer handelt. Endlich kann ich weiter vorne eine orangefarbene Streckenmarkierung erkennen. Ich halte mich in dieser Richtung, biege um eine Ecke und werde vom Fotografen überrascht. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

Es scheint nun bergab zu gehen. Gerade will ich auf den Trail einbiegen, als sich ein kalter Regenschauer über mir ergießt. Der Pfad führt nun abschüssig in die Tiefe. Wie beim Aufstieg wechseln wurzelige und steinige Passagen ab. Obwohl ich langsam und vorsichtig bin, setzte es mich einmal samt Kamera in den Matsch. Dazu kommt die Wasserflut von oben und tiefes nasses Gras, das sich an meinen Socken abstreift. Ich bin bald von oben bis unten nass.

Wenn sich hin und wieder der Wald öffnet, kann ich weit unter mir St. Moritz erkennen. Eigentlich ist mein Ziel aber Pontresina - das kann ja noch dauern. Ein großes Geröllfeld muss nun überquert werden. Vorsichtig balanciere ich von Fels zu Fels. Endlich komme ich am km 20 Schild vorbei. Das hat jetzt richtig lange gedauert.

Als ich meine Gamaschen neu am Schuh justiere, holt mich Fabio ein, meine Laufbekanntschaft von vorhin. Hoch erfreut laufe ich gleich hinter ihm her. Wir müssen mehrere Bäche durchwaten, ich hab jetzt auch noch patschnasse Füße. Fabio ist mit seinen Stöcken da eindeutig im Vorteil. Ich lasse mich aber nicht abschütteln. Der japanische Läufer von vorhin hat wohl Probleme, denn er ist sehr langsam unterwegs. Ob er das Limit in Pontresina schaffen wird?

Mittlerweile fließt auf unserem Trampelpfad ein Bach, ausweichen unmöglich. Endlich geht es bergab. Obwohl ich nicht sehr schnell bin, lasse ich Fabio wieder hinter mir. Der Trail führt den steilen Hangrücken hinab. Mittlerweile spüre ich in meinen Muskeln ein unangenehmes Ziehen. Hoffentlich halte ich das hier durch. Der steilste An- und Abstieg kommt ja erst auf der letzten Etappe. Habe ich hierfür überhaupt noch die nötigen Kräfte, selbst, wenn ich pünktlich in Pontresina bin? Mit jeder Minute, die ich hier im steilen Hang verbringe, werde ich nachdenklicher. Der Abstieg nimmt aber auch kein Ende.

Plötzlich wird es wieder flacher und eine Wandertafel kündigt Pontresina in 20 Minuten an. Das würde für den Cutoff reichen. Leider werden wir erneut vom Wanderweg weg auf einen schmalen steilen Trail geleitet. Ich bin nun wenig erfreut. Immerhin passiere ich das km 15 Schild, also sind es noch rund 3 km zur VP. Für den Cutoff habe ich noch eine dreiviertel Stunde Zeit.

Kurz danach liegt das Tal zum Greifen nah. Es geht auf einen asphaltierten Weg vollends hinunter und unter der Bahnlinie hindurch, am Bauernhof des Pferdekutschers und dem Langlaufzentrum mit Jugendherberge vorbei. Links geht es über eine alte Steinbrücke über den Berninabach und auf der anderen Seite zwischen Wohnhäusern bergauf. Auf dem Gehweg geht es zum Ortszentrum und Fremdenverkehrsbüro hinauf. Dort befindet sich endlich die VP.

Hier gibt es Isotee und Bouillon. Ich lasse meine Flasche erneut mit Wasser füllen und greife zum Brot. Fabio ist auch schon da. Die Helfer meinen, dass der folgende Auf- und Abstieg sehr steil wäre, aber der vom Regen aufgeweichte Boden keine zusätzliches Problem darstellen würde, es sei eher steinig. Laut Ausschreibung geht es auf 5 Kilometern 1000 Höhenmeter hinauf und dann dasselbe wieder hinunter. Ich denke kurz daran aufzugeben. Aber dann mahnt Fabio zum Aufbruch, und ich folge ihm einfach nach.

Mittlerweile hat der Regen aufgehört. Die Straßen im Ort führen in Serpentinen nach oben. Rechts zeigen Pfeile auf einen mit blühenden Blumen gesäumten Wanderpfad auf den Schafberg (Munt da la Bês-cha). Noch ist Fabio vor mir. Er steigt mit großen Schritten voraus. Der Pfad führt uns an einer Gedenktafel für den deutschen Mediziner Ernst von Leyden vorbei, der immer, wenn er in Pontresina zu Gast war, Sprechstunden abzuhalten pflegte.

Schnell gewinnen wir an Höhe, Fabio ist mittlerweile nach oben verschwunden. Weil die Kilometer auf der Uhr nicht mehr werden wollen, stelle ich die Anzeige auf Höhenmeter um. Hier steigt die Zahl erfreulich schnell. 2000, 2100, bei 2200 erreiche ich die auf einem kleinen Sonnenplateau gelegene Hütte des unteren Schafbergs, das sich Restaurant nennt. Heute liegt es im Nebel und scheint geschlossen. Hier verläuft auch die Baumgrenze: Aus dem Arven- (Zirbelkiefer-) und Lärchenwald werden niedrige Föhrenbüsche. Gespenstisch liegt das Berninamassiv im Wolkennebel, Pontresina und St. Moritz kann man ab und zu in der Tiefe erahnen.

 

 
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Wieder einige Höhenmeter weiter wird der Bewuchs spärlicher, ich erreiche die ersten Lawinenverbauungen. Je höher ich komme, desto massiver werden die Abstützungen, die verhindern sollen, dass im Sommer Geröll und im Winter Schneemassen unkontrolliert in die Tiefe rauschen. Für mich haben sie einen beruhigenden Effekt. Langsam macht sich aber meine Höhenangst bemerkbar. Ich weiß, dass dies hier nicht wirklich gefährlich ist, aber es geht doch an manchen Stellen steil und tief nach unten. Noch 10 km sind zu laufen.

Der Pfad führt nun auf der Rückseite des Schafberg hinauf. Es befindet sich jetzt kein Abgrund mehr unter mir, eine Sorge weniger. Dafür ziehen die Nebel immer näher. Was, wenn die Sicht plötzlich schlechter wird und ich die Markierungen übersehe? Vermutlich kommt hinter mir keiner mehr. Langsam machen sich auch körperliche Schwächen bemerkbar. Ich kann zwar ohne anzuhalten ganz gut steigen, aber der Weg nimmt immer noch kein Ende. Was, wenn mich meine Kräfte doch noch verlassen? Da erkenne ich Fabio auf dem Pfad hoch oben. Mit diesem Anhaltspunkt über den weiteren Verlauf des Weges, geht es mir deutlich besser.

Zwei Wanderer kommen von oben in strammem Tempo entgegen. Einer ruft: „Prima, es ist nicht mehr weit!“. Genau das wollte ich hören, ob es nun stimmt oder nicht. Gleich werde ich einen Schritt schneller. Mein Höhenmesser zeigt 2714 m, der Weg wird flacher, es geht an einer halbhohen Mauer entlang; dann bin ich oben. Die Segantinihütte, wo der Maler sein berühmtes Alpentryptychon gemalt hat, liegt vorne an der Klippe.

Jetzt bin ich mal gespannt, wie ich hier wieder herunterkomme. Die Richtung ist klar beschildert. Ich trete bis an den Rand vor und erahne den Pfad. Oh, das ist ja wider Erwarten ganz nett hier. Der Weg führt entlang eines Hanges in ein Hochtal, an dessen Grund ein Bächlein rauscht. Natürlich ist es auch hier steil und steinig, diverse Rinnsale müssen durchquert und Felsen überklettert werden. Aber ich komme doch relativ zügig voran und kann dabei meine Beine etwas entspannen.

Dass man schon bis zur nächsten VP beim Ausflugslokal auf dem Muottas Muragl sehen kann, motiviert mich zusätzlich. Unten überquere ich auf einer Brücke den Bach und gelange auf den Pfad, der von oben schon zu sehen war. Was man nicht gesehen hat ist, sind die vielen Steine, die für mich ein Laufen unmöglich machen. Im Gegenteil,  ich muss selbst diese moderate Steigung hochwandern.

Ich passiere die Alp Muottas, eine bewirtete Hütte. Ab hier wird der Weg besser. Je weiter ich komme, desto besser wird die Aussicht auf die Engadiner Seenplatte mit Silsersee, Silvaplanersee, Lej da Champfer und St. Moritzersee. Schade, dass es so bewölkt ist. Ein mannshoher hölzerner Steinbock begrüßt mich beim Romantik Hotel Muottas Muragl. Der Helfer an der VP auf der zugigen Aussichtsplattform ist schon fast erfroren. Er füllt meine Flasche ein letztes Mal und bietet mir Bananen an. Es ist 18 Uhr 50 und ins Ziel sind es noch 5 km.

 

 
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Ein kleiner Absatz bringt mich auf den Pfad nach unten. Hinter der Kurve liegt nochmal ein Fotograf und wartet auf Kundschaft. Zunächst läuft der Weg zwar relativ flach, dafür aber exponiert. Dann wird es steil und steinig. Das hatten die Helfer in Pontresina bereits voraus gesagt. Ich schleiche vorsichtig den Berg hinunter. Einmal ist es so steil, dass ich auf dem Hosenboden hinunterrutsche. Nach gefühlt unendlicher Zeit bin ich endlich unten und muss erst einmal anhalten. Meine Beine wollen mich nicht weiter tragen. Mein letztes Gel gibt mir dann doch wieder Energie.

Ein sanfter Weg führt das letzte Stück bergab. An der kleinen Samedaner Seenplatte verlasse ich den Wald direkt am Ende der Landebahn des Flughafens. Noch 15 Minuten bis Zielschluss. Ich jogge an mehreren Anglern vorbei. Einer von ihnen fragt mich, wohl wegen meines gelben Umhangs, ob es geregnet hätte. Was soll ich denn da antworten?

Eine Brücke bringt mich über den Inn, dann geht es unter der B27 hindurch auf einen Damm. Vor mir liegt Samedan, aber wie weit ist es noch zur Promulins Arena? Von dieser Seite des Ortes  kenne ich mich nicht aus. Passanten kommen mir entgegen und rufen mir zu, dass es nicht mehr weit sei. Dann sind die Wegweiser vom Damm herunter unverhofft vor mir. Noch ein Stück die Straße entlang. Gebannt sehe ich auf die Zeitmessung: 9h58 werden angezeigt. Der Sprecher sagt mich als letzte Läuferin an, die den Lauf noch innerhalb der Sollzeit von 10 Stunden beendet. Das hätte ich bis zum Schluss nicht mehr für möglich gehalten. Ich bin stolz und glücklich. Norbert ebenfalls.

Zuerst bekomme ich die Medaille, dann das Finishershirt. Es gibt noch Pasta mit Bouillon und Käse, Äpfel, diverse Getränke und es wird noch eine letzte Palette Erdinger alkoholfrei herbeigezaubert.

Mein Fazit steht eigentlich schon am Anfang des Berichts. Der Lauf ist ziemlich anspruchsvoll, die Hälfte der Finisher blieb unter 8 Stunden. Das schaffen nur geübte Trailrunner mit ausgereifter Technik. Wer mal herein schnuppern will, hat auf dem T29 bereits gut zu tun. Was Ausrüstung und Verpflegung angeht, setzen die Veranstalter auf die Eigenverantwortung der Läufer. Wer damit klar kommt, erlebt einen Trailrun in wunderbarer Umgebung mit grandioser Kulisse und toller Natur.

 

Informationen: Swissalpine (Prolog)
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