So sehr ich meine Heimat schätze, so beneide ich doch diejenigen, die nach einer vergleichsweise kurzen Anfahrt an fast jedem beliebigen Punkt der Alpen sein können. Denn häufig genug schiele ich auch auf mir hochattraktiv erscheinende Läufe über teils nur kurze Strecken, bei denen eine Anfahrt über 700 und mehr Kilometer aber in krassem Mißverhältnis zur Lauflänge stehen.
Einer der klassischen Vertreter dieser Gattung ist der Tegelberglauf im Schwangau bei Füssen/Ostallgäu. 8 km kurz führt dieser über 920 Höhenmeter von der Talstation der Tegelbergbahn über die Drehhütte und den Rohrkopf bis zu deren Bergstation auf 1.720 m NN. Wir haben uns in diesem Sommer hauptsächlich das Allgäu als Urlaubsziel ausgesucht und der männliche Teil unserer vorbildlichen Ehe hat den Urlaubsverlauf unauffällig an den Laufkalender angepasst. So kommt es, dass in gut zwei Wochen stolze fünf Läufe auf der Tagesordnung stehen. Eine Planung voll nach meinem Geschmack!
Der Freitag steht noch ganz im Zeichen meines eigenen Malberglaufs, dessen +370/-100 Höhenmeter über 6 km wie ein lockerer Spaziergang gegenüber der heutigen Aufgabe wirken. Und schon auf denen kann man sich richtig müde machen, wenn man sich die Strecke und Kräfte nicht gut einteilt. Da es dabei nur auf gut 3,5 km wirklich bergauf geht, steht dann, wenn es hochgeht, eine zehnprozentige Steigung an. Für gehörigen Respekt vor dem heutigen Lauf ist also gesorgt.
Unsere Münchner Freunde Barbara und Klaus sind am Samstag ebenfalls ins Allgäu gekommen, zwei Stunden Anfahrt sind's für sie nur, ein Riesenvorteil. Leider muss unser Tiroler Freund Günther passen, womit die Wiedervereinigung des Dreamteams 2016 vom Karwendel- und Achenseelauf leider gescheitert ist. Die Damen werden es sich bequem machen und genüsslich die Seilbahn nach oben nutzen, um uns dort in Empfang zu nehmen und notfalls zu reanimieren, so ist es zumindest geplant. Die Startzeit um 10 Uhr ist auf jeden Fall urlaubsfreundlich, denn so ist der Großteil des natürlich viel zu opulenten Frühstücks bereits verdaut, bevor der Höhenflug beginnt.
Keine so rechte Vorstellung habe ich über meine heute erreichbare Zielzeit. Ein durchschnittlicher Wanderer soll etwa drei Stunden für die Strecke benötigen, das ist übrigens auch das äußerst großzügige Zeitlimit, das am Ende nicht näherungsweise ausgeschöpft werden wird. Ein Blick in die Ergebnisliste des Vorjahrs 2016 weist 471 Finisher aus, von denen die meisten unter einer Stunde geblieben sind. Selbst in der M 60 liegen die ersten Sechs unter 60 Minuten. Au Backe. Wenn ich unseren Malberglauf mit seinen 6 km Länge sowie +370/-100 Höhenmeter, für den ich unter Wettkampfbedingungen inkl. Fotografierens knappe 40 Minuten benötige, zum Vergleich heranziehe, sieht's zappenduster aus. Die Messlatte hängt für Männer bei 39, für Frauen bei 47 Minuten. Solch ein „richtiger“ Berglauf, übrigens mein allererster der Marke „Kurz und knackig“, ist doch eine andere Hausnummer. Na ja, für eine Zielankunft im Hellen sollte es doch gerade noch reichen.
Um 7 Uhr sind wir pünktlich zum Beginn der Startnummernausgabe an der Talstation der Tegelbergbahn, man ist allerdings noch am Aufbauen. Nach wenigen Minuten ist das geschafft und wir halten als Erste unsere Startnummern in der Hand. Und nicht nur unsere Startnummern, denn neben einer Tasche mit dem Motiv des Schlosses Neuschwanstein, das wir von unserem Hotel aus sehen können, bekommen wir ein paar „Goodies“, die wir gut gebrauchen können. Gut gebrauchen können wir allerdings nicht das Wetter. Gestern noch eitler Sonnenschein bei 26 Grad, haben wir heute zum Start lediglich deren 14, und seit heute Nacht regnet es. Um es gleich zu sagen: Wir werden Glück im Unglück haben und während des Laufs weitgehend von himmlischen Segnungen verschont bleiben, allerdings auch von jeglicher Aussicht, denn der Berg ist in der oberen Hälfte komplett in Dunst gehüllt. Wenigsten entschädigt uns der Anblick des Schlosses Neuschwanstein, das einen selbst im Dunst entzückt.
Zum Start des Rennens auf den Schwangauer Hausberg versammeln sich lt. Sprecher rund 200 Aktive, von denen einige ihre mitgebrachten Stöcke wieder verstauen müssen, denn die Mitnahme ist nicht erlaubt, wie mehrmals durchgesagt wird. Mir ist das recht, denn beim ständigen Fotografieren kann ich die ansonsten sehr willkommenen Gehhilfen nicht gebrauchen. Da die Zeit wie anno Dunnemal per Hand gestoppt und somit die Bruttozeit gemessen wird, kann ich mich etwas absetzen, die Meute beim Start knipsen und mich dann unauffällig am Ende des Feldes, wo ich meine hinzugehören, einreihen.
Sehr schnell zieht sich die Läuferschar auseinander, was über den Parkplatz, zunächst sogar ein paar Meter über den Parkplatz der Talstation bergab, und dann über einen ausreichend breiten Asphaltweg schon leicht bergan an einem Campingplatz problemlos vonstatten geht. Wo Du dich also einreihst, ist letztlich völlig egal. Schon ist der erste km geschafft, die Steigung noch moderat und der Autor beginnt in völliger Verkennung späterer Realitäten schon auf eine Zeit unter einer Stunde zu spekulieren. Deppen sollte man eben nicht auf einen Berglauf schicken.
Publikum sucht man fast vergebens, aber wer will es den Leuten verdenken? Es regnet zwar Gott sei Dank nicht wie angekündigt, ist aber doch sehr feucht, kurz gesagt: Es ist ungemütlich. Das tut aber zumindest meiner Stimmung keinen Abbruch und schon gar nicht der von Georg Groß, der als Achtundsiebzigjähriger nur schlappe zwei Minuten nach mir ankommen wird. Der zwanzig Jahre ältere Mann ist mehrfacher Berglaufweltmeister und nährt mit seiner phantastischen Vorstellung meine Hoffnung, mit 75 Jahren noch reguläre Marathons schaffen zu können. Wir tauchen in den Wald ein, der Weg bleibt asphaltiert und ist gut zu belaufen. OK, die Steigung müsste nicht sein, aber ich fürchte, da kommt noch mehr. Nach etwa drei km gibt’s einen Becher Wasser, das mir der freundliche Helfer strahlend überreicht und dafür natürlich geknipst wird. Sehr zur Enttäuschung seiner Kollegin, die meint, die Hübschen begännen bei ihr. Ja, Schätzelein, der Film ist doch noch gar nicht voll. Schon strahlt die Gute, das Leben kann manchmal so einfach sein.
In Serpentinen, die sich immer enger ziehen, geht der Weg, der die ganze Strecke über mit roten Pfeilen auf dem Boden tadellos markiert ist, kontinuierlich voran. Wie eine Ziehharmonika schiebt sich meine Preisklasse bergan, mal hat der eine etwas mehr Luft, mal der andere. Kurz vor km 4 ist es dann auch bei mir soweit und ich werde gegen meinen Willen zum Powerwalker. Und soll ich Euch was sagen? Daran wird sich bis auf kleine, für mich laufbare Abschnitte bis ins Ziel nichts mehr ändern. Eine Stunde? Dass ich nicht lache! Km 5 geht im gemeinsamen Stechschritt vorbei, der Nebel wird immer dichter und der Bodenbelag wechselt zu Kies. Bei etwa km 6 gibt’s zum zweiten Mal zu trinken, gerne nehme ich einen Becher Iso. Die Helfer haben's heute wahrlich nicht leicht.
Wir aber auch nicht, denn jetzt wird’s richtig heftig, ich hatte es ja befürchtet und werde nicht enttäuscht. Auf einem spärlich bewachsenen Weg durch eine Wiese gewinnen wir extrem steil an Höhe. Ich muss gestehen, erste böse Gedanken an ein kurzzeitiges Stehenbleiben bemächtigen sich meiner. Am nächsten Tag, der Berg strahlt in der schönsten Sonne, meine ich aus dem Tal diesen Abschnitt wiederzuerkennen und als Skipiste zu identifizieren. Schwer, ganz schwer fallen mir die Schritte weiter bergan. Der Weg wechselt zu einem steinigen Trail, der in Serpentinen gen Himmel führt. „Dem Himmel so nah“, das ist der Wahlspruch des Restaurants an der Bergstation, den ich nur zu gut nachvollziehen kann.
Ist es wirklich die schon dünnere Luft, die mir auf 100 m Seehöhe lebendem Flachlandtiroler den Atem nimmt und jede Energie zu rauben scheint? Wenigstens steht ab und an mal ein Streckenposten, der dringend nötigen Beifall zollt. Ob ich den wirklich verdient habe? Mit Laufen hat meine Art der Fortbewegung schon längst nichts mehr gemeinsam. Oh ja, Marathonläufer trainieren in der Tat völlig anders als Bergläufer, sind auf ganz andere Bewegungsabläufe eingestellt und so wundert es mich nicht, dass viele der anwesenden offenkundigen Spezialisten mir die Hacken zeigen, vor allem auch Gleichaltrige und noch Ältere. Dann kommt das, was mir den Rest gibt: Treppenartige Stufen, jeweils mit einem Querbalken gesichert, jede Stufe natürlich unterschiedlich in Höhe und Weite. Die Hände sind längst auf die Oberschenkel gestützt, mühselig wuchte ich mich Zentimeter für Zentimeter nach oben. Und das Drama geht weiter. Da, eine Fangruppe, sind wir schon oben? Meine Laufuhr beraubt mich aller Illusionen.
Dann geht es sogar ein kleines Stück wieder bergab, ich komme nochmal kurzzeitig ins Laufen. Da, wieder ein breiter Kiesweg, von Abflussrinnen durchzogen, ist das der letzte Anstieg? Oben gestikuliert jemand. Ein rotes Zelt, mitten auf dem Weg, signalisiert Erlösung. „Ziel“ steht dick und fett darauf, es ist wie eine Absolution, und nach gut 67 Minuten ist das Drama Berglauf für den Herrn Bernath als 107. von 160 Finishern beendet. Drama? Nö, keineswegs, denn kaum wieder zu Atem gekommen, verschwende ich schon einen Gedanken an das nächste, ähnlich gelagerte Abenteuer, über das es demnächst zu berichten gibt. Im Warten auf Klaus, der einige Minuten nach mir einlaufen wird, kann ich Euch die vielen unterschiedlichen Gesichter glücklicher bis erlöster Finisher einfangen.
Die feine Zielverpflegung päppelt uns wieder auf, dann empfangen wir an der Bergstation unsere Wechselkleidung, die wir vor dem Start haben abgeben können und die man uns nach oben gefahren hat. Gleicht fährt die nächste Bahn bergab, daher verzichten wir aufs Umziehen, denn zu fotografieren gibt es außer Nebel nichts mehr, und fahren nach einem tollen Abenteuer wieder ins Tal. Leider haben es tatsächlich nur 160 Personen ins Ziel geschafft, die Ergebnisliste des vergangenen Jahres verzeichnet deren 471. Das Wetter kann man leider immer noch nicht planen und der Veranstalter TSV Schwangau kann natürlich nichts dafür, wenn einem beim sicherlich mit dem schönsten Berglauf weit und breit jegliche Aussicht abgeht, für die man ja auch erschienen ist. Am späten Abend bricht mit dem letzten Büchsenlicht die Sonne durch und taucht den völlig klaren Tegelberg in ein mystisches Licht. Am nächsten Morgen trübt keine Wolke den Himmel. Warte nur, Bursche, mit Dir habe ich noch eine Rechnung offen!
Strecke:
8 km mit 920 Höhenmetern, fünf km Forstweg, 3 km Naturweg. Zeitlimit 3 Stunden.
Startgebühr:
21 € bei termingerechter Anmeldung, 24 € bei Nachmeldung.
Auszeichnung/Leistungen:
Gepäcktransport von der Talstation der Tegelbergbahn zum Ziel sowie Talfahrt für Teilnehmer frei.
Zuschauer:
Witterungsbedingt nur wenige,selbst unsere Frauen sind in dieser Nebelsuppe unten geblieben.