Seit Judiths und meinem ersten Besuch im Jahr 2010 fliegen wir gerne im Winter nach Teneriffa, um den kalten Temperaturen daheim zu entfliehen und um zu laufen und zu wandern. Von den drei flachen Marathons auf den Kanarischen Inseln haben wir schon berichtet. Unzählige Stadtläufe und natürlich noch mehr Trailläufe findet man im Veranstaltungskalender der Kanaren, die politisch gesehen zu Spanien, geographisch gesehen zu Afrika gehören.
Der vulkanische Ursprung der Inselgruppe erklärt auch die recht hügelige Landschaft. Teneriffa ist die größte und eine der abwechslungsreichsten Inseln des Archipels. Es gibt Ecken mit üppiger Vegetation und sehr trockene Gegenden. Auf mehreren recht unterschiedlichen Gebirgszügen finden sich unzählige gut markierte Wanderwege. Die Pflanzenwelt ist meist eine andere als in unseren Breiten. Für mich auch sehr interessant sind die unbekannten Gerüche beim Wandern.
Ein Lauf-Erlebnis der besonderen Art bietet der Bluetrail: In der 102 km langen Ultra-Version startet man in Los Cristianos an der südlichen Sonnenseite der Insel auf Meereshöhe und erreicht auf 3.555 Metern den höchsten Punkt knapp unterhalb des Gipfels von Spaniens höchstem Berg, dem Pico del Teide. Dann auf der anderen Seite des Teide wieder hinunter mit Ziel in Puerto de la Cruz, dem historischen Ort und Ursprung des Tourismus auf Teneriffa im grünen Orotavatal.
Der 3718 m hohe Teide ist quasi mein Schicksalsberg. Mehrmals sind Judith und ich dort schon gewandert. Man startet auf 2.500 Metern Höhe und ist nach gemütlichem und einfachem Aufstieg durch unterschiedlichste Lava-Gesteinsarten nach vier Stunden auf der Rambleta, der Bergstation der Seilbahn, wo sich viele Flip-Flop-Träger in Strandkleidung tummeln. Für die letzten 200 Höhenmeter zum Gipfel benötigt man eine Genehmigung der Nationalparkverwaltung, die man kostenlos im Internet beantragen kann. Man sollte halt nur zwei Monate vorher wissen, für wann man seinen Slot benötigt. Einmal ist Judith und mir der Aufstieg bis zum Gipfel gelungen. Mehrmals haben wir kein Permit bis ganz nach oben bekommen und einmal sind wir am Schnee gescheitert, den es im Winter hier auch geben kann.
Schicksalberg auch deshalb, weil meine größte Herausforderung die Höhenkrankheit ist. Das beginnt bei mir ab 2.500 bis 3.000 Metern und es ist sehr interessant zu erleben, wie mit jedem Meter bergauf die Leistungsfähigkeit tiefer in den Keller rauscht. Leider kommt dann noch der Kopfschmerz hinzu. Und gerade deshalb möchte ich diesen Lauf machen. Dem Berg zeigen, wer hier die Hosen an hat.
Als ich Judith und Klaus von meiner Anmeldung erzähle, ernte ich nur Kopfschütteln. 102 Kilometer und 6.000 Höhenmeter bergauf sind für einen Stadtmarathoni doch etwas viel. Und 24 Stunden auf den Beinen? Ich studiere die Cutoff-Zeiten. Mein Ziel war, den Berg zu bezwingen und danach vielleicht auszusteigen und mit der Bergbahn bequem zurück zu fahren. Das wären über 5.000 Höhenmeter und 58 Kilometer. Aber so ohne Wertung ist das auch blöd. Und dann waren da noch die Cutoffs. Schon nach 8,5 km sind in den letzten Jahren mehrere Teilnehmer ausgeschieden. Ich könnte es schaffen, aber viel Spielraum bleibt mir nicht. Auch Klaus, der uns schon oft zu wagemutigen Trails verholfen hat, ist da eher zurückhaltend. Als dann der Startort ins eher unspektakuläre Playa de Fañabé verlegt wird, entschließe ich mich, auf den Trail mit 67 km Länge sowie 3.246 Aufstiegs- und 4.629 Abstiegsmetern umzusteigen. Die Veranstalter schreiben mir für die Ummeldung sogar 23 Euro gut. Die Bearbeitungsgebühr von 3 Euro schon abgezogen. Und Judith ist nun auch dabei. Wir erwarten einen schwierigen Lauf in der Größenordnung des APUT (Allgäu Panorama Ultra Trail).
Teneriffa kann man inzwischen zum Schnäppchenpreis anfliegen. Besonders im Winter. Im Sommer ist die Insel von den Festlandspaniern bevölkert, die den heißen Temperaturen in Madrid, Barcelona und anderswo entfliehen wollen. Wir beschließen, eine Woche Pauschalurlaub auf Teneriffa zu verbringen. Standort soll Puerto de la Cruz sein, da hier das Ziel der Veranstaltung liegt und ich hier im Sommer stabiles Sonnenwetter erwarte. Im Winter ist es eher regnerisch und der Süden daher vorzuziehen.
Am Donnerstagabend stellen wir fest, dass die Marathonmesse nicht am Ziel aller Bewerbe, sondern in der Hauptstadt Santa Cruz de Tenerife liegt. Also geht es am Freitag mit dem Bus nach Santa Cruz. Die Messehalle liegt nahe beim zentralen Busbahnhof Intercambiador de Guaguas. Die Sportmesse ist recht groß. Wir bekommen gegen Vorlag unseres Personalausweises die prall gefüllen Starterbeutel. Diese enthalten das Bluetrail-Laufhemd, ein Nummernband mit integrierter Tasche, ein Bluetrail-Schlauchtuch, eine Dose Red Bull, Knabbersachen, Lutscher von VW sowie allerlei Werbezettelchen. In der Halle findet auch ein Gewichtheber-Event statt. Dabei mag ich gar nicht zusehen.
Die Pasta-Party am Mittag ist auch inkludiert. Leider dauert das ein wenig. Dann machen wir uns auf die Suche nach einem Uhrmacher, da das Armband der Garmin 310 heute Morgen zerbrochen ist. Materialermüdung in Reinkultur. Der Uhrmacher hat zwar ein passendes Silikonband, stellt aber dann fest, dass auch das Gehäuse gerade den Geist aufgibt. Dann werde ich halt morgen den Bluetrail mit einer Apple Watch laufen. Wahrscheinlich bin ich der erste Trailrunner, der das probiert und werde danach von Apple mit Geschenken überhäuft.
Dann zurück zum Hotel, denn um 2:00 Uhr am Samstagmorgen klingelt der Wecker. Der Transferbus bringt uns um 3:00 Uhr in 1,5 Stunden über die Autobahn und dann auf einer Passstraße in den netten Ort Vilaflor auf 1.400 m Meereshöhe, mit 1.600 Einwohnern der höchstgelegene Ort der Insel, der von Wandertouristen und dem Abfüllen von Mineralwasser lebt. Die Ultras sind in Playa de Fañabé schon um 23:30 Uhr gestartet, haben zusätzlich zu 2.400 Höhenmetern auch schon 31 km im Dunkeln zurückgelegt und sollten um 6:00 Uhr, pünktlich zu unserem Start, in einer Nebengasse durchgelaufen sein.
In der Kneipe am Start gönnen wir uns einen Kaffee und lernen Janusz kennen. Der polnische Trailrunner aus der Nähe von Krakau hat den Lauf samt Reise auf der Marathonmesse des Gran Canaria Trails gewonnen. Er hat auch das abwaschbare Tattoo mit dem Höhenverlauf, das dem Starterbeutel beilag, auf dem Arm angebracht. Ich wusste nicht, wie man das macht und habe mir die Infos in altersgerechter Großschrift ausgedruckt.
Über 300 Läuferinnen und Läufer drängeln sich vor dem Startbogen. Ich fotografiere eifrig, bis mich ein Mitstreiter darauf aufmerksam macht, dass man sich noch kontrollieren lassen muss. Am hinteren Ende der Startaufstellung wird das Vorhandensein von Lampe, Rücklicht und Regenjacke mit Kapuze geprüft. Endlich finde ich auch Judith und schleppe sie kurz vor dem Start noch zur Kontrolle.
Eine Runde durch die große Ortschaft beschert uns die ersten Bergabmeter, dann sind wir auf einem Wanderweg. Es ist noch stockdunkel, die Dämmerung ist hier nahe dem Äquator kürzer als zu Hause, so dass es erst nach 50 Minuten hell wird. Wir wandern auf alten Wegen, gesäumt von der kanarischen Kiefer, deren abgefallene Nadeln einen weichen Untergrund bieten. Dieser Baum ist recht waldbrandresistent. Meist treibt er nach einem Brand schnell wieder aus dem Stamm aus. Wer aufpasst, kann auf den nächsten Kilometern einige abgebrannte Stellen finden. Erwartungsgemäß liegen Judith und ich recht weit hinten. Aber das Rennen ist ja noch lang. Erst später beim Betrachen der Fotos fällt mir auf, dass nun auch einige Sportler mit roten Nummern unterwegs sind. Quasi die letzten Ultra-Läufer.
Ein Highlight und Ziel vieler Wanderer steht nach fünf Kilometern auf dem Programm: Die Paisaje Lunar ("Mondlandschaft") ist eine bizarre weiße Gesteinsformation, um die wir nun herum laufen. Natürlich werden hier viele Schnappschüsse gemacht. Außerdem gibt es nun den Sonnenaufgang zu bestaunen und die Wolkendecke, die auf rund 1.500 Metern Höhe über der Küste liegt und leider den Blick auf die Hotelanlagen an der Südküste versperrt.
Wir verlassen den Wald und kommen in ein Lavafeld. Mühsam quälen wir uns den schnurgeraden Weg steil nach oben. Zwei Schritte vor, einen zurück. Am Wegesrand der erste blühende "Tajinaste Rojo", zu Deutsch "Wildprets Natternkopf". Diese Pflanze blüht von Mai bis August und kann bis zu drei Metern hoch werden. Und sie wächst nur hier und auf La Palma.
An einem Canyon vorbei. Wer Glück hat, findet hier auch luftig-leichte Bimssteine. Das gibt lustige Fotos, wenn man einen großen Gesteinsbrocken mühelos auf einem Finger balanciert. Dann der erste Blick auf den Teide. Die Gebäude der Seilbahn sind farblich an die Umgebung angepasst und nur schwer zu erkennen. Am Fuß des Berges eine flache, große Ansammlung von Lava, üblicherweise als "Caldera" bezeichnet. Auf Teneriffa hat sie 17 Kilometer Durchmesser und wird "Cañada" genannt. Vegleichbar mit dem Laacher See in der Vulkaneifel, nur ohne Wasser. Sie wird nur von wenigen Wegen und der Straße durchzogen. Die Autos kann man wegen der Spiegelung der Sonne gut erkennen. Ein Abschätzen von Entfernungen fällt hier schwer. Zu klar ist die Luft, zu ungewohnt die Landschaft.
Die Trennung von den Ultras steht an. Die müssen links hinunter in die Cañadas. Dort gibt es ein Hotel der staatlichen Parador-Kette, das sich für ein Höhentraining von Läufern und Radlern anbieten würde. Später laufen die Ultras an der linken Flanke des Teide nach oben am 3134 m hohen Pico Viejo vorbei, einem Nebenkrater mit vollständigem Kraterrund. Letztmalig gab es hier 1798 einen Ausbruch. Oben geht es dann noch an gelbem Schwefelgestein vorbei, bevor die Bergstation erreicht ist. Wer den Parador bis 10:00 Uhr passiert hat, kann sich für die auf 10 km verteilten 1.500 Höhenmeter fünf Stunden Zeit lassen. Wahrscheinlich braucht man dieses großzügige Limit wegen der dünnen Luft und der Höhenmeter, die man schon in den Beinen hat. Temperaturmäßig ist es hier oben in der Sonne sehr angenehm. Auch auf dem Gipfel hatten Judith und ich bei unseren Wanderungen immer über 10 Grad. Nur nachmittags, wenn die Sonne langsam untergeht, wird es recht schnell frisch. Mit ein Grund, warum wir eine Jacke und die Ultras auch ein zweites Hemd dabei haben sollen. Uns macht eher die intensive Sonneneinstrahlung zu schaffen. Trotz Creme mit hohem UV-Filter habe ich schon eine knallrote Hand.
Wir Trailer müssen jetzt erst noch ein wenig bergan auf den Cañadas-Höhenweg. Das ist ein Gebirgszug am Rande der Caldera. Auf der Karte sah der folgende flache Weg so einfach aus. Leider ist er von groben Steinen bedeckt, die das Laufen erschweren. Hier irgendwo ist mit ca. 2.500 Metern auch die höchste Stelle unseres Trails erreicht. Endlich bei km 19,7 die erste Verpflegungsstelle samt Zeitmessung. Wobei die meisten Kontrollposten auch einen Vorrat an Wasser bereithalten. Hier also ein volles Programm: Wasser, Iso - man muss Isotonica sagen, um verstanden zu werden - verschiedene Obstsorten, Fruchtpüree, Trockenfrüchte, Kekse, Müsliriegel. Also erst mal frühstücken.
Ab hier ist die Sandpiste gut laufbar. Vor uns die Türme der Sternwarte Observatorio del Teide des Instituto de Astrofísica de Canarias (IAC). Die klare Luft hilft bei der Himmelsbeobachtung. Und trinken sollte man aufgrund der Trockenheit auch ausreichend. Linker Hand sieht man einige Dächer des Weilers El Portillo. Dort befindet sich auch das Besucherzentrum des Nationalparks und eben dort müssen wir bis spätestens um 12:30 Uhr eintreffen. 12 Kilometer, laut Karte sanft bergab. Ich werde unruhig. So früh will ich nicht rausfliegen. Ich gebe Gas. Bei km 26 am Kontrollposten vorbei und dann quasi ein Weilchen parallel zurück. Die Dächer kommen näher. Dummerweise geht es nun auf einen welligen Pfad mit Sträuchern, die in vielen Farben blühen. Wenn man es nur nicht so eilig hätte. Auf jeden Fall ist es viel farbenfroher als auf unseren Reisen zur Winterszeit. Unzählige Male flitzen Eidechsen in allen Größen unter die Büsche. Auch Bienen werden angekündigt. Einige sandige Wegstrecken verhelfen zu fabelhaften Kilometerzeiten. Dann wieder bergauf über Geröll.
Noch 2,6 km, steht auf einem Schild. Das schaffen wir. Viele Wanderer sind hier unterwegs und feuern uns an. Wir sind fast in Portillo, aber wir müssen zum oberen Teil. Noch ein Kilometer. Geschafft. 5 Minuten vor Torschluss sind wir da. Vollverpflegung. Hier gibt es auch Nudeln mit verschiedenen Soßen. Judith und ich liegen gut im Feld der ganz Langsamen. Ich kann nicht erkennen, dass Läufer, die nach uns ankommen, aus dem Wettbewerb genommen werden. Noch ein paar Nudeln und weiter. Ein Reisebus wird gestoppt, damit wir die Straßen überqueren können. Wir unterhalten uns mit einem deutschen Pärchen, das in Vilaflor Quartier bezogen und unserem Start zugesehen hat. Also hätte es auch dort Unterkünfte gegeben. Erst als ich feststelle, dass die beiden schneller wandern, als wir laufen, gebe ich Gas. Vielleicht zu spät?
Wie so oft am heutigen Tag ändert sich das Ambiente. Nun ist es ein leicht welliger hellsandiger Untergrund mit vereinzelten Sträuchern. Wir sind nun halb um den Teide herum gelaufen. Links sieht man einen hellen Bereich. Dort liegen mehrere Meter große, eiförmige, schwarze Lavabrocken. Man nimmt an, dass sie bei einer Eruption hinaus geschleudert wurden. Die Ultras haben dort schon den steileren Abstieg hinter sich. Weiter oben liegt auch die Hütte Refugio de Altavista. Dort können Selbstversorger übernachten, um dann vor dem Sonnenaufgang den Gipfel zu erklimmen, wozu keine Genehmigung erforderlich ist. Man sollte sich für einen der Schlafplätze aber vorher anmelden. Ab dem hellen Bereich führt eine Fahrpiste nach unten. Trotz des Verbots schneiden viele Wanderer die Schleifen ab. Ihre Fußabdrücke sieht man noch Jahre später.
Dafür treffen wir etliche von ihnen nun am Rande eines Nadelwalds am Cruz de Fregel wieder. Und zwar recht flotte. Immerhin haben sie hier nach nahezu 70 Kilometern schon fast 5.000 Hm in den Beinen. Zusammen geht es durch den Wald nach unten. Die Einheimischen sind natürlich Meister des Berglaufs. Hinauf wie hinab. Die machen das schon auf ihrem Schulweg. Da braucht man sich nicht einzubilden, dass man als Stadt-Marathoni mit etwas Erfahrung im Bergwandern hier was zu melden hat. Aber freundlich sind sie: Wir bekommen immer aufmunternde Worte oder ein Schulterklopfen, wenn wir Platz machen.
Hier wirkt es fast schon wie in den Alpen. Gelegentlich sieht man durch die Bäume die Wolkendecke weiter unten. Sollte es heute nicht schönes Wetter geben? Am VP Recibo Quemado bei km 37,7 ist es brütend heiß. Judith und ich verweilen etwas zu lange, wahrscheinlich war der eher für die Ultras gedacht, wir hatten ja gerade erst einen. Weiter über gut gepflegte Forststraßen. Dann auf einmal wieder Waldpfad mit allem, was dazu gehört. Wir sind jetzt auf einem langgestreckten Gebirgszug, der von der Hochebene bis zum Meer reicht. Man kann den grünen Streifen gut auf dem Foto am Anfang sehen. Es geht in die Wolkendecke. Die Bäume und Sträucher sammeln hier die Feuchtigkeit aus den Wolken. Viel Moos ist zu sehen, teilweise hängt es von den Bäumen. Überall tropft das Wasser. Wobei wir leider nicht durch Eukalyptuswälder kommen. Deren Wohlgeruch würde uns vielleicht aufmuntern. Zusätzlich zum Zeitdruck ist der glitschige Weg recht anspruchsvoll. Ich fühle mich als erfahrener Bergläufer und gebe Gas. Einige anstrengende Anstiege hatte ich auf der Karte gar nicht gesehen. Meine Uhr ermittelt die Entfernung aus der Schrittanzahl und ist da recht optimistisch. Leider gibt es keine Kilometerangaben bis auf ein Schild, das noch einen Kilometer bis zum Cutoff "Base del Asomadero" verspricht.
Es regnet jetzt. Der Weg ist gut laufbar, aber recht rutschig. Endlich komme ich am VP an. Es ist viel los. Die Ultras haben hier noch bis 19:40 Uhr Zeit, aber keiner weiß, was einem bei diesem Sauwetter noch bevorsteht. Erstmals sehe ich "offizielle" Läufer mit der Startnummer "Escoba". Zwei tragen zur weiteren Verdeutlichung einen Besen im Rucksack. Da weiß ich Bescheid. Ich warte auf Judith, beratschlage mich mit einer holländischen Läuferin, was wir jetzt tun sollen. Einer der Besenträger spricht uns an: Wenn ich weitermachen will, soll ich jetzt aufbrechen. Die holländische Läuferin winkt ab.
Also auf, ohne zu wissen, wie es Judith ergangen ist. Es folgt nun der kleine, spitze Zacken in der Höhenlinie. Wir müssen noch einmal auf den Höhenzug hinauf und dann gleich wieder runter: 699,91 Höhenmeter hinauf. 900 hinunter, auf 7,6 Kilometern, 2:25 Stunden Zeit. Noch Fragen? Ich freue mich darauf. Der Aufstieg ist super: Meist über hohe Stufen geht es nach oben. An den wenigen Stellen ohne Holzschwellen ist es ein wenig glatt. Ich fühle mich topfit, tropfe vom Regen - oder vor Anstrengung? Ein Ultra vor mir bleibt kurz stehen. Als ich vorbei will, stellt er seinen Stock in meinen Weg. Wenn du das so willst, dann bleibe ich hinter dir, mein Freund. Ich schalte auf lautes Schnaufen um. So geht das minutenlang, ein Läufer ruft etwas auf Spanisch und wird vorbeigelassen. Nach einer guten halben Stunde habe ich meinen Vordermann weichgeschnauft. Er bleibt stehen und ich kann ein bisschen schneller hinauf steigen. Zu sehen gibt es eigentlich nichts bei dem Wetter. Ein Zuseher feuert uns an. Ein gutes Zeichen, wenig später erreichen wir ein Grüppchen von Helfern. Genau eine Stunde habe ich für die 700 Höhenmeter gebraucht. Auf breitem Weg geht es bergab. Bei trockenem Wetter wäre der noch gut laufbar. Nicht so steil wie der Anstieg. Jetzt erkenne ich nach zwei Schritten, warum die "Läufer" vor mir so schlottern. Es ist fürchterlich glatt. Die Bäume und Sträucher sind übersät mit Dornen. Ich rutsche weg. Greife reflexartig ins Gebüsch und habe nun zwanzig kleine Stiche in der Handfläche. Gut, dass man die wegen des Schlamms in der Hand nicht sieht. Trailläufer bekommen keine Sepsis.
Das nächste Mal rutsche ich zur Seite weg. Mit dem Gesicht ins Gebüsch - zum Glück ohne Dornen. Jetzt weiß ich Bescheid: Die Schuhe haben in Laufrichtung sehr guten Grip. Seitlich, und das ist bei diesem Weg oft möglich, rutscht man ganz leicht weg.
Vor uns graben zwei Helfer den Weg um. So haben wir genügend Halt für die nächsten Meter. Bomberos, also Feuerwehrmänner, schauen mir aus ihrem Range Rover zu, wie ich in einer Pfütze am Ende der Steilstelle meine Hände reinige, dann weiter bergab. Vor mir mehrere Läufer auf Knien. Mehrere Sportskameraden, die überholen, setzen sich auf den Hosenboden und rutschen den Weg hinunter. Einer reißt einen Stehenden mit. Köstlich. Mir macht es immer mehr Spaß. Ich rutsche mit. Ein Läufer sitzt frustriert am Wegesrand. Ich versuche ihn zum Weitermachen zu ermutigen. Man kann die Teerstraße mit Helfern schon am Ende der Rutschbahn sehen. Es folgt eine flachere Passage mit Untergrund, der an den Schuhen hängen bleibt. Ich werde immer größer.
Ein Helfer unterstützt uns beim Reinigen der Hände. Zwei Bomberos machen sich auf den Weg, um dem frustrierten Läufer zu helfen. Ein Weg mit Steinplatten folgt und führt zu einem Tempel mit Blick über die Küste. Bei den Hochhäusern ist schon das Ziel. Bei einem Fotografen, der dem Regen trotzt, überholt mich ein Ultra in blütenweißem Shirt und sauberer Hose. Auch die Schuhe sehen gepflegt aus. Hat der sich etwa unterwegs umgezogen? Ich frage den Fotografen, ob er das auch gesehen hat. Limpio - sauber, bestätigt er. Ich halluziniere nicht. Der nasse Steinplattenweg ist wunderbar zu laufen. Die Schuhe rutschen kein bisschen. Ich singe vor mich hin "Feliz Navidad", auch wenn das von der Jahreszeit her nicht so ganz passt. Nun bin ich nicht mehr allein: Ein bärtiger Ultra ist immer in der Nähe. "Cerveza" ruft er mir immer zu, weil ich ab und zu spaßeshalber nach einem Bier verlange. Sein Name stünde ja auf der Startnummer, aber ich vergesse immer darauf zu sehen.
Ein kurzes Stück auf einem Fußweg entlang der Landstraße, die auf den Bergrücken führt. Der meiste Verkehr geht über die neu gebaute Schnellstraße durch einen langen Tunnel Richtung sonniger Süden. Unvorstellbar, aber dort dürften die Touristen jetzt schwitzend bei einem Bierchen am Strand liegen.
Als mich eine blonde Trailerin überholt, fällt mir ein, dass ich ja an einer Laufveranstaltung teilnehme. Bevor die Straße wieder nach oben zu einem Aussichtsrestaurant führt, werden wir nach rechts auf einem alten Pfad nach unten geleitet. Es ist trocken, aber ich tue mich auf den groben Steinen schwer. Mein Begleiter setzt sich ab, ich hinterher
Wir kommen in die Ortschaft Tigaiga. Viele Bewohner feuern uns aus den Häusern an, Kinder wollen abgeklatscht werden. Ich höre ein "Cervezza" und dann laufen wir gemeinsam über die Zeitnahme. Ein Betreuer kommt auf mich zu, um meine Trinkflasche aufzufüllen, fragt, ob er auch Eiswürfel hinein werfen soll. Ich werde angesprochen, weil ich die Cutoff-Zeit überschritten hätte. Man lässt mir aber die Nummer samt Chip, damit ich ins Ziel laufen kann, um dort eine Zeitnahme zu bekommen. Wie dann weiter verfahren wird, wird man sehen.
Im Moment bin ich immer noch glücklich und greife fleißig zu. Leider gibt es hier keine Nudeln mehr. Ich mache mich auf die letzten 9,3 Kilometer, für die der Plan 2:05 h vorgibt, 298 hm hinauf, 577 hm hinunter. Wenn ich bis zum Zielschluss um 20:00 Uhr ankommen will, habe ich noch 90 Minuten. Da sehe ich kein Problem, der Weg an der Küste ist mir bestens bekannt, Judith und ich sind ihn schon ein paar Mal spaziert.
Aber erst mal noch ein bisschen hinunter. Ein Ultra-Läufer geht rückwärts, nach 92 km sicher keine Schande und er hat noch fast vier Stunden Zeit. Eine kleine Schikane an der Küstenstraße: Wir müssen über einen neuen Weg sehr steil nach oben zu einem Aussichtspunkt, dann auf der anderen Seite hinunter und unter der Schnellstraße hindurch. Eine große Bananenplantage liegt hier auf einem Plateau über der Steilküste, in einem verwunschenen Park mit Palmen und einem schönen Herrenhaus. Über ein Brückchen queren wir eine Schlucht, spanisch Barranco, dann geht es wieder steil nach oben. Am nächsten noch tieferen Barranco sehen wir die alten Gemäuer einer verfallenen Pumpstation.
Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Die Uhr geht schon fünf Kilometer vor. Ein schöner Spazierweg mit schlechtem Untergrund direkt über dem Meer. An einem Überhang kommt mir eine Spaziergängerin entgegen. Ich weiche aus und knalle fast mit dem Kopf an den Felsen. Nur die Mütze fällt runter. Gottseidank. Die Frau macht eine blöde Bemerkung und geht weiter. Auf dem nächsten Plateau erwartet uns Romantica II. Eine Feriensiedlung aus den 1970er Jahren, wo vor allem Deutsche ein kleines Refugium für den Urlaub oder den Ruhestand gefunden haben. Ein Autofahrer überholt und ruft mir aufmunternde Worte zu.
Wir biegen in die Ortschaft Toscal ab. Wieder viele Zuschauer. Dann hinunter zum blauen Maritim-Hotel, nicht wirklich landestypisch, eher ein auffälliges Relikt aus den Anfängen des Tourismus in Teneriffas Norden. Davor die letzte Getränkestelle. Die Helfer sind gerade beim Fotoshooting. Zeit für ein Päuschen habe ich nicht. Mein Begleiter bleibt auf ein Schwätzchen. Er weiß, dass ich es eilig habe.
Vor uns auf Klippen im Meer Punta Brava. Noch nicht touristisch erschlossen und besonders bei Seegang einen Besuch wert. Die Menschen haben das Meeresrauschen dann quasi in der Wohnung. Wie man bei so einem Höllenlärm schlafen kann, ist mir ein Rätsel.
Rechts von uns der Zoo Loro Parque, eines der Highlights von Teneriffa, 1972 von dem Deutschen Wolfgang Kießling gegründet. Ursprünglich ein reiner Papageienpark, beherbergt er heute eine Vielzahl zoologischer und botanischer Attraktionen, unter anderem eine große Antarktis-Abteilung sowie Shows mit Delphinen und Orcas.
Eine große Bucht mit schwarzen Sandstränden liegt links von uns. Einige Badende sind noch in den Wellen. Kühle 20 Grad hat der Atlantik und wird auch nicht viel wärmer. An einem Beachclub vorbei. Samstagabend ist da die Hölle los. Ein Sprecher feuert uns an.
Vor uns ein alter mittelalterlicher Turm. Es geht in die Stadt Puerto de la Cruz hinein. Schön gestaltete Straßen, gesäumt von alten Häusern. Einheimische wie Touristen jubeln mir zu. Leider ist es schon zu dunkel für gute Bilder. Am alten Fischerhafen vorbei. Hier gibt es die ältesten Gebäude aus dem 18. Jahrhundert.
Nun folgt die historische Hotelzone. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts kamen Engländer wegen der guten Luft nach Teneriffa. Heute Abend scheren sich viele Touristen nicht um die Absperrungen. Ein Polizist versucht etwas Ordnung in das Treiben zu bringen. Nach 3.246 Metern aufwärts und 4.629 Metern hinab bringen mich ein paar Hindernisse nicht mehr aus der Ruhe. Eine Trommelgruppe leitet das Finale ein. Links die von César Manrique in den 1970 gestaltete Schwimmbadlandschaft Lago Martiánez, rechts in den großen Hotels wird getanzt.
Der spektakulärste Zielbogen meine Läuferkarriere wartet auf mich. Komplett aus Monitoren gebaut lodert auf ihnen das Feuer des hoffentlich für immer erloschenen Vulkans.
Ich bekomme eine schöne Medaille. 13:51 Stunden habe ich gebraucht. Nach mir kommen noch ein Läufer und ein Läuferin des Trails vor 20:00 Uhr ins Ziel.
Duschen im Schwimmbad. Massagen. Gutschein für Paella und zwei Bierchen. Ich freue mich über das zufällige Treffen mit Waldo. Der Auswanderer betreibt eine Laufschule auf Teneriffa und hat mir mit seinem Blog viele Tipps für den Lauf gegeben. Und Judith und mich kennt er von den Berichten auf trailrunning.de. Dann genehmige ich mir noch ein Bier mit dem bärtigen Läufer, Quique, der ja immerhin 6,5 Stunden und doppelt so viele Höhenmeter mehr unterwegs war als ich. Und am Ende eine Minute vor mir durchs Ziel lief und mit seiner Zeit im Mittelfeld der Ultras liegt.
Judith? Die hatte mich auf meiner Uhr angerufen, dass sie den Cutoff bei km 50 nicht geschafft hat, weil sie auf dem letzten Kilometer vor Asomadero im glatten, schlammigen und steinigen Gelände ewig unterwegs war. Sie hatte angesichts der noch drohenden steilen Abstiege ohnehin vor auszusteigen und wurde mit der Holländerin und zwei anderen Läufern ins nahe Ziel gefahren. So eine Uhr zum Telefonieren ist lustig. Wenn dann noch der Akku mit GPS länger halten würde...
Fazit und Tipps:
- Der Hotelstandort ist abhängig von der gewählten Strecke und Dauer des Aufenthalts:
• Puerto de la Cruz bietet sich an, weil sich dort das Ziel befindet. Wie wir erfahren haben, kann es dort aber auch im Sommer Regnen.
• Ein Quartier in einem der Startorte ist günstig für Leute, die keine lange Anreise zum Start wollen
• Die Orte im Süden sind die sonnensichersten
• Alle wichtigen Orte der Insel werden vor und nach dem Rennen von Shuttlebussen angefahren (ca. 3 Euro/Fahrt)
- Die Marathonmesse fand dieses Jahr in Santa Cruz statt. Die Messehalle liegt nah beim Busbahnhof Intercambiador. Die Fahrzeit aus den südlichen Städten mit dem Bus liegt über einer Stunde (ca 10 Euro/Fahrt). Vor der Halle gibt es Parkplätze.
- Die Busse der Gesellschaft "Titsa" fahren häufig und sind mit der Prepaid-Karte ten+ besonders günstig
- Alternativ bietet sich ein Leihwagen an. Damit kann die Startnummernabholung eventuell schon nach der Ankunft am Südflughafen erfolgen, bevor es zum Hotel weiter geht.
- Die Internetseite enthält viele Informationen auf Spanisch, Englisch und etwas reduzierter auf Deutsch.
- Die vorgeschriebene Ausrüstung wird vor dem Startbereich kontrolliert. Man sollte darauf achten, dass die Laufnummer abgehakt wird.
- Besonders am Beginn liegen die VP Punkte über 15 km auseinander. Kontrollstellen haben meist einen Notvorrat an Trinkwasser. Die VPs sind perfekt ausgestattet. Teilweise mit Pasta. Bier gibt es erst im Ziel. Zeitmessung an fast allen VPs
- Für die Nachtstrecken muss man mit Temperaturen von 16 bis unter 10 Grad am Teide rechnen. Tagsüber wird es in der Sonne sehr warm. Sonnenbrille ist unerlässlich. Gegen leichte Höhenkrankheit helfen Schmerztabletten.
- Wer mit Stöcken laufen kann, sollte diese mitnehmen. Gute Trailschuhe mit groben Profil sind hilfreich, da am Asomadero-Höhenzug oft Regenwolken hängen. Auf Erste-Hilfe-Set und viel Verpflegung kann man wegen vieler Helfer verzichten.
- Die Organisation ist perfekt. Viele Spanier sprechen gut Englisch. Im Bedarfsfall werden Hubschrauber eingesetzt, beispielsweise um höhenkranke Läufer ins Ziel zu fliegen.
- Das Preis-/Leistungsverhältnis ist umwerfend. Die Ultra Strecke mit zwei Laufshirts kostet ca. 100 Euro
- Die Strecke ist gut mit Flatterbändern, häufig auch mit reflektierenden Bändern markiert. Leider fehlen Kilometerangaben. Trotzdem gibt es leider immer wieder Läufer, die vom Weg abkommen.
- Die Strecke besteht aus schmalen Trails, Wanderwegen, Forstwegen und Teeranteil. Sie ist nie ausgesetzt. Die Abstiege sind nie zu steil, gelegentlich Stufen. Einsatz von Händen ist nie notwendig.
- Der Ultra ist der zweithöchste Trail in Europa. Man muss einen Nachweis erbringen, dass man bereits einen Lauf über 70 km mit mehr als 3.000 Höhenmetern absolviert hat. Außerdem benötigt man ein Gesundheitszertifikat.
- Der Trail mit 67 km und Höhenmetern kann ohne Nachweise gelaufen werden. Die cutoffs waren für uns schwierig, beim zahlenmäßig vergleichbaren APUT lief Judith 11 h und ich 12 h. Beim Rennsteig Supermarathon waren wir 10 Stunden unterwegs. Wer einen Marathon in vier Stunden läuft und etwas Bergerfahrung hat, kann sich an den Lauf herantrauen.
- Der Marathon und der Halbmarathon (ausgebucht) erscheinen mir nicht so interessant, da die Vulkanhochebene ausgeklammert wird. Man hat da nur den Blick auf die Küste des Orotavatals. Zusätzlich kurze Strecken für Handbiker und Läufer unter 18 Jahren.
- Der Bluetrail ist ein fantastischer Trailrun. Die durchlaufenen Vegetationszonen und Gesteinsformationen sind umwerfend. Die Ausblicke sind unbeschreilich. Die Erfahrung mit der Höhenluft ist auch beim Trail schon beeindruckend. Eventuelle Beschwerden lassen nach, wenn man wieder nach unten Läuft.
Er ist ein Muss für jeden ambitionierten Trailläufer. Und bei einem Frauenanteil von unter 5% erst recht für Trailläuferinnen. Ich werde alles daran setzen, noch einmal mitzumachen. Einmal muss ich vom Meer bis auf den Teide laufen. Und wenn das nur beim Ultra geht, dann muss es halt der Ultra sein.
Ultra Sieger
1 YERAY DURAN LOPEZ 12:57:03
2 SANGE SHERPA 13:12:09
3 JUAN ANTONIO GONZALEZ RODRIGUEZ 14:14:16
Ultra Siegerinnen
1 AZARA GARCIA DE L SALMONES MARCANO 14:21:52
2 NADEZDA SURMONINA 16:03:46
3 BERNADETTE BENSON 17:55:00
Trail SIeger
1 DAVID LUTZARDO BARROSO 6:33:39
2 YERAY ALBERTO RODRIGUEZ GONZALEZ 7:06:55
3 MIGUEL ANGEL GONZALEZ MARTIN 7:08:02
Trail Siegerinnen
1 FRANCESCA SCRIBANI 8:11:22
2 HELENA RODRIGUEZ DOMINGUEZ 8:43:38
3 MARILO GONZALEZ ABOU-MEDLEJ 9:12:35
Insgesamt 2.400 Anmeldungen aus 38 Nationen
Ultra: Starter: 310 Finischer: 222
Trail: Starter: 348 Finisher: 308
Marathon: Starter: 592 Finisher: 555
Halbmarathon: Starter: 648 Finisher: 644